Christoph Meinel gab im März 2011 das erste Interview eines Fachkollegen für diesen
Blog. Er ist Informatik-Professor
an der Universität Potsdam und leitet das Hasso-Plattner-Institut (HPI) für Softwaresystemtechnik. Er ist
Autor von zehn Fachbüchern und 400 Fachpublikationen in den Bereichen
Internet-Technologie, effiziente Algorithmen und Datenstrukturen und
Komplexitätstheorie, sowie im Bereich Innovationsforschung. Er war
Informatik-Professor an der Uni Trier und Leiter des dortigen Instituts für
Telematik. Meinel hat an der Humboldt-Universität zu Berlin in Mathematik
promoviert.
Bertal Dresen (BD): Als ‚Massive Open Online Course‘ (Abk.
MOOC) bezeichnet man eine spezielle Form von Online-Kursen mit sehr vielen
Teilnehmern. Die Anfänge lagen ̶
wie so oft ̶
in den USA. Zuerst engagierten sich die Universitäten Stanford und MIT. Sie
erzielten Teilnehmerzahlen, von denen andere Kursformen nur träumen können. MOOC
enthält das Versprechen, qualitätsvolle universitäre Bildung kostengünstig oder
sogar kostenlos weltweit verfügbar zu machen. Seit einigen Monaten bietet auch Ihr
Institut, das Hasso-Plattner-Institut in Potsdam, mehrere MOOCs an. Wie kam es
dazu? Was sind Ihre Überlegungen und Ziele? Welche Art von Kursen bieten Sie
an? Welche nachhaltigen Wirkungen erhoffen Sie für Ihr Institut, abgesehen vom
Werbeeffekt und der Möglichkeit zu experimentieren?
Christoph Meinel (CM): Dank
langjähriger Beschäftigung mit der Materie des Online-Lernens – Entwicklung des
inzwischen von Dell lizensierten mobilen tele-TASK Technik zur Aufzeichnung von Vorlesungen,
Betrieb des Vorlesungsportals, die
Entwicklung verschiedener virtueller Labore (Tele-Lab,
SOA-Security) und reguläre Vorlesungsübertragungen
an die TU Peking – haben wir sehr schnell die Bedeutung des MOOC-Phänomens und
die Kernpunkte der MOOC-Innovationen für das Online-Lernen erkannt:
Synchronisation der Lernenden, häppchenweise Bereitstellung der
Lehrmaterialien, Bereitstellung leistungsfähiger Feedback-Tools zur Selbst- und
Fremdbewertung des Lernerfolgs und die Verkopplung mit einer sozialen
Plattform, die den Lernenden hilft, sich als Teil einer (wenn auch nur
virtuellen) sozialen Lerngemeinschaft zu erleben. Um diesen Ansatz selbst zu
erproben und mit ihm das hoch gerankte Lehrangebot unseres
Hasso-Plattner-Instituts (HPI) auch einer interessierten Öffentlichkeit über
das Internet zugänglich zu machen, haben wir die interaktive
Online-Bildungsplattform openHPI ins Leben
gerufen.
BD: Die Planung und die Entwicklung
eines MOOC stellt bestimmt eine Menge neuer Anforderungen an ein durchführendes
Institut. Könnten Sie diese kurz beschreiben? Welche Lehr- und Lernstrategien stehen
zur Wahl? Was machte Ihnen die größten Schwierigkeiten? Könnten Sie etwas zu dem
Aufwand sagen? Ich gehe davon aus, dass der Lernstoff bereits vorliegt, z.B. in
Form von Lehrbüchern, Skripten und Aufgabensammlungen.
CM: Tatsächlich ist ein solchen Unterfangen mit einigem Aufwand
verbunden und verlangt ein besonderes Engagement auf verschiedenen Ebenen:
Zunächst braucht es die Hardware, auf der solche interaktiven MOOC-Kurse laufen
können, mit vielen Tausend Teilnehmern, die z.B. alle in der letzten Minute vor
der Deadline die Hausaufgaben abgeben. Das ist z.B. die Statistik meines ersten
Internetworking-Kurses vom Ende letzten Jahres:
Dann braucht es eine Plattform, auf der die Lernvideos und
Kursmaterialien eingestellt, die Interfaces für die Selbsttests, Hausaufgaben
und Abschlussklausur bereitgestellt und deren automatische Korrektur realisiert
werden. Hier haben wir zunächst mit einem umgebauten Lernmanagementsystem Canvas gearbeitet, dessen Performance
aber der massenhaften Nutzung nur ungenügend gerecht wird. Wir haben deshalb
mit unseren hochmotivierten HPI-Studenten eine eigene Entwicklung gestartet und
hoffen, diese Ende des Jahres in Betrieb nehmen zu können.
Schließlich müssen die Online-Kurse selbst konzipiert werden, die
Lernmaterialien produziert, also die Lernvideos aufgenommen, Fragen für die Selbsttests,
Hausaufgaben und Klausuren entworfen und dann, nach Start des Kurses, die
Diskussionen im Forum begleitet werden. Natürlich wählen wir hier den
Unterrichtsstoff nach unseren Erfahrungen in der Offline-Lehre aus – sowohl im
Hinblick auf die Stoffauswahl als auch im Hinblick auf die didaktische
Aufbereitung. Aber jedes Medium hat seine ganz eigenen Möglichkeiten und
Anforderungen, und es ist spannend, diese zu erschließen.
BD: Die Präsentation und Durchführung eines MOOC
stellt natürlich weitere Anforderungen. Sofern Sie möchten, können wir uns
im Folgenden auf den gerade zu Ende gegangenen Kurs ‚Web-Technologien‘
beschränken. Was sind die entscheidenden Software-Produkte und Plattformen,
die zur Anwendung kamen? Spielte die Leistungskapazität oder die
Zuverlässigkeit der benutzten Informatiksysteme eine Rolle? Welche Werkzeuge
bewährten sich? Welche Dinge überraschten Sie?
CM: Ich hatte die Plattform schon erwähnt. Die ist wichtig in
Bezug auf Fragen der Performance, aber auch der Interaktionsmöglichkeiten, z.B.
bei den Selbsttests. Die zurzeit von uns noch genutzte, stark umgebaute
Canvas-Plattform hat da ihre Grenzen. Das war ein Grund für unsere engagierten
Informatiker, nicht nur über einen Neubau nachzudenken, sondern diesen auch in
Angriff zu nehmen. Wir haben da viele Ideen, insbesondere wollen wir die
Bildung virtueller (also über das Internet verteilt agierender) Lernteams unterstützen,
die Selbstreflexion des Lernergebnisses nicht nur durch Faktenabfrage
unterstützen sondern durch praktisches Arbeiten in virtuellen Laboren usw.
Bei den Aufnahmen können wir auf unser bewährtes tele-TASK System zurück greifen, mit dem
wir mobil die Lernvideos aufzeichnen können, die synchron zwei Quellen
einbinden: das Video des Dozenten und den vom Dozenten für seinen Unterricht
genutzten Desktop. Bei Nutzung des zugehörigen tele-TASK-Browsers können dem
Lernenden verschiedene neuartige Navigations-Features angeboten werden ̶ dank
des Einsatzes von am Lehrstuhl entwickelten semantischen Analysetools.
BD: Was lässt sich bisher über das erzielte Lern-Ergebnis sagen? Wie messen Sie es? Können
Sie es mit den Ergebnissen traditioneller Lernmethoden vergleichen? Gab es
konkretes Feedback, das es Ihnen erlaubt, das Angebot zu verbessern? Sind MOOCs primär als berufliche Weiterbildung zu sehen oder als Vorlesungsersatz, oder gar nur als Zeitvertreib für Jugendliche und Rentner?
CM: Für uns ist es sehr überraschend zu sehen, mit welchem
Engagement und mit welch hohem Einsatz die Kursteilnehmer unterwegs sind. Die
Aktivitäts-Statistik zum gerade beendeten Kurs ‚Web-Technologien‘ sieht sehr
ähnlich aus wie die des Internetworking-Kurses. Interessant ist die relativ
hohe Erfolgsrate bei denjenigen, die einen Kursabschluss mit Zertifikat
anstreben. Wir liegen da bei allen bisherigen Kursen in einem Bereich zwischen
15 und 20 Prozent, also weit höher als amerikanische Kurse, wo die
Abschlussrate bei etwa einem Prozent liegt. Das gleiche gilt für den Anteil der
aktiven Teilnehmer (mindestens jeweils eine Hausaufgabe und ein Diskussionsbeitrag),
hier liegt die Rate bei über 50 Prozent.
Auch ist die Altersstruktur der Teilnehmer interessant: Das Gros der
Teilnehmer ist 30 bis 40 Jahre alt. In den verschiedenen Altersgruppen ist der
Anteil derjenigen, die mit Zertifikat abschließen, besonders hoch in der
Altersgruppe der 40-50-Jährigen. Sie sehen: MOOCs sind kein Jugendphänomen.
Ein Vergleich mit traditionellen Lernmethoden ist schwer zu ziehen.
Eher kann man die Erfolge traditioneller E-Learning Angebote vergleichen mit
denen von MOOCs. Haben bei den Ersteren lediglich autodidaktisch veranlagte
Lerner aus dem E-Learning-Angebot Nutzen ziehen können, so sprechen MOOCs einen
vielen größeren Kreis an. Die Organisation einer virtuellen Lerngemeinschaft,
in der sich interessierte Lerner einen neuen Lernstoff erarbeiten können, macht
den großen Unterschied aus.
BD: Es interessiert mich sehr, etwas über die Teilnehmer des erwähnten Kurses zu erfahren. Außer Potsdamer Studierenden
haben vermutlich viele Externe und Fachfremde teilgenommen. Mit wie vielen
Teilnehmern begann der Kurs? Wie viele hielten die sechs Wochen bis zum Ende
durch? Wo in der Welt befanden sich die Teilnehmer? Welche Vorbildung besaßen
Sie, falls bekannt? Kamen Teilnehmer aus Ländern, die Sie nicht erwartet hatten?
Wie hoch war der Anteil derer, die an den Selbsttests, den Hausaufgaben und der
Klausur teilnahmen? Was schließen Sie daraus, sowohl für diesen Kurs als auch
für MOOCs allgemein? Erkennen Sie erfolgreich absolvierte MOOCs als Studienleistung an?
CM: Hier die Statistik (Stand 18.07.2013) zum Web-Kurs, der
gerade zu Ende geht und bei dem die Klausur noch geschrieben werden muss. Deshalb
steht auch die Zahl der erlangten Zertifikate noch nicht fest.
Wir können weiter eindeutig feststellen, dass die Teilnehmer in diesem Fall aus insgesamt 58 Ländern kommen, was bei einem deutschsprachigen Kurs schon erstaunlich ist. Rechnet man alle bislang angebotenen Kurse zusammen, kommen wir auf mehr als 110 Länder, aus denen unsere Teilnehmer stammen.
Wir können weiter eindeutig feststellen, dass die Teilnehmer in diesem Fall aus insgesamt 58 Ländern kommen, was bei einem deutschsprachigen Kurs schon erstaunlich ist. Rechnet man alle bislang angebotenen Kurse zusammen, kommen wir auf mehr als 110 Länder, aus denen unsere Teilnehmer stammen.
Die Frage, inwieweit MOOCs im Studium einen Vorlesungsersatz bieten
können, haben wir bei openHPI so beantwortet, dass wir keine Kreditpunkte
vergeben. Andernfalls müsste man z.B. die Berechtigung zur Zulassung für ein
Universitätsstudium kontrollieren oder die Klausuren unter physischer Aufsicht
schreiben lassen. Wir zumindest streben das nicht an, sondern wollen aus der
Lehre des HPIs Lernangebote für alle Interessierten anbieten. Natürlich freuen wir
uns, wenn diese, wie die Zahlen zeigen, auch angenommen werden. Selbstverständlich: Auch wir wollen und müssen weiter lernen, das Angebot
medien- und nutzergerecht aufzubereiten und interessieren uns als Informatiker
in unserer Begleitforschung besonders dafür, mit welchen neuen IT-Features wir
das Lernen im Netz weiter beflügeln können.
BD: Wie Sie wissen, habe ich als Lernender an dem oben
erwähnten Kurs teilgenommen. Mich beeindruckten die Stoffmenge, deren
Aktualität, die gute Organisation und der Praxisbezug. Ab und zu verfolgte ich
auch die lebhaften Diskussionen zwischen den Teilnehmern und Ihrem Team. Nicht
alle Themen lassen sich immer völlig ohne Emotionen und ohne Meinungsäußerung
abhandeln. Mich selbst ̶
und einige andere Teilnehmer ̶ störte es etwas, dass Sie uns de facto zwangen,
einen bestimmten Browser zu installieren. Was hat Sie als Lehrender beeindruckt
bzw. enttäuscht? Was machte Ihrem Team am meisten zu schaffen? Welche
allgemeinen Lehren haben Sie gezogen? Werden Sie diese Art von Kursen weiter
anbieten?
CM: Zunächst vielen Dank für das Kompliment. Wir versuchen im
Rahmen der begrenzten (Zeit-) Ressourcen, interessante und ansprechende
Kursangebote zu konzipieren und zu „produzieren“. Im Verlauf eines Kurses sind dann
allerdings die Diskussionen das Herzstück und machen diesen zu einem einmaligen
(Lern-) Event. Da gibt es große Unterscheide zwischen den verschiedenen Kursen,
je nachdem, wer mitmacht. Schade finde ich den manchmal etwas rauen Umgangston,
wenngleich wir versuchen, den nicht zu persönlich zu nehmen. Es ist manchmal
schon erstaunlich, mit welcher Robustheit ans Werk gegangen wird, ohne darüber
nachzudenken, dass das alles kostenlos ist und dass die Mitglieder des Teaching
Teams den mit der Durchführung eines MOOCs verbundenen immensen Vorbereitungs-
und Durchführungsaufwand zusätzlich zu ihren eigentlichen Aufgaben am HPI
leisten. Übrigens ist der Umgangston in den englischen openHPI-Kursen sehr viel
höflicher als in den deutschsprachigen.
Zur Frage des Browsers: In Woche 2 des Kurses gab es tatsächlich
ein Tutorial, in dem der Firefox-Browser benutzt wurde. Um bestimmte
Lehrinhalte (Veränderung des HTTP-Headers) zu vermitteln, war das aus
technischen Gründen notwendig, weil der Firefox-Browser im Unterschied zu
anderen Browsern dies auf einfache Weise durch eine Browsererweiterung
ermöglicht. Diese Erweiterung war dann auch notwendig, um eine Frage der Hausaufgabe
in Woche 4 zu beantworten, wobei man für die richtige Beantwortung nur 4 von
180 Punkten erzielen konnte, die sich
bequem über die angebotenen Bonusaufgaben ausgleichen ließen. In einem
anderen Tutorial haben wir dann bewusst einen anderen Browser eingesetzt, um
solche Vorwürfe erst gar nicht aufkommen zu lassen.
BD: Vielleicht haben Sie sich auch Gedanken darüber gemacht,
wohin MOOCs führen können. Einerseits gibt es die üblichen Sorgen wegen des
Aufwands, der Kosten und der noch unbekannten Konsequenzen. Andererseits sind
einige, vor allem amerikanische Kollegen, geradezu euphorisch. Neulich meinte jemand,
dass man bald Kurse nicht nur für Millionen sondern für Milliarden Teilnehmer
anbieten könnte. Das geht vermutlich zu weit. Was ist realistischer Weise für
die nächsten fünf bis zehn Jahre zu erwarten? Gibt es für MOOCs ein
Geschäftsmodell, mit dem sich Geld verdienen lässt? Erleben wir nach Radio,
Film, Fernsehen und früheren computer-basierten Ansätzen mal wieder eine didaktische
Revolution? Wird demnächst jede Schule in Deutschland begeisternde Kurse von Nobelpreisträgern
anbieten?
CM: Natürlich wecken wichtige neue Entwicklungen – und um eine
solche handelt es sich ganz sicher bei den MOOCs – immer bei den Einen Euphorie
und bei den Anderen Ängste. Wir selbst sind getrieben durch die Überzeugung,
dass sich hier etwas ganz Wichtiges entwickelt, das E-Learning (zum ersten Mal)
wirklich praxistauglich macht. Und diese Überzeugung motiviert uns alle, die
wir bei Design und Implementierung der Plattform mitwirken, die Kurse
inhaltlich konzipieren, vorbereiten, inhaltlich begleiten und in der Forschung
untersuchen ̶ die Teilnehmerzahlen
lassen erstmals statistisch relevante Untersuchungen zu. Wir wollen als
Pioniere diese Entwicklung im Bereich des Online-Lernens vorantreiben.
BD: Herr Meinel, haben Sie vielen herzlichen Dank für die
schnelle und ausführliche Beantwortung meiner Fragen. Mit der Schnelligkeit
sind Sie einsame Spitze. Aber auch die Detailangaben aus der Praxis sind sehr
interessant. Neben vielen anderen ist sicher Ihre Erkenntnis bedenkenswert, dass
deutschsprachige Kursteilnehmer in punkto Höflichkeit im Vergleich zu den
englisch-sprechenden Teilnehmern schlecht abschneiden! Eine mögliche Erklärung für mich wäre, dass Ihre Englisch-Sprecher vorwiegend Asiaten sind (Chinesen,
Inder und Japaner).