Die Mächtigkeit des Planeten und dessen Natur
Lange kämpfte Homo
sapiens ums Überleben. Er arrangierte sich entsprechend gegebener Umstände des
Planeten und dessen Natur, und lebte von den Früchten und Tieren, die ihm die
Natur bot. Wenn nötig, zog er an einen anderen Ort, wo Lebensbedingungen zum
Überleben ausreichten. Lange glaubten Menschen, dass Geister ihre Schicksale
bestimmten. Lange Zeit glaubten Menschen, dass Götter Menschen geschaffen haben
und Götter über ihre Schicksale entscheiden. Lange glaubten Menschen, dass von
Gott auserwählte Herrscher ihre Schicksale gestalten. Lange glaubten Menschen,
dass menschliche Fähigkeiten dafür sorgen, allen Menschen Wohlstand, Harmonie
und Glück auf Erden zu bringen. Sie erlebten Planet und Natur als ein Wunder:
- Sie erfreuen sich an der Vielfalt und Schönheit des Planeten und dessen Natur – Landschaften, das Meer, Pflanzen, Tiere und Menschen.
- Sie erfreuen sich natürlicher Produkte – Getreide, Milch, Butter, Fleisch und Gewürze.
- Sie gestalten ihr Leben vermittels angenehmer Beziehungen und Spiele.
- Sie träumen vom Glück.
Menschen erleben heute
aber auch, wie die Vielfalt und Schönheit des Planeten und dessen Natur
verloren gehen kann, dass dauerhafter Wohlstand und dauerhaftes Glück für alle
Menschen eine Illusion ist, Menschen erschrecken, wenn der Planet und dessen
Natur anders als erwartet, angenehme Lebensbedingungen 'verweigert'. Menschen
ahnen, dass ihr Leben von der Mächtigkeit des Planeten und dessen Natur mehr
geprägt wird, als sie bisher annahmen. Menschen begreifen langsam, dass sie natürliche, nachhaltige Prozesse nicht
gebührend beachtet haben, Menschen ahnen, dass sie sich um nachhaltige Denk-
und Verhaltensweisen bemühen müssen.
Ein Sachse, der in Dresden
geboren wurde und seit längerer Zeit an der schönen Côte d'Azur lebt, hatte
sich vorgenommen, eine vorangegangene Gedankenkette über Wertvorstellungen und gesellschaftliche
Kultur vermittels Gedanken über nachhaltige Denk- und Verhaltensweisen 'weiterzuspinnen'.
Dabei konnte der Dresdner feststellen, dass vor ihm bereits der längst
verstorbene Sachse Hans Carl von Carlowitz (1645 – 1714) das Thema
Nachhaltigkeit ziemlich umfassend dargestellt hat.
Ulrich Grober (* 1949)
hat auf Carlowitz' aufmerksam gemacht, und darüber hinaus gezeigt, wie lebendig
das Thema Nachhaltigkeit schon immer war und heute mehr denn je ist.
Die Entdeckung der
Nachhaltigkeit: Kulturgeschichte eines Begriffs
Ulrich
Grober
Nachhaltig ist heutzutage
alles, von der Diät bis zum Ausbau der Kapitalkraft. Nachhaltigkeit ist aber
unser ursprünglichstes Weltkulturerbe, ein Begriff, der tief in unserer Kultur
verwurzelt ist und den es vor seinem inflationären Gebrauch zu retten gilt. Das
von Joachim Heinrich Campe 1807 herausgegebene Wörterbuch der deutschen Sprache
definiert das Wort »Nachhalt« als das, »woran man sich hält, wenn alles andere
nicht mehr hält«. An was kann man sich halten, was bedeutet Nachhaltigkeit? In
diesem anschaulich erzählten Buch wird der Begriff »Nachhaltigkeit« neu
vermessen. Vor fast 250 Jahren avancierte er zum Leitbegriff des deutschen
Forstwesens und bezeichnet seitdem die Verpflichtung, Reserven für künftige
Generationen nachzuhalten. Das von Hans Carl von Carlowitz 1713 erstmals
beschriebene Dreieck der Nachhaltigkeit ökologisches Gleichgewicht, ökonomische
Sicherheit und soziale Gerechtigkeit ist heute als »sustainable development« in
aller Munde. Die Idee dieses Begriffs aber reicht noch weiter zurück. Sie
findet sich im »Sonnengesang« des Franziskus von Assisi genauso wie bei den
griechischen Philosophen und den Philosophen der Aufklärung. Ulrich Grobers
spannende (Zeit)Reise führt uns an den Hof des Sonnenkönigs und in die
deutschen Fürstenstaaten, erzählt vom sächsischen Silberbergbau und vom
Holzmangel. Und davon, dass die Nachhaltigkeitsidee überall, wo sie auftaucht,
ein Kind der Krise ist, aber auch die Entstehung eines neuen Bewusstseins
markiert. Des Bewusstseins, dass der Planet, auf dem wir leben, erhalten und
bewahrt werden muss.
Von Freiberg nach Rio
– Carlowitz und die Bildung des
Begriffs ›Nachhaltigkeit‹
Wer sich heute für Nachhaltigkeit engagiert, ist nicht nur Teil einer großen und wachsenden globalen Suchbewegung. Er ist auch Teil einer reichen Geschichte. Und diese Geschichte beginnt nicht erst in unserer Gegenwart, nicht erst in den ›think tanks‹, den Denkfabriken der UNO oder des Club of Rome. Dieses Denken ist uralt. Es hat tiefe Wurzeln in den Kulturen der Welt. Es ist ein geistiges Weltkulturerbe. Aber die Geschichte des Begriffs beginnt mit einem Buch, das in Freiberg geschrieben wurde -hinter den wuchtigen Mauern des spätgotischen Gebäudes unweit des Domes, in dem seit 350 Jahren fast ununterbrochen das sächsische Oberbergamt seinen Sitz hat. Erschienen ist das Buch 1713, vor 300 Jahren, in Leipzig. Der Titel klingt sperrig: Sylvicultura oeconomica – Anweisung zur wilden Baumzucht. Der Autor, Hans Carl von Carlowitz, amtierte 1713 als sächsischer Oberberghauptmann in Freiberg. Sein Buch hat es in sich. Es schenkte uns eine semantische Innovation, die bis heute nachwirkt, ja erst heute ihr volles Potenzial entfaltet. Wenn es in barocker Sprache, in immer neuen Anläufen, in weitschweifigen, kreisenden und tastenden Denkbewegungen die »nachhaltende Nutzung« der Ressource Holz im Dienste des »gemeinen Wesens« (= des Gemeinwesens) und der »lieben Posterität« (Nachkommenschaft) einfordert, erlebt der Leser die Verknüpfung eines spezifischen Wortes mit einer klar umrissenen Idee. Mit diesem Buch begann die Ausprägung dieses Wortes zu einem Begriff, die Begriffsbildung von Nachhaltigkeit. Das Buch liefert uns die Blaupause für unser Leitbild.
Gewiss hat der moderne Begriff einen wesentlich größeren Umfang. Er zielt auf das große Ganze. ›Sustainability‹ gilt als universelles Prinzip für den Umgang mit allen Ressourcen, ja sogar für eine Transformation unserer gesamten Lebensweise, also der Muster, wie wir produzieren, konsumieren und zusammenleben. Folgende, nicht weiter gekennzeichnete Seitenangaben beziehen sich alle auf dieses Buch. Für Carlowitz stand noch die »nachhaltende« Nutzung der Ressource Holz im Vordergrund. Doch in den Tiefenstrukturen des Begriffs werden Zusammenhang und Kontinuität zwischen der Sylvicultura oeconomica und unserem modernen Konzept sichtbar. Spiegelt man unseren modernen Diskurs in der alten Quelle, so macht man erstaunliche Entdeckungen: Wo die Brundtland-Kommission der UN 1987 Nachhaltigkeit als eine Entwicklung definierte, »welche die Bedürfnisse der gegenwärtigen Generation befriedigt, ohne die Fähigkeit zukünftiger Generationen zu gefährden, ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen «,ging es Carlowitz vor 300 Jahren um »eine immerwährende Holtz=Nutzung« (Untertitel) »zum Besten des gemeinen Wesens und denen Nachkommen zum Besten« (Widmung).Wo der Brundtland-Report von den »future generations« schreibt, spricht Carlowitz von der »lieben Posterität«. Wo Gro Harlem Brundtland »conservation and enhancement« (Bewahrung und Erweiterung) der Ressourcenbasis für erforderlich hält, ist für Carlowitz »Conservation und Anbau des Holtzes ... unentbehrlich«. Wo der Club of Rome-Bericht von 1972 über die Grenzen des Wachstums nach einem Modell für die Zukunft sucht, das »sustainable« ist, und das heißt: gegen einen »plötzlichen und unkontrollierbaren Kollaps« gefeit, spricht Carlowitz davon, dass ohne die »nachhaltende« Nutzung der Ressource Holz »das Land in seinem Esse«, in seiner Existenz »nicht bleiben mag« (S. 105), also kollabiert. Wo heutige Ökonomen wie der Amerikaner Herman Daly eine ›steady-state economy‹ entwerfen, also eine stetige Wirtschaft, die im »Fließgleichgewicht« oder »Beharrungszustand« bleibt, sprach Carlowitz von einer »beständigen, kontinuierlichen und nachhaltenden Nutzung«. Die Analogien sind frappierend: Heute wie damals geht es darum, die Selbstsorge der gegenwärtigen Generation unlösbar mit der Vorsorge für die kommenden Generationen zu verbinden. Generationengerechtigkeit ist über die drei Jahrhunderte hinweg der ethische Kern dieses Begriffs. Vielleicht haben Gro Harlem Brundtland und die vielen Wegbereiter des modernen Nachhaltigkeitsdiskurses Carlowitz weder gelesen noch seinen Namen gekannt. Entscheidend ist vielmehr Folgendes: Seit Carlowitz ist die Vokabel, der Wortkörper des allgemeinsprachlichen Verbes »nachhalten« mit Bedeutungen aufgeladen, die es zu einem Begriff machten. Diese Aufladungen blieben erhalten, als der deutsche forstliche Fachterminus »Nachhaltigkeit« im 19. Jahrhundert mit »sustained yield forestry« ins Englische übersetzt wurde. Sie sind bis heute wirksam. Darin liegt die historische Bedeutung der Sylvicultura oeconomica. Carlowitz hat als erster eine Form des Wortes »nachhalten« mit dem Gedanken der Daseinsfürsorge und der Daseinsvorsorge verknüpft und so ein Denken der Verantwortung für die nachkommenden Generationen begreiflich gemacht, auf den Begriff gebracht. Wie konnte ein Begriff aus dem vormodernen, kameralistischen Denken kleiner geschlossener mitteleuropäischer Territorien urplötzlich und explosionsartig in der globalisierten Welt des 20. Jahrhunderts eine derartig fulminante Wirkung entfalten? Eine erste Antwort: Auf den Fotos aus dem Weltall, die um 1970 von den bemannten Mondflügen zur Erde gesendet wurden, sah sich die Menschheit zum ersten Mal in ihrer Geschichte ganz und gar von außen. Ein epochales Ereignis: Schlagartig wurde man sich im ›global village‹ bewusst, dass der blaue Planet insgesamt ein geschlossenes, begrenztes System darstellt: ›spaceship earth‹. Die Grenzen des Wachstums kamen in Sicht und damit der Zwang zur Selbstbeschränkung.
Gewiss hat der moderne Begriff einen wesentlich größeren Umfang. Er zielt auf das große Ganze. ›Sustainability‹ gilt als universelles Prinzip für den Umgang mit allen Ressourcen, ja sogar für eine Transformation unserer gesamten Lebensweise, also der Muster, wie wir produzieren, konsumieren und zusammenleben. Folgende, nicht weiter gekennzeichnete Seitenangaben beziehen sich alle auf dieses Buch. Für Carlowitz stand noch die »nachhaltende« Nutzung der Ressource Holz im Vordergrund. Doch in den Tiefenstrukturen des Begriffs werden Zusammenhang und Kontinuität zwischen der Sylvicultura oeconomica und unserem modernen Konzept sichtbar. Spiegelt man unseren modernen Diskurs in der alten Quelle, so macht man erstaunliche Entdeckungen: Wo die Brundtland-Kommission der UN 1987 Nachhaltigkeit als eine Entwicklung definierte, »welche die Bedürfnisse der gegenwärtigen Generation befriedigt, ohne die Fähigkeit zukünftiger Generationen zu gefährden, ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen «,ging es Carlowitz vor 300 Jahren um »eine immerwährende Holtz=Nutzung« (Untertitel) »zum Besten des gemeinen Wesens und denen Nachkommen zum Besten« (Widmung).Wo der Brundtland-Report von den »future generations« schreibt, spricht Carlowitz von der »lieben Posterität«. Wo Gro Harlem Brundtland »conservation and enhancement« (Bewahrung und Erweiterung) der Ressourcenbasis für erforderlich hält, ist für Carlowitz »Conservation und Anbau des Holtzes ... unentbehrlich«. Wo der Club of Rome-Bericht von 1972 über die Grenzen des Wachstums nach einem Modell für die Zukunft sucht, das »sustainable« ist, und das heißt: gegen einen »plötzlichen und unkontrollierbaren Kollaps« gefeit, spricht Carlowitz davon, dass ohne die »nachhaltende« Nutzung der Ressource Holz »das Land in seinem Esse«, in seiner Existenz »nicht bleiben mag« (S. 105), also kollabiert. Wo heutige Ökonomen wie der Amerikaner Herman Daly eine ›steady-state economy‹ entwerfen, also eine stetige Wirtschaft, die im »Fließgleichgewicht« oder »Beharrungszustand« bleibt, sprach Carlowitz von einer »beständigen, kontinuierlichen und nachhaltenden Nutzung«. Die Analogien sind frappierend: Heute wie damals geht es darum, die Selbstsorge der gegenwärtigen Generation unlösbar mit der Vorsorge für die kommenden Generationen zu verbinden. Generationengerechtigkeit ist über die drei Jahrhunderte hinweg der ethische Kern dieses Begriffs. Vielleicht haben Gro Harlem Brundtland und die vielen Wegbereiter des modernen Nachhaltigkeitsdiskurses Carlowitz weder gelesen noch seinen Namen gekannt. Entscheidend ist vielmehr Folgendes: Seit Carlowitz ist die Vokabel, der Wortkörper des allgemeinsprachlichen Verbes »nachhalten« mit Bedeutungen aufgeladen, die es zu einem Begriff machten. Diese Aufladungen blieben erhalten, als der deutsche forstliche Fachterminus »Nachhaltigkeit« im 19. Jahrhundert mit »sustained yield forestry« ins Englische übersetzt wurde. Sie sind bis heute wirksam. Darin liegt die historische Bedeutung der Sylvicultura oeconomica. Carlowitz hat als erster eine Form des Wortes »nachhalten« mit dem Gedanken der Daseinsfürsorge und der Daseinsvorsorge verknüpft und so ein Denken der Verantwortung für die nachkommenden Generationen begreiflich gemacht, auf den Begriff gebracht. Wie konnte ein Begriff aus dem vormodernen, kameralistischen Denken kleiner geschlossener mitteleuropäischer Territorien urplötzlich und explosionsartig in der globalisierten Welt des 20. Jahrhunderts eine derartig fulminante Wirkung entfalten? Eine erste Antwort: Auf den Fotos aus dem Weltall, die um 1970 von den bemannten Mondflügen zur Erde gesendet wurden, sah sich die Menschheit zum ersten Mal in ihrer Geschichte ganz und gar von außen. Ein epochales Ereignis: Schlagartig wurde man sich im ›global village‹ bewusst, dass der blaue Planet insgesamt ein geschlossenes, begrenztes System darstellt: ›spaceship earth‹. Die Grenzen des Wachstums kamen in Sicht und damit der Zwang zur Selbstbeschränkung.
Die Begriffe
richtigstellen
Warum im Jahr 2013
Carlowitz und sein 300 Jahre altes Buch neu zur Kenntnis nehmen, ja sogar
lesen? Auf die Frage, was er als erstes tun würde, wenn ihm der Kaiser die
Regierung des Staates anvertraute, antwortete im 6. Jahrhundert vor unserer
Zeitrechnung der chinesische Weise Konfuzius: »Unbedingt die Bezeichnungen
richtigstellen«. ›Zheng Ming‹ – die Richtigstellung der Worte –
wörtlich übersetzt »auf korrekte Begriffe halten« – steht noch heute im Zentrum
chinesischer Philosophie. Eine solche Arbeit am Begriff, eine neue Sorgfalt des
Umgangs damit scheint heute im Fall von Nachhaltigkeit besonders dringlich.
Alle reden von Nachhaltigkeit und das ist gut so. Aber dabei ist das Konzept in
das Feuerwerk der Reklamesprache und der politischen Propaganda geraten. Wo
alles nachhaltig ist, ist nichts mehr nachhaltig. Diese Beliebigkeit macht uns
begriffslos. Ist das Wort schon verbraucht? Jetzt, da wir es so dringend
brauchen? Nämlich als »key to human survival«, als Schlüssel zum Überleben der
Menschheit. Können wir darauf verzichten? Haben wir einen gleichwertigen
Ersatz? Ein anderes Wort mit demselben Bedeutungsumfang, mit der derselben
Gravität und Flexibilität? Die Alternative zum sehr riskanten Verzicht auf den
Begriff: Der schleichenden Entkernung des Begriffs die Suche nach seinem Kern
entgegenzusetzen. Diese Suche führt uns in die Geschichte des Begriffs – und zu
Carlowitz. In den Anfängen einer Begriffsbildung wird immer Elementares
verhandelt. Hier wird die Substanz entwickelt, die später ihr Potenzial
entfaltet, aber im Prozess der Operationalisierung und Anwendung zu
verschwimmen droht. In diesem Sinn kann die Sylvicultura oeconomica uns heute
dienen: Als Quelle, in der wir unseren Gebrauch des Wortes spiegeln und
überprüfen können – und seine Würde neu erfahren. Die Entdeckung der
Nachhaltigkeit geht weiter.
Die Macht bei menschlichen Beziehungen
Nachhaltiges menschliches
Verhalten betrifft also nicht nur die
Art und Weise, wie Menschen mit der Natur umgehen. Es betrifft zwar
vordergründig menschliche Beziehungen zu Tieren und Personen, aber auch
Beziehungen zu Produkten (und Dienstleistungen), zu Arbeitsverhältnissen, zu
Plänen, zu Ereignissen, zu Themenbehandlung und zur Zeit. Beziehungen werden
auf unterschiedliche Weise erlebt:
- objektiv (kognitiv)
- subjektiv (emotional, gefühlt)
- achtsam (bewusst)
- gewohnheitsmäßig (unbewusst)
Kürzlich wurde ich gefragt, ob der allgemeine menschliche
Anspruch berechtigt ist, „ein gutes Leben für alle, in der Gegenwart und in der Zukunft, zu haben.“ Der Fragesteller sagte nicht, ob es ihm um ein objektives oder subjektives Anliegen geht. Es ist offensichtlich, dass wir uns alle an Tätigkeiten und Personen erfreuen, die uns verlockend 'erscheinen'. Falls der Erwerb einer Fähigkeit wenig Mühe macht, wird sie relativ schnell zur Gewohnheit. Dagegen erfordert der Erwerb anspruchsvoller (auch professionell nützlicher) Fähigkeiten viel Mühe, bis sie 'verinnerlicht' werden. Eine mühsam erworbene Handlungsmöglichkeit zu verlieren – aufgrund des Verlustes des Arbeitsplatzes, des Verlustes einer Liebesbeziehung, des fortgeschrittenen Alters oder einer Krankheit – kann bewirken, dass Denk- und Verhaltensweisen entsprechend einer neuen Situation mühsam revidiert werden müssen.
Meines Erachtens gibt es keine Hinweise, dass ein
Anspruch auf ein sowohl objektiv als auch subjektiv erlebtes gutes Leben vermittels der menschlichen biologischen Evolution im menschlichen Gehirn von Geburt an 'verankert' ist. Neurobiologische Erkenntnisse weisen vielmehr darauf hin, dass
- in allen Lebewesen existiert der Instinkt zum Überleben ,
- menschliche Wesen in der Lage sind Fähigkeiten zu erwerben, um mit möglichst vielen Situationen im Leben zurechtzukommen,
- etwa 80 bis 90 Prozent menschlicher Gehirntätigkeit unbewusst ablaufende Vorgänge betrifft – emotionalem, intuitivem und an-gewohntem Denken und Handeln.
Der Neurobiologe Gerald
Hüther (*1951) vertritt eine Theorie des Bewusstseins, die besagt: „Es gibt
immer übergeordnete [neuronale] Muster, die darunterliegende Prozesse lenken und
steuern. Zum Beispiel haben wir ein Bewegungsmuster, das uns hilft, ein Glas an
den Mund zu führen. Das ist eine Bewegungsgestalt, die im Hirn abgespeichert
ist. Wollen wir nun also etwas trinken, wissen wir durch das Muster, wie es
geht und brauchen uns das Trinken nur vorzustellen. Das Gehirn reguliert dann
von allein die ganzen einzelnen Bewegungen und Muskelkontraktionen, um das Glas
anzuheben und zu trinken. Dieses Beispiel können wir auch auf der Ebene der
Steuerung unseres Verhaltens anwenden. Dort nennt man übergeordnete Muster
innere Einstellung, Haltung oder Mindset. Von dieser Haltung hängt es ab, wie
wir uns verhalten. Wenn Menschen die Frage beantworten, was für ein Mensch sie
sein wollen, dann ist die Antwort immer
gleich. Denn die Frage ist so grundlegend, dass es darauf nur eine Antwort
gibt: Ich möchte jemand sein, der andere Menschen glücklich macht. Oder ich
möchte jemand sein, der diese Natur erhält und der dazu beiträgt, dass hier
alles wachsen kann. Es gibt keine Antwort wie „ich möchte jemand sein, der
besonders viel Geld hat....... Stellen wir uns mal vor, wir fragen jemanden und
der antwortet: „Ich bin auf der Welt, damit ich ein gutes Leben habe, damit es
mir gut geht.“ Dann würde ich fragen, was ist denn das, was dich glücklich macht?
„Wenn ich viel Geld habe.“ Und was machst du mit dem vielen Geld? „Damit kaufe
ich mir eine Segeljacht.“ Und was hast du damit vor? „Dann fahr ich umher.“ Wie
viele Jahre möchtest du gern umherfahren? Dann fängt er an nachzudenken, denn
er möchte nicht sein ganzes Leben auf der Segeljacht fahren – was ich damit
zeigen will: In diesen Befragungen müssen Sie immer weiterfragen. Am Ende wird
die Person erkennen, dass sie nur glücklich sein kann, indem sie auf eine Art
und Weise lebt, dass andere Lebewesen auch leben können. Es geht gar nicht
anders.
Als Gerald Hüther gefragt
wurde, wie kann man Menschen dazu bringen, ihr Denken und Verhalten zu ändern,
war seine Antwort: : „Bisher haben wir immer gedacht, dass wir Menschen von
außen dazu bringen können, ihr Verhalten zu ändern. Doch noch nie sind die
Leute mit solchen großen Autos umhergefahren, noch nie waren die
landwirtschaftlichen Nutzflächen so ausgebeutet und noch nie ist so viel
Plastikmüll in den Meeren geschwommen. Also heißt das doch, dass unsere
bisherigen Strategien nicht funktioniert haben. Wenn es also nicht von außen
geht, muss es von innen gehen. Wir müssen uns fragen: Was im Menschen kann man
wachrufen und stärken, damit er aufwacht und sich anders verhält? Wir müssten ein bestimmtes Bild von uns
selbst haben und feststellen, dass dieses Bild nicht mit dem übereinstimmt, wie
wir tagtäglich handeln. Durch dieses Missverhältnis ginge es uns nicht gut. Und
dann würden wir versuchen, unser Verhalten an das Bild von uns selbst
anzupassen. Vorausgesetzt ist, dass wir ein starkes Bild von uns haben, denn
sonst kann man dieses Bild in die Ecke legen und sagen „das interessiert mich
nicht“. Das stärkste Bild, das ich für solche Fälle gefunden habe, ist die
Vorstellung von der eigenen Würde.“
Hüther irrt, wenn er
glaubt, dass Menschen am Ende erkennen, dass sie nur glücklich sein können,
indem sie auf eine Art und Weise leben, dass andere Lebewesen auch leben
können. Hüther übersieht die Rolle der Macht.
Robert V. Levine (1945 -
2019), ein US Sozialpsychologe, widmete viele Studien dem Thema wie Menschen
unterschiedlicher Kulturen Zeit wahrnehmen. Im Verlauf der menschlichen
Kulturgeschichte wurde es notwendig, die Uhrzeiten zwischen staatlichen Grenzen
weltweit zu normieren. Damit war die Voraussetzung geschaffen, Uhrzeiten
weltweit zwischen Staaten zu synchronisieren. Damit wurde aber auch weltweit
die Möglichkeit geschaffen, dass Zeit das Maß menschlicher Denk- und
Verhaltensweisen wurde: “Zeit ist Geld“. Produkte und Dienstleistungen hatten
nicht nur einen Handelswert, ihr Wert bemaß sich am Wert von persönlicher Arbeitskraft. Ereignisse und
Themenbehandlungen hatten keinen ethischen und moralischen Wert, ihr Wert bemaß
sich am kommerziellen Erfolg. Selbst menschliche Beziehungen wurden daran gemessen,
inwieweit sie zu kommerziellem Erfolg beitragen.
Die Vorstellung “Zeit ist
Geld“ betrifft jedoch nur ein objektiv messbares Zeitgefühl. Es wurde und wird
auch heute als plausible Vorstellung von der Mehrheit der Bevölkerungen
verinnerlicht. Das Maß “Zeit ist Geld“ hilft hierarchisch operierender
Organisationen effektiv zu funktionieren. Geld manifestiert sich als Macht.
Häufig wird übersehen oder gar ignoriert, dass auch ein subjektives Zeitgefühl
existiert, das sich derzeit mehr oder weniger lautstark bemerkbar macht.
Wenn man bedenkt, wie
lange Erkenntnisse hinsichtlich nachhaltigem Denken und Verhalten schon
existieren, ohne dass sich Menschen in diesem Sinn wesentlich verändert haben,
kommt man zu dem Schluss, dass Aufklärung weniger bewirkt als oft angenommen.
Es ist letztlich notwendig, dass jeder sein Denken und Verhalten selbst einschätzt, inwieweit es nachhaltigen Zielen
dienlich ist. und der Würde aller Menschen gerecht wird.
Die derzeitigen
gesellschaftlich schwierigen Situationen deuten darauf hin, dass Homo sapiens früher oder später gezwungen
sein wird zu lernen, gesellschaftliche Prozesse nachhaltig zu gestalten.
Gewohnte gesellschaftliche Vorstellungen und Prozesse zu revidieren (zu
reformieren?) ist jedoch ein schwieriges Unterfangen und braucht viel Zeit,
weil Lernen auf dem Prinzip 'Versuch und Irrtum' beruht. Öffentliche
polarisierende Meinungen, die heute stärker denn je von Medien beeinflusst
werden, erschweren das Unterfangen zusätzlich.
Die Entdeckung der Nachhaltigkeit geht weiter.
Referenzen:
Ulrich Grober - Die
Entdeckung der Nachhaltigkeit – Kulturgeschichte eines Begriffs.
Antje Kunstmann Verlag,
München, 2013.
Ulrich Grober -
Sustainability – A cultural history.
Green Books, Totnes UK,
2012
Quelle:
Ulrich Grobers “Die
Entdeckung der Nachhaltigkeit“ (2010) gilt als Standardwerk. Im Jahr 2012 wurde
es ins Englische übersetzt. Die Royal Society lud ihn 2013 ein, seine
Erkenntnisse zur Nachhaltigkeit darzustellen. 2014 diente ein Text von Grober der UNO in ihrem "Global
Sustainable Development Report" als Referenz für die Geschichte des
Konzepts Nachhaltigkeit.
Das Umweltministerium in
Brandenburg: Grober leiste mit seinem Buch einen wichtigen Beitrag dazu, dass
Nachhaltigkeit nicht zum Modewort verkommt, sondern die Idee vom nachhaltigen
Denken, Leben und Handeln die Köpfe und Herzen der Menschen im Alltag erreicht.
Dabei zeichnet er in unterhaltsamer und gut lesbarer Form die historische
Entwicklung des Wortes nach. Der Leser erfährt auf einer Gedankenreise vom Buch
Genesis über mittelalterliche Klöster, barocke Verwaltungssprache, Woodstock
und John Lennon – um nur einige Stationen zu nennen – Erstaunliches über und um
den Begriff der Nachhaltigkeit. (Wikipedia)
Boje Maaßen - Ein
Interview mit Ulrich Grober: “Das Gegenteil von Kollaps“
Gerald Hüther: „Das Leben
besteht nicht darin, sich irgendwelche Konsumbedürfnisse zu erfüllen“
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