Es geschieht derzeit jede Woche, dass mir die Süddeutsche Zeitung (SZ) den Leitartikel ihres Star-Kolumnisten Heribert Prantl zuschickt. Obwohl die SZ als Massenmedium anzusehen ist, werde ich meistens vom Autor persönlich angesprochen. Personalisierte Massensendungen sind für mich nichts Neues. Das konnte man schon vor 30 Jahren.
Dieses Wochenende erhielt ich – wer weiß warum – den Leitartikel vom 2. August 2020, überschrieben mit dem Titel Moria, das Brandopfer. Vielleicht ist der Grund, dass man diesen Text auswählte, die Überzeugung der Werbeabteilung der SZ, dass das Thema Flüchtlinge von allgemeinem Interesse ist, und dass Prantls Aussagen sehr treffend sind. Mit beiden Annahmen liegt man richtig. Obwohl ich die SZ seit über einem Jahr im Abo beziehe, wundert es mich, warum ich immer noch mit Einzelartikeln beworben werde, die ich zum Erscheinungszeitpunkt gelesen hatte. Dies besagt, dass die Werbung bei vorhandenen Kunden besser durchdacht werden sollte. Das nur nebenbei.
Dilemma der Flüchtlingspolitik
Die Aussage des Beitrags gipfelt in den Satz: .Es gibt eine Politik, die den Tod von Menschen wegen angeblicher Sachzwänge, wegen höherer Interessen in Kauf nimmt. Diese Politik heißt Flüchtlingspolitik.‘
Heribert Prantl zieht eine Parallele zu den antiken Religionen, bei denen Menschenopfer zum Ritual gehörten. Sie dienten dazu, die Götter zu besänftigen. Die heutige Flüchtlingspolitik gehorcht zwar keinen Göttern, sie nimmt jedoch massenhaft Menschenopfer in Kauf.
Schreiende Bilder
In regelmäßigen Abständen bieten uns die Medien Bilder an, die sich nur in ihrer Dramatik unterscheiden. Mal ist es ein Fischerkahn, der mit schwarzen Körpern überladen ist und gerade zu versinken droht. Mal ist es ein 8-jähriger Junge, der allein und tot am Strand liegt. Diese Bilder sichern den Medien Massenauflagen und sind der Gesprächsstoff ganz Europas für eine Woche. Danach setzt sich der alte Trott weiter fort oder es folgt der Bericht über eine neue Pandemie.
Alle Politiker, die gerade eine Rede halten müssen, sagen, dass endlich etwas geschehen müsse, um diese Art von Bildern in Zukunft zu vermeiden. Sofern sie ehrlich sind, sagen die Politiker, dass sie entweder nicht wissen, was zu tun sei, oder aber, dass das Problem nur an seiner Wurzel angegangen werden könnte.
Des Volkes Reaktion
Nehmen Politiker die Vorschläge der Presse (und der Kirchen und der sozialen Verbände) ernst, werden sie von ihren Wählern schnell eines Besseren belehrt. Es muss eine der schmerzlichsten Erfahrungen von Angela Merkel gewesen sein, dass sie im Jahre 2015 plötzlich vor einem Scherbenhaufen stand. ‚Wir schaffen das‘ hatte sie gesagt, als sie Deutschlands Grenzen für Flüchtlingsströme öffnen ließ. Sie musste sich auf der Straße beschimpfen und anpöbeln lassen und hat seither eine Konkurrenzpartei mehr, die AfD.
Lehren von 2015
Keine deutsche Partei wagt es noch, offen für die Aufnahme von Flüchtlingen einzutreten. Grüne und Linke drucksen sich um das Problem herum. Die Parteien in anderen europäischen Ländern wie Polen, Ungarn und Österreich sprechen sich dafür aus, ihre Grenzen gegenüber Flüchtlingen ganz zu schließen. Alle sagen, dass es ihre primäre Aufgabe sei, auf ihre eigenen Bürger zu hören und diese zu schützen.
Angela Merkel gelang es, ein Lösung auszuhandeln, die kaum zu überbieten ist, wenn von Realpolitik geredet wird. Sie verhandelte mit Recep Tayyip Erdogan einen Milliarden-Vertrag, nach dem die Türkei Flüchtlinge, die nach Europa möchten, zurückhält. Hin und wieder droht Erdogan damit, diesen Vertrag zu lockern.
Moria und die Moral
Wer das Flüchtlingslager Moria auf der Insel Lesbos in Brand steckte, ist unklar. Es ist Griechenland zuzutrauen, aber auch den Flüchtlingen selbst. In beiden Fällen ist anzunehmen, dass die Flüchtlinge sich in kleinen Gruppen in Richtung Mitteleuropa in Bewegung setzen werden.
Flüchtlinge
haben oft keine Moral. Sie stellen nur Forderungen: ‚Helft mir oder ich mache Euch
Ärger‘. Peinliche Bilder ist nur der eine Weg. Der andere heißt: ‚Wir
blockieren Eure Grenzen und Verkehrswege. Oder wir verunsichern Eure Ortszentren‘.
Sie wollen und können nicht verhandeln, weil sie über keine Gruppenstruktur
verfügen, die über Klein-Familien hinausgeht.
Ein erster Nachtrag vom 14.9.2020
Gabor Steingard schrieb: Alle verantwortungsbewussten Politiker wissen, dass die einfache Lösung - die schnelle Aufnahme und Verteilung von 12.000 Migranten – in Wahrheit keine Lösung, sondern nur die Verschärfung des Problems bringt. Noch bevor die Bäume in Lesbos die Blätter werfen, wäre das Lager Moria 2 wieder gefüllt. Die Chefs der Schleuserbanden warten nur darauf, dass ihre Außendienstmitarbeiter auf Lesbos melden: läuft.
Noch ein Nachtrag vom 15.9.2020
Bei jedem Pauschalurteil. das man über größere Personengruppen fällt, liegt man unweigerlich in Teilen daneben. Das passierte auch in diesem Beitrag mit der als Flüchtlinge bezeichneten Gruppe. Weltweit gibt es Millionen von Flüchtlingen. Das sind Personen, die ihren angestammten Wohnsitz meist unter Zwang verlassen mussten. Die Haltung, die ich hier allen Flüchtlingen unterstellte - dass sie nämlich nur fordernd auftreten - ist keineswegs generell vorherrschend. An zwei Beipielen will ich das Gegenteil beweisen.
Im Sommer des Jahres 1945 wurden die aus Osteuropa vertriebenen Personen von den Behörden in Westdeutschland ein Wohnsitz zugewiesen. Die Behörden hatten Nachrichten-Anschläge gemacht, die besagten, dass an einen bestimmten Tag der folgenden Woche zwei Familien meinem Heimatdorf zugeteilt würden. Mein Dorf liegt nur wenige Kilometer von der Luxemburgischen Grenze entfernt. Genau am vorher angekündigten Tag, etwa gegen 10 Uhr, wurden die beiden Familien mit einem Kleinbus gebracht und in der Dorfmitte ausgeladen. Der Ortsbürgermeister war zur Stelle, sowie sein Stellvertreter, aber auch etwa ein Dutzend Kinder im Alter zwischen 8-12 Jahren. Das Dorf hatte damals etwa 300 Einwohner, auf 30-40 Einfamilienhäusern verteilt. Für beide Familien hatte die Gemeinde Wohnraum geschaffen und provisorisch möbliert. Das Eine war ein ehemaliges Schulgebäude, genau in der Dorfmitte, das abgerisssen werden sollte, nachdem die Gemeinde am Ortsrand ein größeres Schulgebäude errichtet hatte. Es hatte 3-4 Jahre lang leergestanden.
Die Familie, der dieses Gebäude zugewiesen wurde, stammte aus Pommern und hatte zwei Kinder zwischen 10-14 Jahren. Die Kinder gingen mit uns anderen Kindern in die Dorfschule. Sie spielten mit uns und lernten unseren Dialekt. Später lernte der Junge den Schlosserberuf und das Mädchen wurde Krankenschwester. Die Eltern halfen bei den Bauern als Erntehelfer. Die zweite Familie stammte aus Schlesien und hatte Kinder, die noch nicht schulpflichtig waren. Ihnen wurde ein von der deutschen Wehrmacht am Dorfrand errichtetes Einfamilienhaus zugewiesen. Diese Familie wohnt heute noch dort, d.h. eines ihrer Kinder mit seiner Familie. Die andere Familie baute sich ein kleines Eigenheim, ebenfalls am Dorfrande. Beide Familien haben sich voll integriert. Nur die Namen hören sich polnisch an.
Mit dem zweiten Fall kam ich rund 30 Jahre später in Berührung. Als 1978 der Vietnamkrieg zu Ende ging, flohen viele Menschen per Boot aufs Meer hinaus. Dort lagen Rettungsschiffe, wie z. B. die deutsche Cap Anamur des Rupert Neudeck, um diese Menschen (engl. boat people) in Empfang zu nehmen. Ein bestimmter Prozentsatz fand Aufnahme in Deutschland. Darunter war ein junger Mann, der anschließend in Deutschland ein Informatik-Studium abschloss. Er bewarb sich bei der Firma, wo ich tätig war, und wurde eingestellt. Er war ein stets freundlicher, sehr gewissenhafter Kollege, dem technische Aufgaben sehr viel Freude machten. Er blieb bei dieser Firma bis zu seiner Pensionierung, also mindestens 20 Jahre. Vor Kurzem erfuhr ich, dass seine Tochter in Deutschland ein Ingenieurstudium absolviert hat und inzwischen bei der Europäischen Raumfahrtbehörde (ESA) eine Hauptabteilung leitet.
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