Mittwoch, 17. Juni 2020

Peter Hiemann über Nachhaltigkeit

Die Mächtigkeit des Planeten und dessen Natur

Lange kämpfte Homo sapiens ums Überleben. Er arrangierte sich entsprechend gegebener Umstände des Planeten und dessen Natur, und lebte von den Früchten und Tieren, die ihm die Natur bot. Wenn nötig, zog er an einen anderen Ort, wo Lebensbedingungen zum Überleben ausreichten. Lange glaubten Menschen, dass Geister ihre Schicksale bestimmten. Lange Zeit glaubten Menschen, dass Götter Menschen geschaffen haben und Götter über ihre Schicksale entscheiden. Lange glaubten Menschen, dass von Gott auserwählte Herrscher ihre Schicksale gestalten. Lange glaubten Menschen, dass menschliche Fähigkeiten dafür sorgen, allen Menschen Wohlstand, Harmonie und Glück auf Erden zu bringen. Sie erlebten Planet und Natur als ein Wunder:
  • Sie erfreuen sich an der Vielfalt und Schönheit des Planeten und dessen Natur – Landschaften, das Meer, Pflanzen, Tiere und Menschen.
  • Sie erfreuen sich natürlicher Produkte – Getreide, Milch, Butter, Fleisch und Gewürze.
  • Sie gestalten ihr Leben vermittels angenehmer Beziehungen und Spiele.
  • Sie träumen vom Glück.
Menschen erleben heute aber auch, wie die Vielfalt und Schönheit des Planeten und dessen Natur verloren gehen kann, dass dauerhafter Wohlstand und dauerhaftes Glück für alle Menschen eine Illusion ist, Menschen erschrecken, wenn der Planet und dessen Natur anders als erwartet, angenehme Lebensbedingungen 'verweigert'. Menschen ahnen, dass ihr Leben von der Mächtigkeit des Planeten und dessen Natur mehr geprägt wird, als sie bisher annahmen. Menschen begreifen langsam, dass sie natürliche, nachhaltige Prozesse nicht gebührend beachtet haben, Menschen ahnen, dass sie sich um nachhaltige Denk- und Verhaltensweisen bemühen müssen.

Ein Sachse, der in Dresden geboren wurde und seit längerer Zeit an der schönen Côte d'Azur lebt, hatte sich vorgenommen, eine vorangegangene Gedankenkette über Wertvorstellungen und gesellschaftliche Kultur vermittels Gedanken über nachhaltige Denk- und Verhaltensweisen 'weiterzuspinnen'. Dabei konnte der Dresdner feststellen, dass vor ihm bereits der längst verstorbene Sachse Hans Carl von Carlowitz (1645 – 1714) das Thema Nachhaltigkeit ziemlich umfassend dargestellt hat. 

Ulrich Grober (* 1949) hat auf Carlowitz' aufmerksam gemacht, und darüber hinaus gezeigt, wie lebendig das Thema Nachhaltigkeit schon immer war und heute mehr denn je ist.

Die Entdeckung der Nachhaltigkeit: Kulturgeschichte eines Begriffs

Ulrich Grober

Nachhaltig ist heutzutage alles, von der Diät bis zum Ausbau der Kapitalkraft. Nachhaltigkeit ist aber unser ursprünglichstes Weltkulturerbe, ein Begriff, der tief in unserer Kultur verwurzelt ist und den es vor seinem inflationären Gebrauch zu retten gilt. Das von Joachim Heinrich Campe 1807 herausgegebene Wörterbuch der deutschen Sprache definiert das Wort »Nachhalt« als das, »woran man sich hält, wenn alles andere nicht mehr hält«. An was kann man sich halten, was bedeutet Nachhaltigkeit? In diesem anschaulich erzählten Buch wird der Begriff »Nachhaltigkeit« neu vermessen. Vor fast 250 Jahren avancierte er zum Leitbegriff des deutschen Forstwesens und bezeichnet seitdem die Verpflichtung, Reserven für künftige Generationen nachzuhalten. Das von Hans Carl von Carlowitz 1713 erstmals beschriebene Dreieck der Nachhaltigkeit ökologisches Gleichgewicht, ökonomische Sicherheit und soziale Gerechtigkeit ist heute als »sustainable development« in aller Munde. Die Idee dieses Begriffs aber reicht noch weiter zurück. Sie findet sich im »Sonnengesang« des Franziskus von Assisi genauso wie bei den griechischen Philosophen und den Philosophen der Aufklärung. Ulrich Grobers spannende (Zeit)Reise führt uns an den Hof des Sonnenkönigs und in die deutschen Fürstenstaaten, erzählt vom sächsischen Silberbergbau und vom Holzmangel. Und davon, dass die Nachhaltigkeitsidee überall, wo sie auftaucht, ein Kind der Krise ist, aber auch die Entstehung eines neuen Bewusstseins markiert. Des Bewusstseins, dass der Planet, auf dem wir leben, erhalten und bewahrt werden muss.

Von Freiberg nach Rio –  Carlowitz und die Bildung des Begriffs ›Nachhaltigkeit‹

Wer sich heute für Nachhaltigkeit engagiert, ist nicht nur Teil einer großen und wachsenden globalen Suchbewegung. Er ist auch Teil einer reichen Geschichte. Und diese Geschichte beginnt nicht erst in unserer Gegenwart, nicht erst in den ›think tanks‹, den Denkfabriken der UNO oder des Club of Rome. Dieses Denken ist uralt. Es hat tiefe Wurzeln in den Kulturen der Welt. Es ist ein geistiges Weltkulturerbe. Aber die Geschichte des Begriffs beginnt mit einem Buch, das in Freiberg geschrieben wurde -hinter den wuchtigen Mauern des spätgotischen Gebäudes unweit des Domes, in dem seit 350 Jahren fast ununterbrochen das sächsische Oberbergamt seinen Sitz hat. Erschienen ist das Buch 1713, vor 300 Jahren, in Leipzig. Der Titel klingt sperrig: Sylvicultura oeconomica – Anweisung zur wilden Baumzucht. Der Autor, Hans Carl von Carlowitz, amtierte 1713 als sächsischer Oberberghauptmann in Freiberg. Sein Buch hat es in sich. Es schenkte uns eine semantische Innovation, die bis heute nachwirkt, ja erst heute ihr volles Potenzial entfaltet. Wenn es in barocker Sprache, in immer neuen Anläufen, in weitschweifigen, kreisenden und tastenden Denkbewegungen die »nachhaltende Nutzung« der Ressource Holz im Dienste des »gemeinen Wesens« (= des Gemeinwesens) und der »lieben Posterität« (Nachkommenschaft) einfordert, erlebt der Leser die Verknüpfung eines spezifischen Wortes mit einer klar umrissenen Idee. Mit diesem Buch begann die Ausprägung dieses Wortes zu einem Begriff, die Begriffsbildung von Nachhaltigkeit. Das Buch liefert uns die Blaupause für unser Leitbild. 

Gewiss hat der moderne Begriff einen wesentlich größeren Umfang. Er zielt auf das große Ganze. ›Sustainability‹ gilt als universelles Prinzip für den Umgang mit allen Ressourcen, ja sogar für eine Transformation unserer gesamten Lebensweise, also der Muster, wie wir produzieren, konsumieren und zusammenleben. Folgende, nicht weiter gekennzeichnete Seitenangaben beziehen sich alle auf dieses Buch. Für Carlowitz stand noch die »nachhaltende« Nutzung der Ressource Holz im Vordergrund. Doch in den Tiefenstrukturen des Begriffs werden Zusammenhang und Kontinuität zwischen der Sylvicultura oeconomica und unserem modernen Konzept sichtbar. Spiegelt man unseren modernen Diskurs in der alten Quelle, so macht man erstaunliche Entdeckungen: Wo die Brundtland-Kommission der UN 1987 Nachhaltigkeit als eine Entwicklung definierte, »welche die Bedürfnisse der gegenwärtigen Generation befriedigt, ohne die Fähigkeit zukünftiger Generationen zu gefährden, ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen «,ging es Carlowitz vor 300 Jahren um »eine immerwährende Holtz=Nutzung« (Untertitel) »zum Besten des gemeinen Wesens und denen Nachkommen zum Besten« (Widmung).Wo der Brundtland-Report von den »future generations« schreibt, spricht Carlowitz von der »lieben Posterität«. Wo Gro Harlem Brundtland »conservation and enhancement« (Bewahrung und Erweiterung) der Ressourcenbasis für erforderlich hält, ist für Carlowitz »Conservation und Anbau des Holtzes ... unentbehrlich«. Wo der Club of Rome-Bericht von 1972 über die Grenzen des Wachstums nach einem Modell für die Zukunft sucht, das »sustainable« ist, und das heißt: gegen einen »plötzlichen und unkontrollierbaren Kollaps« gefeit, spricht Carlowitz davon, dass ohne die »nachhaltende« Nutzung der Ressource Holz »das Land in seinem Esse«, in seiner Existenz »nicht bleiben mag« (S. 105), also kollabiert. Wo heutige Ökonomen wie der Amerikaner Herman Daly eine ›steady-state economy‹ entwerfen, also eine stetige Wirtschaft, die im »Fließgleichgewicht« oder »Beharrungszustand« bleibt, sprach Carlowitz von einer »beständigen, kontinuierlichen und nachhaltenden Nutzung«. Die Analogien sind frappierend: Heute wie damals geht es darum, die Selbstsorge der gegenwärtigen Generation unlösbar mit der Vorsorge für die kommenden Generationen zu verbinden. Generationengerechtigkeit ist über die drei Jahrhunderte hinweg der ethische Kern dieses Begriffs. Vielleicht haben Gro Harlem Brundtland und die vielen Wegbereiter des modernen Nachhaltigkeitsdiskurses Carlowitz weder gelesen noch seinen Namen gekannt. Entscheidend ist vielmehr Folgendes: Seit Carlowitz ist die Vokabel, der Wortkörper des allgemeinsprachlichen Verbes »nachhalten« mit Bedeutungen aufgeladen, die es zu einem Begriff machten. Diese Aufladungen blieben erhalten, als der deutsche forstliche Fachterminus »Nachhaltigkeit« im 19. Jahrhundert mit »sustained yield forestry« ins Englische übersetzt wurde. Sie sind bis heute wirksam. Darin liegt die historische Bedeutung der Sylvicultura oeconomica. Carlowitz hat als erster eine Form des Wortes »nachhalten« mit dem Gedanken der Daseinsfürsorge und der Daseinsvorsorge verknüpft und so ein Denken der Verantwortung für die nachkommenden Generationen begreiflich gemacht, auf den Begriff gebracht. Wie konnte ein Begriff aus dem vormodernen, kameralistischen Denken kleiner geschlossener mitteleuropäischer Territorien urplötzlich und explosionsartig in der globalisierten Welt des 20. Jahrhunderts eine derartig fulminante Wirkung entfalten? Eine erste Antwort: Auf den Fotos aus dem Weltall, die um 1970 von den bemannten Mondflügen zur Erde gesendet wurden, sah sich die Menschheit zum ersten Mal in ihrer Geschichte ganz und gar von außen. Ein epochales Ereignis: Schlagartig wurde man sich im ›global village‹ bewusst, dass der blaue Planet insgesamt ein geschlossenes, begrenztes System darstellt: ›spaceship earth‹. Die Grenzen des Wachstums kamen in Sicht und damit der Zwang zur Selbstbeschränkung.

Die Begriffe richtigstellen

Warum im Jahr 2013 Carlowitz und sein 300 Jahre altes Buch neu zur Kenntnis nehmen, ja sogar lesen? Auf die Frage, was er als erstes tun würde, wenn ihm der Kaiser die Regierung des Staates anvertraute, antwortete im 6. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung der chinesische Weise Konfuzius: »Unbedingt die Bezeichnungen richtigstellen«. ›Zheng Ming‹ – die Richtigstellung der Worte – wörtlich übersetzt »auf korrekte Begriffe halten« – steht noch heute im Zentrum chinesischer Philosophie. Eine solche Arbeit am Begriff, eine neue Sorgfalt des Umgangs damit scheint heute im Fall von Nachhaltigkeit besonders dringlich. Alle reden von Nachhaltigkeit und das ist gut so. Aber dabei ist das Konzept in das Feuerwerk der Reklamesprache und der politischen Propaganda geraten. Wo alles nachhaltig ist, ist nichts mehr nachhaltig. Diese Beliebigkeit macht uns begriffslos. Ist das Wort schon verbraucht? Jetzt, da wir es so dringend brauchen? Nämlich als »key to human survival«, als Schlüssel zum Überleben der Menschheit. Können wir darauf verzichten? Haben wir einen gleichwertigen Ersatz? Ein anderes Wort mit demselben Bedeutungsumfang, mit der derselben Gravität und Flexibilität? Die Alternative zum sehr riskanten Verzicht auf den Begriff: Der schleichenden Entkernung des Begriffs die Suche nach seinem Kern entgegenzusetzen. Diese Suche führt uns in die Geschichte des Begriffs – und zu Carlowitz. In den Anfängen einer Begriffsbildung wird immer Elementares verhandelt. Hier wird die Substanz entwickelt, die später ihr Potenzial entfaltet, aber im Prozess der Operationalisierung und Anwendung zu verschwimmen droht. In diesem Sinn kann die Sylvicultura oeconomica uns heute dienen: Als Quelle, in der wir unseren Gebrauch des Wortes spiegeln und überprüfen können – und seine Würde neu erfahren. Die Entdeckung der Nachhaltigkeit geht weiter.

Die Macht bei menschlichen Beziehungen

Nachhaltiges menschliches Verhalten betrifft also nicht nur die Art und Weise, wie Menschen mit der Natur umgehen. Es betrifft zwar vordergründig menschliche Beziehungen zu Tieren und Personen, aber auch Beziehungen zu Produkten (und Dienstleistungen), zu Arbeitsverhältnissen, zu Plänen, zu Ereignissen, zu Themenbehandlung und zur Zeit. Beziehungen werden auf unterschiedliche Weise erlebt:
  • objektiv (kognitiv)
  • subjektiv (emotional, gefühlt)
  • achtsam (bewusst)
  • gewohnheitsmäßig (unbewusst)
Kürzlich wurde ich gefragt, ob der allgemeine menschliche Anspruch berechtigt ist, „ein gutes Leben für alle, in der Gegenwart und in der Zukunft, zu haben.“ Der Fragesteller sagte nicht, ob es ihm um ein objektives oder subjektives Anliegen geht. Es ist offensichtlich, dass wir uns alle an Tätigkeiten und Personen erfreuen, die uns verlockend 'erscheinen'. Falls der Erwerb einer Fähigkeit wenig Mühe macht, wird sie relativ schnell zur Gewohnheit. Dagegen erfordert der Erwerb anspruchsvoller (auch professionell nützlicher) Fähigkeiten viel Mühe, bis sie 'verinnerlicht' werden. Eine mühsam erworbene Handlungsmöglichkeit zu verlieren – aufgrund des Verlustes des Arbeitsplatzes, des Verlustes einer Liebesbeziehung, des fortgeschrittenen Alters oder einer Krankheit – kann bewirken, dass Denk- und Verhaltensweisen entsprechend einer neuen Situation mühsam revidiert werden müssen.

Meines Erachtens gibt es keine Hinweise, dass ein Anspruch auf ein sowohl objektiv als auch subjektiv erlebtes gutes Leben vermittels der menschlichen biologischen Evolution im menschlichen Gehirn von Geburt an 'verankert' ist. Neurobiologische Erkenntnisse weisen vielmehr darauf hin, dass
  1. in allen Lebewesen existiert der Instinkt zum Überleben ,
  2. menschliche Wesen in der Lage sind Fähigkeiten zu erwerben, um mit möglichst vielen Situationen im Leben zurechtzukommen,
  3. etwa 80 bis 90 Prozent menschlicher Gehirntätigkeit unbewusst ablaufende Vorgänge betrifft – emotionalem, intuitivem und an-gewohntem Denken und Handeln.
Der Neurobiologe Gerald Hüther (*1951) vertritt eine Theorie des Bewusstseins, die besagt: „Es gibt immer übergeordnete [neuronale] Muster, die darunterliegende Prozesse lenken und steuern. Zum Beispiel haben wir ein Bewegungsmuster, das uns hilft, ein Glas an den Mund zu führen. Das ist eine Bewegungsgestalt, die im Hirn abgespeichert ist. Wollen wir nun also etwas trinken, wissen wir durch das Muster, wie es geht und brauchen uns das Trinken nur vorzustellen. Das Gehirn reguliert dann von allein die ganzen einzelnen Bewegungen und Muskelkontraktionen, um das Glas anzuheben und zu trinken. Dieses Beispiel können wir auch auf der Ebene der Steuerung unseres Verhaltens anwenden. Dort nennt man übergeordnete Muster innere Einstellung, Haltung oder Mindset. Von dieser Haltung hängt es ab, wie wir uns verhalten. Wenn Menschen die Frage beantworten, was für ein Mensch sie sein wollen, dann ist die Antwort immer gleich. Denn die Frage ist so grundlegend, dass es darauf nur eine Antwort gibt: Ich möchte jemand sein, der andere Menschen glücklich macht. Oder ich möchte jemand sein, der diese Natur erhält und der dazu beiträgt, dass hier alles wachsen kann. Es gibt keine Antwort wie „ich möchte jemand sein, der besonders viel Geld hat....... Stellen wir uns mal vor, wir fragen jemanden und der antwortet: „Ich bin auf der Welt, damit ich ein gutes Leben habe, damit es mir gut geht.“ Dann würde ich fragen, was ist denn das, was dich glücklich macht? „Wenn ich viel Geld habe.“ Und was machst du mit dem vielen Geld? „Damit kaufe ich mir eine Segeljacht.“ Und was hast du damit vor? „Dann fahr ich umher.“ Wie viele Jahre möchtest du gern umherfahren? Dann fängt er an nachzudenken, denn er möchte nicht sein ganzes Leben auf der Segeljacht fahren – was ich damit zeigen will: In diesen Befragungen müssen Sie immer weiterfragen. Am Ende wird die Person erkennen, dass sie nur glücklich sein kann, indem sie auf eine Art und Weise lebt, dass andere Lebewesen auch leben können. Es geht gar nicht anders.

Als Gerald Hüther gefragt wurde, wie kann man Menschen dazu bringen, ihr Denken und Verhalten zu ändern, war seine Antwort: : „Bisher haben wir immer gedacht, dass wir Menschen von außen dazu bringen können, ihr Verhalten zu ändern. Doch noch nie sind die Leute mit solchen großen Autos umhergefahren, noch nie waren die landwirtschaftlichen Nutzflächen so ausgebeutet und noch nie ist so viel Plastikmüll in den Meeren geschwommen. Also heißt das doch, dass unsere bisherigen Strategien nicht funktioniert haben. Wenn es also nicht von außen geht, muss es von innen gehen. Wir müssen uns fragen: Was im Menschen kann man wachrufen und stärken, damit er aufwacht und sich anders verhält? Wir müssten ein bestimmtes Bild von uns selbst haben und feststellen, dass dieses Bild nicht mit dem übereinstimmt, wie wir tagtäglich handeln. Durch dieses Missverhältnis ginge es uns nicht gut. Und dann würden wir versuchen, unser Verhalten an das Bild von uns selbst anzupassen. Vorausgesetzt ist, dass wir ein starkes Bild von uns haben, denn sonst kann man dieses Bild in die Ecke legen und sagen „das interessiert mich nicht“. Das stärkste Bild, das ich für solche Fälle gefunden habe, ist die Vorstellung von der eigenen Würde.“

Hüther irrt, wenn er glaubt, dass Menschen am Ende erkennen, dass sie nur glücklich sein können, indem sie auf eine Art und Weise leben, dass andere Lebewesen auch leben können. Hüther übersieht die Rolle der Macht.

Robert V. Levine (1945 - 2019), ein US Sozialpsychologe, widmete viele Studien dem Thema wie Menschen unterschiedlicher Kulturen Zeit wahrnehmen. Im Verlauf der menschlichen Kulturgeschichte wurde es notwendig, die Uhrzeiten zwischen staatlichen Grenzen weltweit zu normieren. Damit war die Voraussetzung geschaffen, Uhrzeiten weltweit zwischen Staaten zu synchronisieren. Damit wurde aber auch weltweit die Möglichkeit geschaffen, dass Zeit das Maß menschlicher Denk- und Verhaltensweisen wurde: “Zeit ist Geld“. Produkte und Dienstleistungen hatten nicht nur einen Handelswert, ihr Wert bemaß sich am Wert von persönlicher Arbeitskraft. Ereignisse und Themenbehandlungen hatten keinen ethischen und moralischen Wert, ihr Wert bemaß sich am kommerziellen Erfolg. Selbst menschliche Beziehungen wurden daran gemessen, inwieweit sie zu kommerziellem Erfolg beitragen.

Die Vorstellung “Zeit ist Geld“ betrifft jedoch nur ein objektiv messbares Zeitgefühl. Es wurde und wird auch heute als plausible Vorstellung von der Mehrheit der Bevölkerungen verinnerlicht. Das Maß “Zeit ist Geld“ hilft hierarchisch operierender Organisationen effektiv zu funktionieren. Geld manifestiert sich als Macht. Häufig wird übersehen oder gar ignoriert, dass auch ein subjektives Zeitgefühl existiert, das sich derzeit mehr oder weniger lautstark bemerkbar macht.

Wenn man bedenkt, wie lange Erkenntnisse hinsichtlich nachhaltigem Denken und Verhalten schon existieren, ohne dass sich Menschen in diesem Sinn wesentlich verändert haben, kommt man zu dem Schluss, dass Aufklärung weniger bewirkt als oft angenommen. Es ist letztlich notwendig, dass jeder sein Denken und Verhalten selbst einschätzt, inwieweit es nachhaltigen Zielen dienlich ist. und der Würde aller Menschen gerecht wird.

Die derzeitigen gesellschaftlich schwierigen Situationen deuten darauf hin, dass Homo sapiens früher oder später gezwungen sein wird zu lernen, gesellschaftliche Prozesse nachhaltig zu gestalten. Gewohnte gesellschaftliche Vorstellungen und Prozesse zu revidieren (zu reformieren?) ist jedoch ein schwieriges Unterfangen und braucht viel Zeit, weil Lernen auf dem Prinzip 'Versuch und Irrtum' beruht. Öffentliche polarisierende Meinungen, die heute stärker denn je von Medien beeinflusst werden, erschweren das Unterfangen zusätzlich.

Die Entdeckung der Nachhaltigkeit geht weiter.

Referenzen:

Ulrich Grober - Die Entdeckung der Nachhaltigkeit – Kulturgeschichte eines Begriffs.
Antje Kunstmann Verlag, München, 2013.
Ulrich Grober - Sustainability –  A cultural history.
Green Books, Totnes UK, 2012
Quelle:

Ulrich Grobers “Die Entdeckung der Nachhaltigkeit“ (2010) gilt als Standardwerk. Im Jahr 2012 wurde es ins Englische übersetzt. Die Royal Society lud ihn 2013 ein, seine Erkenntnisse zur Nachhaltigkeit darzustellen. 2014 diente ein Text von Grober der UNO in ihrem "Global Sustainable Development Report" als Referenz für die Geschichte des Konzepts Nachhaltigkeit.
Das Umweltministerium in Brandenburg: Grober leiste mit seinem Buch einen wichtigen Beitrag dazu, dass Nachhaltigkeit nicht zum Modewort verkommt, sondern die Idee vom nachhaltigen Denken, Leben und Handeln die Köpfe und Herzen der Menschen im Alltag erreicht. Dabei zeichnet er in unterhaltsamer und gut lesbarer Form die historische Entwicklung des Wortes nach. Der Leser erfährt auf einer Gedankenreise vom Buch Genesis über mittelalterliche Klöster, barocke Verwaltungssprache, Woodstock und John Lennon – um nur einige Stationen zu nennen – Erstaunliches über und um den Begriff der Nachhaltigkeit. (Wikipedia)

Boje Maaßen - Ein Interview mit Ulrich Grober: “Das Gegenteil von Kollaps“

Gerald Hüther: „Das Leben besteht nicht darin, sich irgendwelche Konsumbedürfnisse zu erfüllen“

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