Freitag, 13. Januar 2012

Angeboren oder erlernt – über den Ursprung geistiger Fähigkeiten

Die Frage, ob alle unsere geistigen Fähigkeiten das Ergebnis eines individuellen Lernprozesses sind oder doch eher ererbt sind, ist uralt. Die Antwort ist auch schon lange bekannt und lautet: Sowohl als auch. 
 
Man sollte meinen, dass durch die Forschungsergebnisse der letzten Jahrzehnte die Grenze zwischen Veranlagung, also den Genen, und Umwelteinflüssen immer genauer gezogen wurde. Dem ist nicht so. Die Dinge werden immer unklarer. Beispiele aus der Tierwelt belegen, dass es oft erstaunliche Fähigkeiten sind, die angeboren zu sein scheinen. So kennt ein Zugvogel den Weg nach Afrika, auch wenn er nie einen Artgenossen gesehen oder gehört hat. Im Bereich physischer Fähigkeiten beeindruckt ein junges Fohlen, das am Tag seiner Geburt auf seine (noch etwas staksigen) Beine springt und das Gelände erkundet. Wir Menschen können da nur neidisch sein.

 
Das Gehirn eines neugeborenen Kindes ist kein weißes Blatt, sondern vorstrukturiert. Es besitzt eine große Menge von Zellen, nur ist die Zahl der Verbindungen (Axone) zwischen ihnen noch relativ gering. Im Moment seiner Geburt, in dem es zum ersten Mal schemenhafte Konturen im Tageslicht wahrnimmt, werden weitere Verbindungen  hergestellt. Das setzt sich täglich fort. Es werden immer wieder neue Verknüpfungen erzeugt bis ins hohe Alter hinein. Solche, die später nicht benutzt werden, sterben wieder ab.

 
Die Fähigkeit zu lernen, ist in jedem Neugeborenen vorhanden. Sie geht über das bloße Nachahmen hinaus. Sie kann verbessert werden oder verkümmern. Die Gene legen auch für die geistigen Fähigkeiten eine Grundausstattung fest. Gene sind wie interpretierbare Unterprogramme. Sie können von unterschiedlichen Programmen (Genkaskaden) aufgerufen werden oder ihrerseits andere Programmeinheiten benutzen. Das Ganze ist das Ergebnis nicht einer systematischen Planung, sondern einer zufälligen Bastelei, die sich über Millionen von Jahren erstreckte. Was dabei herauskam, ist allerdings erstaunlich.

 
Noch weiß man nicht im Einzelnen. welche Funktionen von welchen Genen gesteuert werden. Die 1:1-Zuordnung zwischen Gen und Merkmal ist eher die Ausnahme. Vor allem sind es nicht einzelne Gene, die eine komplexe Funktion bestimmen, sondern Gruppen von Genen. Auch weiß man heute, dass nicht nur diejenigen Gene von Bedeutung sind, die den Bau von Proteinen steuern. Das sind beim Menschen etwa 30.000 Gene und stellen etwa 2% des DNA-Materials jeder Zelle dar. Die übrigen 98% galten lange Zeit als so genannter "DNA-Schrott".

 
Die Umgebung, in der eine Zelle existiert, bestimmt, welche Gene an- oder ausgeschaltet (exprimiert) werden. Dieser Mechanismus verleiht dem ganzen Geschehen eine unglaubliche Flexibilität. Auf diese Weise erhält die Umwelt fast den gleichen Stellenwert wie die Veranlagung. Erst das Zusammenspiel beider Einflüsse ergibt das Gesamtbild. Die im Titel angedeutete Streitfrage ist daher weit offen. Was diese neuen Erkenntnisse für die Lehre und Ausbildung bedeuten, kann noch niemand sagen. Vielleicht weiß man in zwanzig Jahren mehr darüber.

 
Angeregt wurden diese Gedanken von einem Buch des New Yorker Psychologen  Gary Marcus von 2005 mit dem provokanten Titel ‚Der Ursprung des Geistes. Wie Gene unser Denken prägen‘. Es nimmt mit Recht nur in Anspruch, ein Zwischenbericht zu sein. Dabei ist Geist nach der Definition seines Lehrers Steven Pinker, das was das Gehirn tut.

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