Im Jahre 1962, also vor über 50 Jahren erschien Friedrich Dürrenmatts
Komödie ‚Die Physiker‘, Es wurde zum erfolgreichsten deutsch-sprachigen
Bühnenstück der Nachkriegszeit. Für diejenigen Leser, die es nicht oder nicht
mehr kennen, hier eine kurze Andeutung. Ein deutscher Physiker namens Möbius,
der in seiner Dissertation die von Albert Einstein nicht erreichte Vereinigung
von Gravität und Relativität geschafft hat, verzichtet auf seine ihm sichere wissenschaftliche
Laufbahn und begibt sich freiwillig in eine Nervenklinik. Er lebt in einer von ihr betriebenen
Villa. Er gibt an, Besuche des biblischen Königs Salomon zu bekommen. Die gut
ausgestattete, auf Neubauten und alte Villen verteilte Klinik steht unter der
Leitung einer spleenigen Neurologin aus einer alten Offiziersfamilie. Nach zehn
Jahren haben in derselben Villa zwei weitere ehemalige Physiker Aufnahme
gefunden. Sie geben an, sich für Newton und Einstein zu halten. Es kommt zu
dramatischen Ereignissen. Soviel zunächst dazu.
Bei Bernd-Olaf
Küppers, dem Autor des letzten Physik-Buches, das hier besprochen wurde,
tauchte auch der Name Manfred Eigen auf, seines akademischen Lehrers. Küppers
meinte, dass dessen Vorstellung, wie Leben entstanden sei, immer mehr Anhänger
fände. Dies war der Grund, warum ich mich nochmals mit dem Nobelpreisträger Manfred Eigen
(*1927) beschäftigte. Eigen hat 1967 den Nobelpreis für Chemie erhalten. Er
leitete in Göttingen das Max-Planck-Institut für biophysikalische Chemie. Ich hörte
zunächst das Interview mit Gerd
Scobel und las dann sein 1975 erschienenes, mit Ruthild Winkler zusammen
verfasstes Buch ‚Das
Spiel – Naturgesetze steuern den Zufall‘.
Weltbild des Manfred Eigen
Das Buch ist fast 40 Jahre alt und hat mich dennoch fasziniert. Über
einige seiner Fragen oder Ideen lohnt es sich auch heute noch nachzudenken. Im
Titel steckt schon die wesentliche Aussage. Auf zwei Säulen beruht alles was
geschieht, dem Zufall oder dem Gesetz. Im subatomaren Bereich wie in der
Thermodynamik dominieren rein statistische Gesetze. Nur wegen der großen Zahlen
erscheinen diese Zufälligkeiten als Kausalgesetze. Das Spiel der Natur ist
damit eine Dichotomie von Zufall und Notwendigkeit (S. 11). Die Wurzel der
Kausalität sei der Zufall (so zitiert er Erwin Schrödinger). Wie gering unser
Wissen ist, zeigt die Wetterkunde. Wetter entsteht ausschließlich nach Gesetzen
der Thermodynamik. Obwohl wir diese schon lange kennen, ist die langfristige
Wettervorhersage noch reine Glückssache (S. 303).
Zwischen Kräften und Gesetzen ersetzt das Spiel den Zwang (S.18). Das
Ziel aller Spiele der Natur ist das Gleichgewicht. Das Maß des Erreichten ist
die Entropie. Sie drückt die Folge der
binären Entscheidungen aus, die getroffen werden müssen, um eine Struktur zu
beschreiben. Ein vollkommenes Gleichgewicht gibt es nur in abgeschlossenen
Systemen (S. 169).
Durch die Evolutionslehre Darwins kamen Selektion und Wachstum hinzu.
Es entstanden der genetische Code und die anderen Sprachen, inklusive der des
Menschen. Der Mensch ist kein Irrtum der Natur, sondern ein Teilnehmer am
Spiel, dessen Ausgang offen ist. Er muss seine Fähigkeiten voll entfalten, um
nicht unterzugehen. Die Idee, Spiele mathematisch zu beschreiben, und sie auch
in der Natur zu erkennen zu versuchen, stammt von John von Neumann.
Eine Theorie setzt Abstraktion voraus. Sie sublimiert das Regelmäßige
und Reproduzierbare aus der Wirklichkeit und präsentiert es in idealisierter
Form. Sie gilt nur unter den definierten Voraussetzungen und Randbedingungen.
Die in der Mathematik zulässigen Abstraktionen (Punkt, Gerade, Unendlichkeit)
müssen in der Physik mit größter Vorsicht verwandt werden (S. 28).
Der Zufall hat seinen Ursprung in der Unbestimmtheit der
Elementarereignisse. Sie manifestiert sich in Heisenbergs Unschärfe-Relation.
Die Unschärfe-Relation erspart uns nur weitere Interpretationsversuche (S.37). Eine
Interpretation ist, was viele Gehirne in gleicher Weise abstrahieren. Wir
können zwar Planetenbewegungen prognostizieren, das Würfelspiel aber noch nicht
(so sagte es Popper). Wegen des Schüttelns wird es unmöglich, alle
Randbedingungen zu erkennen. Bei mikroskopisch kleinen Würfeln führen kleine
Störungen zu Bahnänderungen, bei Planeten jedoch nicht (S.38).
In frühen Stadien der Evolution konnten nur die Lebewesen überleben,
die von den von der Natur angebotenen Molekülstrukturen selektiv Gebrauch
machten (S. 43). Die Natur kombiniert Strategien, so dass Stabilität, Wachstum
und Variabilität erhalten bleiben. Das 'Survival of fittest' ist eine Tautologie.
Es überlebt, wer überlebt (S.74).
Die Gestalt des Lebens und der Ideen haben ihren Ursprung im Wechsel
von Zufall und Gesetz. Gestalt ist alles, was sich von der Rauschkulisse abhebt
(S.89). Es gibt konservative und dissipative Strukturen. Konservative Strukturen
pflanzen sich per Reproduktion fort. Dissipative Strukturen fügen externe
Energie hinzu. Sie können zu Hyperzyklen führen, sie haben einen Metabolismus. Die
Gestaltbildung erfolgt durch das Zusammenwirken konservativer und dissipativer
Strukturen (S.112).
Symmetriebrüche in der Physik deuten auf Lücken in unserem Verständnis
fundamentaler Zusammenhänge hin (so drückte es Hermann Weyl aus).
Alles, was Darwin lehrte, ist Physik (so Francis Crick). Die Ereigniskette,
die zu Leben führte, kann nicht im Experiment nachgebildet werden (S. 195). Die
Evolution ist ein Lernvorgang. Er beruht auf Gedächtnisleistungen (S. 317).
Manfred Eigen sieht keinen Grund, warum die Physik nicht auch das
Zentralnervensystem (ZNS) des Menschen erklären können soll. Dann könne man
auch Bewusstsein und Gefühle verstehen.
Wir kennen in der Mathematik exponentielles und hyperbolisches Wachstum.
Der Club of Rome (Meadows, Pestel) hat darauf hingewiesen, dass schon exponentielles
Wachstum alle endlichen Ressourcen überfordert. Hyperbolisches Wachstum führt
zu Kurven mit Nullstellen (Singularitäten). Der Mensch ist nicht dafür
geschaffen, in einer überfüllten Welt zu leben. Er schafft sich immer wieder Platz
(S. 247).
Das Leben ist auf der Erde nur einmal entstanden. Es benutzt überall den
gleichen Mechanismus und die gleichen Codeschemata für die Vererbung (S.262). Möglicherweise
waren Hyperzyklen erforderlich. Hyperzyklen sind Schleifen, die aus Schleifen
bestehen, d.h. in dem Zyklus A-B-C-A sind A, B, C Zyklen
Poppers drei Welten haben es Eigen angetan. Er sieht Welt 1 und Welt 3
als die objektiven, nur Welt 2 ist subjektiv. Immer wieder befasst sich Manfred
Eigen mit dem Informationsbegriff. Er bemüht sich, Shannons Leistung gebührend
zu würdigen. Aber er erkennt auch dessen Grenzen. Kann Information überhaupt
entstehen oder offenbart sie sich nur? Information sei eine Form der Irreversibilität,
ein nicht umkehrbares Ereignis. Ohne Sinnbewertung (Semantik) sei alles nur
Bruchstückwerk (S. 310). Da möchte ich (BD) hinzufügen: Leider sehen dies nur
wenige Physiker so, und kaum Mathematiker.
Auf eine Besonderheit des Buches sei nur ganz kurz verwiesen. Der Idee
John von Neumanns folgend, versucht Eigen alle Konzepte mittels Spielen zu
erklären. Es sind deren fast zwanzig. Mal sind es Einzelpersonenspiele, mal
Mehrpersonenspiele. Mal sind es bekannte Spiele, wie das japanische Go; mal
sind es neue, von ihm entworfene Spiele, wie das Evolutionsexperiment (S. 273).
Dürrenmatts Physiker
Da Manfred Eigen immer wieder auf Dürrenmatts Physiker Bezug nahm, habe
ich – wie angedeutet – das Stück gelesen. Es ist eine Tragikomödie, die mit
drei Morden beginnt. Jeder der drei Wissenschaftler erdrosselt die ihn betreuende
Krankenschwester. Die Polizei wird gebeten, wegen des Geisteszustands der
Patienten von einer Ermittlung abzusehen. Stattdessen geben sich ‚Newton‘ und ‚Einstein‘
als Spione gegnerischer Mächte zu erkennen. Sie waren auf Möbius angesetzt, um
an seine Entdeckung zu gelangen. Möbius überredet sie, ihr Versteckspiel weiter
zu betreiben, weil sie sonst wegen Mordes verklagt würden. Unmittelbar danach
erweist sich die Anstaltsleiterin als die wahre Irre. Sie glaubt, von König
Salomon den Befehl zur Beherrschung der Welt erhalten zu haben und will sich
dazu der Entdeckung des Möbius bedienen. Sie hat, während dieser schlief, dessen
Dissertation kopiert. Hier hört das Stück auf – für mich etwas überraschend.
Das Stück gibt Dürrenmatt Gelegenheit über das Theater, das Leben und
die Wissenschaft zu räsonieren – oder auf Deutsch, seiner Unzufriedenheit Luft
zu verschaffen. Theater und Leben können grotesk, also seltsam sein, ohne
absurd, also unsinnig zu sein. Alles was denkbar ist, wird einmal gedacht. Nur
im Irrenhaus sind wir wirklich frei. Man kann verrückt sein, aber weise,
gefangen, aber frei, Physiker, und doch unschuldig. Er legt Möbius in den Mund,
dass Physiker ihre Wissenschaft zurücknehmen müssen. Die Gesellschaft sei noch nicht
reif für sie. ‚Entweder löschen wir (Physiker) uns aus oder die Menschheit
erlischt‘. Schließlich steigert er sich zu der Aussage: ‚Der Inhalt der Physik
geht Physiker an, ihre Auswirkungen alle Menschen‘ und ‚Was alle angeht, können
nur alle lösen‘. Manfred Eigen bezeichnet den letzten Satz als Dürrenmatts
kategorischen Imperativ – wohl in Anlehnung an Kant.
Von Hiroshima bis Fukushima
Sowohl Dürrenmatt wie Eigen standen offensichtlich noch sehr unter dem
Eindruck von Hiroshima und Nagasaki. Manche Physiker empfanden, dass sich wegen
der Atombombe ihr ganzes Fachgebiet mit Schuld beladen hätte. Viele Physiker
wanderten ab in andere Gebiete, unter anderem in die Computerwissenschaften.
Seit beide schrieben, ist die Menschheit um eine Generation weiter. Wir haben
die Gefahr, die an die Wand gemalt wurde, nicht gebannt. Im Gegenteil. Wir
ließen uns immer mehr auf sie ein, glaubend, dass wir sie kontrollieren
könnten. Fukushima hat uns eines Besseren belehrt. Die Welt besteht zwar noch.
Aber ein Teil Japans ist unbewohnbar geworden. Eine Kanzlerin, die einmal in
Physik promoviert hatte, zog in Deutschland die Reißleine. Der Rest der Welt
glaubt, es besser zu wissen.
Die Physik ist das Menetekel. Diese Wissenschaft hat nicht nur ihre
Unschuld verloren. Sie verlor auch ihren Schwung. Mehrere Beiträge
dieses Blogs beschäftigten sich damit. Heute muss man außer vor Physik auch
vor Biologie und Teilen der Medizin warnen. Außerdem möchte ich hinzufügen,
dass ethische Grenzen weniger für Forscher als für Ingenieure gelten. Alles zu
wissen, ist weniger gefährlich als alles zu tun. Auch Biologen dürfen das
menschliche Genom zwar erforschen, aber nicht beliebig verändern. Dürrenmatt
beschreibt den Unterschied zwischen Technikern und Physikern, wenn er sagt, sie
gehen mit der (von uns entdeckten) Elektrizität um wie Zuhälter mit einer Dirne.
Manfred Eigen bringt die Fragen der Ethik so auf den Punkt: ‚Es gibt für
Menschen keine objektiven (aus der Natur ableitbaren) Gesetze. Sie benötigen
immer Hoffnung, Barmherzigkeit und Liebe‘ (S. 198)
Von Google bis zur NSA-Affäre
Wir Informatiker brauchen nicht auf die Physiker zu zeigen, um
klarzumachen, wohin menschliche Hybris führen kann. Die NSA, die plötzlich in
aller Munde ist, macht nichts anderes als was Google täglich Millionen Mal tut.
Sie versucht aus dem weltweiten Netz Wissen zu gewinnen. Der Chef der NSA hat angeblich
bei seinen Mitarbeitern den Beinamen Herrgott, da er alles zu wissen glaubt. Ob
und wie die Informatik sich Selbstbeschränkungen auferlegen muss, darüber
nachzudenken, fangen wir erst ganz langsam an.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen
Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.