Dienstag, 31. Januar 2012

Lohnt sich eine Diskussion über ‚Grand Challenges‘?

Mein Kollege Peter Mertens schickte mir dieser Tage einen Institutsbericht [3], in dem er vorschlug, dass sich die Wirtschaftsinformatik mit dem Thema der Großen Herausforderungen (engl. Grand Challenges) befasse. Da ich mich früher auch mehrfach mit dieser Frage beschäftigt hatte, las ich seine Ausführungen mit Interesse. Ich kann diese Initiative nur begrüßen. Ich kann mir ehrlich gestanden nicht vorstellen, wieso ein Fach, dessen Forschungen ernst genommen werden wollen, darauf verzichten kann. In [2] schrieb ich:

Eine Diskussion von großen Herausforderungen könnte bewirken, dass auch bei uns der Begriff der Grundlagenforschung neu durchdacht wird. Diese hat manchmal den Beigeschmack eines weltabgewandten Bemühens, das Wissen auf Vorrat liefert, dessen Wert sich vielleicht später einmal herausstellt. Neues Wissen um seiner selbst willen zu generieren, mag zwar ein hehres Ziel sein. Die Frage ist nur, ob öffentliche Mittel nicht besser für Dinge eingesetzt werden, die zumindest langfristig Nutzen für die Menschheit versprechen. 

Die Arbeit von Mertens/Barbian wirft zumindest zwei Fragen auf  bzw. beantwortet sie nicht ganz vollständig oder befriedigend. Es sind dies einmal die Frage nach der Natur von Großen Herausforderungen und zum andern die Frage, was die Kerninformatik eigentlich in dieser Hinsicht tut.

Zur Natur von Großen Herausforderungen

Im Mittelpunkt sollte die Frage stehen, welche Ergebnisse von Forschung und Entwicklung man mittel- bis langfristig haben möchte. Es muss ein allseits anerkanntes Problem existieren, für das man mindestens eine Lösung haben möchte. Welche Lösung es zuerst schafft, ist sekundär, ebenfalls wie der Weg aussieht, der dort hinführt. Natürlich sollte das Nutzen-Kosten-Verhältnis nicht zu schlecht sein. Als Kosten sind hier an erster Stelle die Kosten der Anwendung gemeint, aber auch die F&E-Kosten sollten nicht den üblichen Rahmen sprengen.

In Tab. 1 habe ich drei der Initiativen aus der Informatik nebeneinandergestellt, die auch Mertens erwähnt. Aus Deutschland stammt der linke Vorschlag von ITG und GI/FB6 für die Technische Informatik. Aus England stammt der Informatikvorschlag in der Mitte. In der rechten Spalte ist der Vorschlag von Mertens/Barbian wiedergegeben. Ich habe diese Darstellung gewählt, weil sich daran gut zeigen lässt, wo es Überlappungen gibt. In der Aufstellung habe ich drei Überlappungspaare identifiziert. Zwei davon betreffen Technische Informatik und Informatik, eine davon Technische Informatik und Wirtschaftsinformatik. Das ist zwar wenig, aber kein Grund zur Kritik.


 
      Tab. 1: Vergleich von drei Vorschlägen


Die zwei deutschen Vorschläge enthalten Beispiele, bei denen man den Eindruck hat, dass die Art der gewünschten Lösung im Vordergrund stand und nicht das Problem. Bei der technischen Informatik sind dies die Nummern 4, 6 und 7. Bei der Wirtschaftsinformatik ist es Nummer 6. Nur so viel: Es ist kein Wertmaßstab für eine Lösung, ob sie menschenähnlich ist oder nicht. Die Nachahmung der Natur kann bei der Findung einer Lösung manchmal mehr stören als helfen. Das klassische Beispiel ist das Fliegen. Der Mensch lernte erst wirklich fliegen, als er sich von dem Vorbild des Vogelflugs freimachte.

Wo sieht die Kerninformatik ihre Großen Herausforderungen?

Der hier zitierte Vorschlag von Hoare/Milner steht für die Kerninformatik. Schon bei seiner Veröffentlichung vor sieben Jahren wurde Kritik laut. Es seien eher Themen aus der Biologie aufgelistet als solche, die Informatiker lösen können. Würde man weitere Themen aus der Informatik hinzufügen, kämen vermutlich auch mehr Überlappungen mit den beiden andern Gebieten zustande. Eine Überlappung muss nicht bedeuten, dass hier Doppelarbeit stattfindet. So kann es unterschiedliche Lösungen für dasselbe Problem geben, etwa eine in Hardware oder eine in Software.

Ein Vorschlag, der für die Informatik stehen kann, muss sich in zweierlei Hinsicht von denen der ITG und der Wirtschaftsinformatik unterscheiden. Er darf sich nicht auf Probleme beschränken, die nur mittels Hardware gelöst werden können. Anderseits darf er seine Relevanz nicht aus einem einzelnen Anwendungsgebiet oder einer Branche ableiten. Viel schwieriger ist es, Probleme zu identifizieren, an deren Lösung nicht bereits gearbeitet wird. Dazu gehören alle Probleme, die Praktiker interessieren. Sie halten ohnehin nur Ausschau nach Technologien, die spätestens in 4-5 Jahren Marktreife erlangen. Tab. 2 ist das letzte Beispiel einer solchen Technologie-Prognose, die ich wagte. Wieweit sie eintraf, will ich hier nicht diskutieren.



    Tab. 2: Technologie-Prognosen von 2006 [1]

Ohne einer eventuellen Diskussion innerhalb der Informatik vorzugreifen, möchte ich dennoch einige Kandidaten für Große Herausforderungen nennen. Sie sollen hier hauptsächlich zur Illustration dienen.
  • Bedarf, Ausnutzung und Speicherung elektrischer Energie für alle Informatikgeräte um eine Größenordnung verbessern. Beispiel: Notebook mit Knopf-Batterie für mehrere Jahre.
  • Globale Positionsbestimmung mit Genauigkeit im Millimeterbereich ermöglichen. Beispiel: Fernmontage oder chirurgischer Eingriff
  • Sprachübertragung und –erkennung über große Entfernungen (z. B. Kontinente) mit automati-scher Identifikation des Sprechers oder Senders
  •  Interpretation der Gehirnströme zwecks Steuerung von Geräten und Erfassung von Gedanken, mit besonderem Bezug zu Alsheimer-Erkrankungen
  • Interpretation von Texten und Bildern vermöge eines sukzessiven Aufbaus semantischer Mo-delle
  • Selbststeuerung von Maschinen bei der Wissensakquisition und dem selektiven Vergessen
  • Erstellen von Programmen ohne Programmierung, ausgehend von Beispielen
Diese Liste lässt sich fortsetzen. Interessant ist, was nicht erscheint. Dazu gehören bekannte Forschungsschwerpunkte.

Wirtschaftliches Potenzial

 
Es wäre falsch, von den Hochschulen oder gar der Regierung zu erwarten, dass sie das ökonomische Potenzial von Erfindungen erkennen und auswerten können. Zum Schluss des Beitrags [2] hieß es:


Ein Hochlohnland wie unseres hat nur dann eine Chance im weltweiten Wettbewerb zu bestehen, wenn hier neue Ideen und neue technische Konzepte schnellstmöglich in Innovationen überführt werden. Niemand kann sich dauernd nur an anderen bereichern, ohne dass er eigene Beiträge leistet. In der modernen Wirtschaft sind Innovationsförderung und Technologie-Management nichts weniger als Teil einer Überlebens-Strategie. … Das technische und wirtschaftliche Potenzial der Informatik und Informationstechnik ist riesig. Wir haben gerade erst damit begonnen, es auszuschöpfen. Allerdings müssen wir das Problem lösen, mehr Visionen in Produkte zu überführen. Dafür müssen diese Visionen aber in die Köpfe von Machern kommen, also von Leuten, die nicht nur darüber reden. Gemeint sind mutige, noch etwas hungrige Unternehmer, die sich Visionen zu Eigen machen.

Das Beispiel von Steve Jobs und Apple, das ich in letzter Zeit mehrmals hervorgehoben habe, beweist, dass der erfolgreiche Unternehmer nicht selbst alle nötigen Erfindungen machen muss. Er muss vielmehr erkennen, welche Erfindungen zur Lösung welcher Probleme nutzbar gemacht werden können. Er muss wissen, oder ein Gefühl dafür haben, was Menschen sich wünschen. Große Herausforderungen sind für Unternehmen günstigstenfalls als Warnzeichen zu werten.


Literatur

  1. Endres, A.: Über Wesen und Wert technischer Prognosen in der Informatik. In: Visionen der Stuttgarter Informatik. Broschüren des Informatik-Forum Stuttgart 2006, 83-92
  2.  Endres, A.: Visionen und Herausforderungen in der Informatik. Informatik – Forschung und Entwicklung‘ (IFE), Heft 21,3 (2007), 213-218
  3. Mertens, P., Barbian, D.: Materialien zum Forschungs- und Diskussionsthema „Grand Challenges“. Universität Erlangen-Nürnberg, Wirtschaftsinformatik I; Arbeitspapier 1/2012

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