Vorbemerkung: Einige meiner bisherigen Beiträge hatten zumindest bei einem meiner Leser (Hans Diel) die Frage hervorgerufen, ob man eigentlich Wissenschaft betreiben kann, ohne gleichzeitig eine Weltanschauung zu vertreten. Seine erste Antwort hieß: Vielleicht ist Weltanschauung, im Sinne von Weltsicht, gar nicht vermeidbar, vorausgesetzt, diese artet nicht in Ideologie aus. Der Ball wurde von einem andern Leser (Peter Hiemann) aufgegriffen. Da es sich in beiden Fällen um gute Freunde handelt, darf ich im Folgenden – mit Ihrer Genehmigung − Auszüge aus der anschließenden, per E-Mail ausgetragenen Diskussion wiedergegeben. Beide Freunde sind Amateur-Philosophen und Rentner wie ich.
Hans Diel (HD): Ich weiß immer noch nicht ob ich die Verquickung von wissenschaftlichen Aussagen mit Weltanschauung und Ideologie für (a) schlecht und abzulehnen, (b) meistens irreführend, (c) unvermeidlich, oder gar (d) akzeptabel da manchmal zielführend, halten soll. Meine persönliche Minimalforderung ist, dass in wissenschaftlichen Diskussionen der Aspekt Ideologie klarer kenntlich gemacht werden sollte. Aber auch dies ist möglicherweise schon zu viel verlangt. Viele Wissenschaftler scheinen sich dessen gar nicht bewusst zu sein wie viel Ideologie in Ihren scheinbar rein wissenschaftlichen Interpretationen steckt. [17.3.2011]
Peter Hiemann (PH): Ich versuche auch ziemlich oft, Aussagen zu kategorisieren. Ich versuche sie rational einzuordnen, indem ich sie auf Grund meines Wissens und meiner Erfahrung (a) für zutreffend halte (b) für interessant und beachtenswert finde (c) für falsch erachte. Mir ist aber durchaus bewusst, dass es unmöglich und nicht wünschenswert ist, alle Entscheidungen auf ausschließlich rationale Optionen bzw. Möglichkeiten zu beschränken. Auch ich mache sogenannte Bauchentscheidungen. Gerd Gigerenzer hat darüber ein interessantes Buch geschrieben (Die Intelligenz des Unbewussten und die Macht der Intuition). Ich bin natürlich auch "konfrontiert" mit Aussagen, die mein Bewusstsein einfach deshalb nicht erreichen, weil ich sie schon unbewusst spontan aussortiere (z.B. Werbung, Allgemeinplätze, politische Phrasen).
Ich mache übrigens einen grossen Unterschied zwischen Weltanschauung und Ideologie. Eine Weltanschauung ist notwendig, um eigene Beobachtungen, Erfahrungen und Aussagen selbständig einordnen zu können. Eine individuelle Weltanschauung bedeutet viel Arbeit, sie sich "anzueignen". Ideologie ist der Versuch, Anschauungen und Versprechungen zu verfassen und zu verbreiten, für die sich leicht Gläubige (ohne aufwendige Denkarbeit) finden lassen. Einstein vertrat eine Weltanschauung. Hitler vertrat eine Ideologie.
Bis jetzt konnte ich ganz gut das potenzielle Problem "Verquickung von wissenschaftlichen Aussagen mit Weltanschauung und Ideologie" vermeiden. Eine Verquickung von Wissenschaft und Weltanschauung existiert für mich nicht. Meine DDR Historie in Dresden hat mich ziemlich unempfänglich für Ideologien jedweder Herkunft gemacht. [18.3.2011]
HD: Sie haben (wieder mal) recht mit Ihren Punkten. Ich habe auch bei Ihnen den Eindruck, dass Sie ziemlich resistent gegenüber Ideologien sind, oder vielleicht sollte ich eher sagen, dass sie rational und vernünftig mit Ideologien umgehen.
Nur bei einem Punkte sehe ich noch Diskussionsbedarf. Mir scheint, dass die Grenze zwischen Ideologie und Weltanschauung nicht so leicht zu ziehen ist. Sie sehen den Übergang zur Ideologie ja auch erst dadurch gegeben wenn man auf "Gläubige" abzielt. Das ist natürlich ein fließender Übergang. Außerdem hat das zur Folge, dass man Anschauungen / Überzeugungen wie beispielsweise Friedensbewegung, Klimaschutz, Antiatomkraft klar als Ideologien einordnen muß. Wahrscheinlich zu recht. Aber muss man dann zwischen guten und schlechten Ideologien unterscheiden?
Kurz nachdem ich Ihre Email bekam, als ich schon über meine Antwort nachdachte, sah ich zufällig im neuesten Spektrum der Wissenschaft (April 2011) auf Seite 6 einen Leserbrief von Prof. Dr. Hans Müller, überschrieben "Einseitige Weltanschauung", und am Schluss mit dem Satz "Und so keimt beim Leser der Verdacht, dass hier keine ideologiefreie Wissenschaft sondern die fragwürdige Weltanschauung eines sogenannten Klimaschutzes vermittelt werden soll". Auch Prof.Müller scheint hier nicht wirklich einen Unterschied zwischen Ideologie und Weltanschauung zu sehen. Oder muss man sagen, dass Prof. Müller hier der Meinung ist, dass eine (fragwürdige) Weltanschauung zu einer Ideologie geworden ist.
Aber eigentlich ist das (obige) gar nicht mein Thema und damit auch nicht das was ich beklage. Ich habe ja nichts dagegen, dass die Leute (auch die Wissenschaftler) eine Weltanschauung haben. Ich denke, dass ich auch Ideologien etwas weniger negativ sehe als Sie. Ich habe nicht mal etwas dagegen, dass die Wissenschaftler von ihrer Weltanschauung und Ideologie in ihrer Arbeit beeinflusst werden.
Was mich stört ist, (1) dass die Leute so tun als wären Sie völlig unbeeinflusst von Weltanschauung und Ideologie zu ihren Interpretationen gekommen, und (2) dass die wissenschaftsgläubige Welt glaubt, dass es eine ideologiefreie Wissenschaft gibt. Dem Leserbriefschreiber möchte ich schreiben: "Natürlich handelt es sich hier nicht um ideologiefreie Wissenschaft, weil es nämlich kaum ideologiefreie Wissenschaft gibt, und schon gar nicht beim Thema Klima(-schutz)." Natürlich ist ideologiebehaftete Wissenschaft nicht automatisch falsch. Es wäre nur leichter (weniger mühsam) wenn der Ideologieanteil nicht verleugnet würde. [19.3.2011]
PH: Gerne komme ich Ihrem Wunsch nach zu erklären, wie ich versuche, die Grenze zwischen Ideologie und Weltanschauung zu ziehen.
(1) Eine Weltanschauung ist eine Hypothese über die Welt als Ganzes. Vertreter einer Weltanschauung sind offen, ihre Sicht der Welt zu modifizieren, um neuen Erkenntnissen und Erfahrungen gerecht zu werden. Vertreter einer Ideologie erheben einen Absolutheitsanspruch.
(2) Eine Weltanschauung enthält viele Betrachtungsebenen, um der Komplexität der Zusammenhänge zwischen Phänomenen dieser Welt gerecht zu werden. Eine Ideologie versucht, alle Phänomene mit einem einfachen Prinzip zu erklären.
(3) Eine Weltanschauung ist unabhängig von einer Institution. Eine Ideologie ist einer Institution verhaftet, die sich Deutungshoheit anmaßt und Macht ausübt, ihre Ideologie in der Gesellschaft durchzusetzen.
(4) Eine Weltanschauung verlangt Vereinbarkeit von menschlichen rationalen und emotionalen Bedürfnissen. Eine Ideologie verspricht primär die Befriedigung menschlicher emotionaler (sogenannter populistischer) Bedürfnisse.
(5) Weltanschauungen können nicht zum Schaden von Menschen missbraucht werden. Ideologien sehr wohl. Historische kriegerische Auseinandersetzungen benutzten oft ideologische Rechtfertigungen.
Vermutlich benutze ich noch ein paar andere Kriterien, um Ideologen nicht auf den Leim zu gehen. Am meisten beschäftigt mich, meine Weltanschauung mit Hilfe meiner rationalen Fähigkeiten zu begründen und gegebenfalls zu modifizieren. Die von Ihnen aufgeführten Bereiche Frieden, Klima und Nuklearenergie erfordern solide wissenschaftliche weltanschauliche Überlegungen und dürfen keinesfalls Ideologen überlassen werden.
Das obige Kriterium (3) ist eine Einladung zu einer weiterführenden Debatte über die Repräsentanten eines demokratischen Parteiensystems. Sicher gibt es Ideologen unter ihnen. Sie sind zwar an eine weltanschaulich geprägte Verfassung gebunden aber ansonsten nur ihrem Gewissen verpflichtet. Und das kann relativ leicht mit ökonomischen Interessen in Konflikt geraten. Immerhin erlaubt das repräsentative demokratische System die Abwahl von Ideologen, wenn sie denn als solche erkannt werden. Mein zu einfaches Kriterium, dass sich eine Ideologie daran erkennen lässt, dass sich leicht „Gläubige“ finden lassen, werde ich getrost in den Papierkorb werfen.
Vielleicht haben Sie sich gewundert, dass ich von „einer“ Weltanschauung oder Ideologie spreche. Schließlich gibt es deren viele. Jeder kommt nicht darum herum, sich seine eigene Weltanschauung zusammenbasteln, aus den vielfältigen Bestandteilen (Hypothesen, Ethik und Umwelt), die er in seiner Lebensspanne vorfindet bzw. erlebt, zum Nutzen für sich, seiner Mitmenschen und seiner Nachkommen. Jeder kann aber auch einfach eine der vielen „vorgefertigten“ Ideologien übernehmen.
Hoffentlich konnte ich Ihrem Diskussionsbedarf einigermaßen gerecht werden. Ich bin gleichermaßen interessiert, Ihre Kriterien für die Unterscheidung von Weltanschauung und Ideologie zu erfahren. Ich empfinde die derzeitige Epoche sehr spannend, da viele weltanschauliche und ideologische Gedankengebäude unter Druck geraten sind. [21.3.2011]
HD: Je mehr ich über dieses Thema nachdenke umso komplexer erscheint es mir. Mir ist der Verdacht gekommen, dass das deswegen womöglich so komplex erscheint, weil der Vergleich Weltanschauung und Ideologie nicht gleiche Kategorien vergleicht (wie der Vergleich von Äpfeln mit Birnen). Ich gebe zu, dass ich damit angefangen habe beides in einen Topf zu werfen. Wenn ich sage, dass man beides nicht in einen Topf werfen sollte, dann will ich damit nicht sagen, dass es keinen Sinn macht über das Verhältnis von Weltanschauung zu Ideologie zu reden. Im Gegenteil, ich finde unsere Diskussion sehr interessant und möchte Sie hier fortsetzen.
Zu Weltanschauung:
Ich finde alles, was Sie zu Weltanschauung gesagt haben, als gute und richtige "Objectives" für die Erstellung der eigenen Weltanschauung. Was ich noch nicht verstehe, ist ob diese ausreichende Objectives sind. Wichtiger sind mir die folgenden Punkte. Ich bin der Meinung, dass
(1) einige (die meisten?) Ihrer Kriterien das Praktizieren der Weltanschauung betreffen und nicht den Inhalt der Weltanschauung. Vielleicht erinnert Sie diese Unterscheidung an die berüchtigte Unterscheidung zwischen "real existierendem Sozialismus" und "(idealem) Sozialismus". Diese (letztere) Unterscheidung wurde ja auch bekämpft mit dem Argument, dass die Praxis (des existierenden Sozialismus ) sich zwangsläufig aus dem Inhalt des (idealen) Sozialismus entwickelt hat. Deshalb sehe ich auch, dass die Fehler und Verbrechen in der Praktizierung oft (aber eben nicht immer) ihren Ursprung haben im Inhalt der Weltanschauung . Sie würden vermutlich sagen, dass es sich dann nicht um eine Weltanschauung sondern um eine Ideologie handelt. Gegen dieses Verständnis der Begriffe sehe ich meinen 2. Punkt.
(2) Ich behaupte, dass jegliche Weltanschauung ihre Anforderungen in nur unvollkommenen Ausmaß erfüllt, und dass, deswegen nicht gesagt werden kann, dass Weltanschauung-A keine Weltanschauung ist (sondern Ideologie?), weil sie Kriterium-1 oder Kriterium-2 verletzt. Diese Behauptung gilt m.E. vor allem für Weltanschauungen, die praktiziert werden, und weniger (gar nicht?) für Weltanschauungen, die nicht praktiziert werden.
(3) Der Punkt "Praktizierung" scheint mir wichtig. Wie oben erwähnt scheint mir die häufigste Verletzung ihrer Kriterien nicht im Inhalt einer Weltanschauung zu geschehen sondern in der Praktizierung der entsprechenden Weltanschauung. Nun könnten (werden?) Sie sagen, eine Weltanschauung ist nicht etwas, was praktiziert werden kann (z.B. Sozialismus ist keine Weltanschauung, auch nicht Teil einer Weltanschauung). Eine solche Begriffsdefinition steht Ihnen natürlich frei, aber sie verschiebt nur die Diskussion.
Wenn Sie alles "Weltanschauungsmäßige", das auch auf Praktizierung abzielt als Ideologie bezeichnen, erscheint Ihre Ablehnung von Ideologien in einem anderen Licht. Wir könnten uns dann allerdings vermutlich schnell darauf einigen, dass alle Konzepte, bei denen es um Praktizierung geht (Politik, Religion, Pädagogik) eine hohe Gefahr von Fehlentwicklungen implizieren, umso mehr je ernster sie genommen werden. Wenn Sie jedoch nicht ausschließen, dass es Weltanschauungen gibt, die auch ein Praktizieren adressieren, würde mich interessieren, welche Beispiele Sie da sehen.
Das oben Geschriebene bedeutet nicht, dass ich die Fehler die Sie mit Ideologien assoziieren mit dem Hinweis auf die Schwierigkeiten des praktischen Zusammenlebens erkläre oder gar entschuldige. Ich meine nur, dass diese Fehler bei den verschiedenen Weltanschauungen/Ideologien (a) in unterschiedlichem Ausmaß auftreten (b) sich immer beim Praktizieren zeigen (c) manchmal, aber nicht immer in der zugrunde liegenden Weltanschauung/Ideologie begründet sind. [25.3.2011]
PH: Vermutlich sind die Begriffe „Weltanschauung“ und „Ideologie“ zu allgemein und vieldeutig, um das auszudrücken, worauf es uns ankommt. Kommt es uns nicht darauf an, aus der Flut der auf uns einströmenden Information Aussagen zu finden, auf die wir uns verlassen können? Die bei weitem häufigsten Situationen erfordern wenig Aufmerksamkeit, weil sie unseren Alltag betreffen und durch Gewohnheiten geprägt sind. Einige Situationen erfordern jedoch, dass wir bewusst entscheiden, was wir für interessant und wertvoll halten. Für solche Entscheidungen benutzen wir einige grobe Kriterien:
(1) Sind wir mit einem Wissensgebiet konfrontiert, mit dessen Grundbegriffen wir einigermaßen vertraut sind oder den Wunsch haben, uns vertraut zu machen? Gibt es Experten, die mit unterschiedlichen Vorgehensweisen zum Wissen beitragen? Haben deren Arbeiten das Potential, für den Menschen wertvolle Erkenntnisse zu liefern? Basiert das Wissen dieses Gebietes auf einer langen Geschichte mühsam erworbener Erkenntnisse? Die Geschichte des Wissensgebietes offenbart, dass ursprünglich als richtig erachtete Erkenntnisse nachträglich auch als falsch eingestuft wurden. Die Erkenntnisse des Wissensgebietes haben Bezüge zu anderen Wissensbereichen. Es scheint unmöglich, die vielen existierenden Wissensgebiete unter einen Hut zu bringen. Eine Theorie von Allem zu formulieren und zu etablieren, existiert nicht.
(2) Sind wir mit einer Institution konfrontiert, die unsere Lebensumstände betreffen oder gar beabsichtigt zu verändern? Teilen wir die Zielsetzungen der Institution? Sind wir mit den Regeln der Institution einverstanden? Handelt die Institution nicht nur in deren Interesse sondern auch in unserem Interesse? Bei der Beurteilung von Institutionen ist es wichtig, deren Interessenlage zu durchschauen: Parteien entwickeln und organisieren gesellschaftliche Strukturen, um ihre Vertreter in einflussreiche gesellschaftliche Positionen zu bringen. Kommunen entwickeln und unterhalten lebenswichtige Infrastrukturen, damit deren Vertreter ihre gesellschaftliche Positionen erhalten können. Unternehmen entwickeln Technologien und stellen Produkte her, um ökonomischen Erfolg zu haben. Interessenverbände entwickeln und unterhalten persönliche Netzwerke, um ihren Interessen mehr Durchsetzungskraft zu verleihen. Die Analyse historischer Prozesse erlaubt abzuschätzen, welche Institutionen den menschlichen Bedürfnissen besser gerecht werden als andere. Ein Gesellschaftssystem, das den Bedürfnissen aller Menschen gerecht wird, existiert nicht.
Komplexes Wissen darf übrigens nicht nur Spezialisten vorbehalten sein. Es ist zunehmend immer wichtiger, dass Experten und Journalisten mit umfassenden Übersichten zu wissenschaftlichen Arbeiten dazu beitragen, Wissen auch Nicht-Spezialisten zugänglich aufzubereiten. Schöne Bespiele finden sich ab und zu im Spektrum der Wissenschaft (SdW). Im SdW Heft 2/11 beschreibt Stephen S. Hall die komplexe Welt der Gene. Der Artikel vermittelt sehr eindrucksvoll, wie schwierig es ist (vermutlich sogar unmöglich), eine eindeutige Abbildung Genotyp – Phänotyp herzustellen. Im SdW Heft 4/11 beschreibt Joseph A. Burns die Evolution des astronomischen Wissens „von nahen und fernen Welten“. Die Suche nach außerirdischem Leben ist wohl eine unendliche Geschichte. Es fehlt nicht an hervorragenden und zum Teil sehr erfolgreichen Büchern, die sich wissenschaftlichen Themen widmen und zeigen, dass Wissenschaft eine „offene“ Veranstaltung ist.
Zur Klärung Ihrer Vermutung, dass mich die „berüchtigte Unterscheidung zwischen "real existierendem Sozialismus" und "(idealem) Sozialismus"“ gedanklich beschäftigt, kann ich folgendes sagen: Ich benutze das Schlagwort Sozialismus (Freiheit statt Sozialismus!) schon lange nicht mehr. Er trägt nichts zum Verstehen gesellschaftlicher Verhältnisse bei. Das Gleiche gilt übrigens für den Begriff Kapitalismus. Ich bemühe mich aber sehr, mich über Theorien zur Ökonomie einer Gesellschaft (Volkswirtschaft) auf dem Laufenden zu halten. Es geht um das gesellschaftliche Verhalten aller Beteiligten unter vielfältigen Marktbedingungen. Das Thema ist ja durch die Probleme, die in globalen Finanzkrisen offenbar wurden, sehr aktuell. Das Thema wird sehr kontrovers diskutiert und zeigt, wie weit Ökonomen entfernt sind, ihre Wissenschaft „in den Griff“ zu bekommen. Übrigens haben sich einige Aussagen, die Karl Marx über die gesellschaftliche Rolle des Kapitals gemacht hat, während der derzeitigen ökonomischen Krisen manifestiert. Man darf gespannt sein, ob sich Ideen von Ökonomen wie Amartya Sen oder Nouriel Roubini zu wünschenwerten Funktionen des Kapitals behaupten können.
Noch ein abschließendes Wort zu den Begriffen Weltanschauung und Ideologie. Es scheint mir, dass es einem menschlichen Grundbedürfnis nach Sicherheit und Stabilität widerspricht einzusehen, dass der Mensch ohne eine „Theorie von Allem“ und ohne ein alle glücklich machendes Gesellschaftssystem auskommen muss. Wer sich damit nicht abfinden kann, wird wohl immer sehr empfänglich für eine alles Glück versprechende Weltanschauung oder Ideologie sein. In diesem Sinn macht es tatsächlich keinen Unterschied von Weltanschauung oder von Ideologie zu sprechen.
Ich stimme mit Ihnen völlig überein, dass es unmöglich ist, gedankliche Fehler zu vermeiden. Vielleicht sollte man gar nicht von Fehlern sprechen, sondern von Gedankengängen, die sich früher oder später als Irrtum herausstellten. Über eingesehene Irrtümer lässt sich leicht reden, manchmal sogar lachen. Über mögliche Gedankenfehler zu reden, ist schwierig, manchmal sogar frustrierend. [29.3.2011]
PH: Bei 3Sat und der Sendung Kulturzeit bin ich auf den Historiker Philipp Blom aufmerksam gemacht worden, der zum Thema "Aufklärung" ein anscheinend sehr aufschlussreiches Buch geschrieben hat. Ich habe mir das Buch bestellt. Auf Grund seiner Recherchen ist er zu der Auffassung gelangt, dass die Ideen der Aufklärung, die einer neuen Weltanschauung entsprachen, von Ideologen der Französischen Revolution missbraucht wurden. Die wahren Aufklärer konnten sich nicht durchsetzen. Ideologen missbrauchten ursprüngliche Ideen und schrieben Geschichte, weil sie es verstanden, Machtstrukturen zu organisieren.
Das Schema trifft auch für andere "aufklärerische" Bewegungen zu, wie etwa: Jesus Christus - katholische Kirche und verwandte Organisationen Karl Marx - KPdSU und verwandte Parteiorganisationen Adam Smith - ökonomische Monopole und verwandte Kapitalgesellschaften. Das Schema scheint sich auch zu eignen, um gewisse wissenschaftliche Machtstrukturen in einem anderen Licht zu sehen. Es sind nicht wenige Ökonomen, Soziologen aber auch Naturwissenschaftler, deren Arbeit verdächtig nach Lobbyarbeit für gewinnorientierte Gesellschaften riecht. Meine vorherigen Aussagen hatten diesen Aspekt ideologischen Missbrauchs nicht deutlich gemacht. [7.4.2011]
HD: Ich bin mir immer noch nicht sicher, ob das, worüber wir diskutieren (und wo wir weitgehend einig sind) mit Weltanschauung vs. Ideologie richtig beschrieben werden kann. Ich glaube, dass das, was Sie unter Weltanschauung sehen, immer die Gefahr beinhaltet, mehr oder weniger Attribute zu zeigen von dem, was Sie unter Ideologie sehen. D.h., der Übergang ist gleitend und es gibt keine scharfe Grenze, ab der man sagen könnte, jetzt wird aus der Weltanschauung eine Ideologie.
Meiner Meinung nach ist die Gefahr "ideologisch zu werden" besonders groß je mehr die Weltanschauung sich auch auf das praktische Leben bezieht. Das bedeutet auch, dass das Abgleiten ins Ideologische nicht immer nur eine historische Entwicklung ist (wenn aus der Theorie real existierende Praxis wird), sondern auch schon im Ursprung der Weltanschauung angelegt sein kann.
Ich versuche noch mal zusammenzufassen, wo wir uns, glaube ich, einig sind (ich bin höchstens etwas nachsichtiger gegenüber den ideologischen Fehlentwicklungen):
(1) Für den Menschen ist es wichtig und richtig eine Weltanschauung zu haben.
(2) Weltanschauungen bieten Orientierungshilfen bei Fragen des täglichen Lebens (z.B. ethischen Fragen). Sie erleichtern die eigene Meinungsbildung bei komplexen Fragen.
(3) Der vorherige Punkt bedeutet nicht, dass es Themen oder Fragen gibt, bei denen man im konkreten Einzelfall den Verstand abschalten kann und sich auf die Weltanschauung berufen darf. Jede Weltanschauung die das Gegenteil (für bestimmte Fragen) behauptet ist schlecht (und würde von Ihnen vermutlich als Ideologie bezeichnet). Für Gläubige: Gott hat uns nicht den Gefallen getan eine Weltanschauung oder Religion zu ermöglichen, die es uns gestattet den Verstand auszuschalten. Für Atheisten: kann das Gesagte sicher umformuliert werden.
Bei den weiteren Punkten bin ich mir nicht mehr so sicher, wie weit Sie zustimmen:
(4) Grundsätzlich ist nichts dagegen zu sagen, wenn eine Weltanschauung auch Regeln für das tägliche Leben aufstellt (z.B. kein Alkohol trinken, kein Schweinefleisch essen, kein Atomstrom ). (5) Nur ist bei solchen Regeln zu beachten, dass (a) noch mehr als bei den Kernaussagen (siehe oben) die Regeln nicht das Nachdenken ersetzen dürfen, (b) die Regeln möglicherweise nur zu bestimmten Zeiten und bestimmten Lebensverhältnissen Sinn machen und deshalb gelegentlich überprüft und angepasst werden sollten, und (c) die Regeln keinesfalls auch Menschen aufgezwungen werden dürfen, die nicht die gleiche Weltanschauung haben.
Möglicherweise sagen Sie, dass Sie solche Regeln nicht als Teil einer Weltanschauung sehen. Damit hätten Sie vermutlich Recht, aber sie sind deswegen natürlich auch nicht Teil einer Ideologie. [8.4.2011]
PH: Ich denke, wir haben ziemlich umfassend zum Ausdruck gebracht, was sich allgemein zu den Themen Weltanschauung und Ideologie sagen lässt. Ich ziehe aus unserer Diskussion die Lehre, mich in Zukunft dieser allgemeinen Begriffe zu enthalten und Aussagen auf spezifische Situationen zu beschränken.
Mir kommt es darauf an zu erkennen, ob eine Aussage einer individuellen Überzeugung entspricht oder ob sie lediglich opportun hinsichtlich einer vorgegebenen Meinung ist. Was die praktische Seite betrifft, also das Verhalten in einer spezifischen Situation, unterscheide ich zwischen unbewussten oder bewussten Verhalten. Unbewusstes Verhalten mag auch (neben Emotionen) auf Gewohnheiten beruhen, die vorteilhaft oder nachteilig sein können. Verhaltensregeln werden gewählt, damit sie hilfreich sind, das Leben zu gestalten. Verhaltensregeln werden sich stets für denjenigen als hilfreich erweisen, der die Regeln macht.
Für Christen gilt: Moses hat dem Menschen die zehn Gebote gegeben. Jesus hat den Menschen zu moralischem Verhalten aufgerufen (Bergpredigt). Für Atheisten gilt: Die Natur hat den Menschen im Laufe der Evolution mit einem Gehirn ausgestattet, das es dem Menschen ermöglicht, das Leben für ihn vorteilhaft zu gestalten. Den Umständen entsprechend wird er sich egoistisch oder kooperativ verhalten. Entsprechend wird er Regeln kreieren.
PS. Alle gutwilligen Überzeugungen und die Verabschiedung der UN Menschenrechte haben bisher nicht vermocht, vielen Menschen Hunger und Kriege zu ersparen. Der Kampf um Menschenrechte, vor allem um menschenwürdige und sozial ausgewogene ökonomische Verhältnisse, muss weitergehen. Vielleicht helfen ja auch Worte. [11.4.2011]