Donnerstag, 27. März 2014

Was erklärt die theoretische Biologie?

Die Biologie ist die Wissenschaft des Lebendigen. Sie hatte lange Zeit den Ruf, eine unstrukturierte Sammlung empirischen Wissens über Blumen, Käfer, Vögel und dergleichen zu sein, also über die Mannigfaltigkeit des Lebendigen. Es gab so gut wie keine Theorie. Unter einer Theorie versteht man Aussagen, die dazu dienen, Ausschnitte der Realität zu erklären. Erklären bedeutet, die Frage zu beantworten, warum etwas passiert oder existiert. Das versetzt einen (im Allgemeinen) in die Lage, auch Prognosen über die Zukunft zu erstellen.

Das Buch von Heinz Penzlin mit dem Titel Das Phänomen Leben (2014, 340 S.) erhebt den Anspruch die theoretische Seite der Biologie zu behandeln. In den letzten Wochen haben drei Beitragende dieses Blogs das Buch gelesen: Peter Hiemann (PH) in Grasse, Hans Diel (HD) und ich (Bertal Dresen, BD) in Sindelfingen. Entsprechend unseren unterschiedlichen Interessen, heben wir einzelne Themen hervor und kommentieren auch das Buch unterschiedlich. In Form und Inhalt knüpfen wir an die Diskussion über John Mayfields Buch “Evolution as Computation“ Anfang des Jahres an.

Leben als Prozess (BD)

Das Leben ist  ̶  entgegen früherer Ansicht  ̶  kein Stoff. Es ist vielmehr ein programmgesteuerter Prozess, der in einem thermodynamischen System abläuft. Das System kann als Einzelzelle, Einzeller genannt, oder System von Zellen, Vielzeller genannt, organisiert sein. Man muss Leben als die Leistung von Systemen ansehen, nicht von deren Komponenten. Diese werden als Organismen bezeichnet und sind selbständige (teilweise aus präbiotischer Zeit stammende) Organisationsbestandteile. Mit ‚lebend‘ oder ‚lebendig‘ bezeichnet man den aktiven Zustand dieses Prozesses. Das Gegenteil heißt ‚tot‘.

Der Ort, an dem Lebewesen anzutreffen sind, ist die Biosphäre. Sie erstreckt sich als Hülle um die Erde, in einer Tiefe von etwa -11 km bis zu einer Höhe von +9,5 km. Außer dass die notwendigen Ressourcen (Wasser, Luft, Nährstoffe) zur Verfügung stehen, sind hier Druck und Temperatur in einem akzeptablen Bereich. Es gibt zwei Arten von Zellen, solche ohne Zellkern (Prokaryoten) und solche mit Zellkern (Eukaryoten). Die meisten Biologen sind heute der Meinung, dass Leben nur einmal und nur auf der Erde entstanden ist. Einzeller gibt es seit 3,85 Milliarden Jahren (84 % der 4,6 Milliarden Jahre Erdgeschichte), Vielzeller erst seit 1,2 Milliarden Jahren (26 % der Erdgeschichte).

Alle heute lebenden Organismen [sind] in ununterbrochener Generationsfolge mit dem Ursprung des Lebens auf unserer Erde … verbunden. (S.71)

HD: Das ist für mich verblüffend! Damit müsste doch die Wahrscheinlichkeit Leben auf erdähnlichen Planeten zu finden, deutlich vorsichtiger eingeschätzt werden als dies häufig üblich ist.

Stoffwechsel und Energie (BD)

Lebewesen definieren sich durch Stoffwechsel (Metabolismus), Vermehrung (Reproduktion) und Entwicklung (Evolution). Zellen und die aus ihnen entstandenen Lebewesen sind offene Systeme im Zustand des Ungleichgewichts. Sie benötigen Energie, um den Zustand ‚lebend‘ aufrecht zu erhalten, auch wenn keine Arbeit geleistet wird. Dies wird erreicht durch den Stoffwechsel. Er findet auf der Ebene einzelner Organismen statt. Eine Seite nimmt Nahrung, Wasser und Sonnenlicht auf. Eine zweite Seite baut daraus die Formen von Energie auf, die der Organismus benötigt. Energie geht nie verloren. Sie wird nur in andere Formen umgewandelt. Organismen existieren nur bei ständiger Selbsterneuerung. Es findet ein pausenloser Verfall statt sowie ein laufender Wiederaufbau aller Komponenten.

Als eine Art Energiewährung gilt Adenosintriphosphat (ATP). Ein ruhender Mensch benötigt mehrere Tausend ATP-Transfers pro Tag innerhalb von Zellen (z.B. zwischen Mitochondrium und Cytoplasma). Die Stoffmenge, die vom Körper verarbeitet wird, schwankt zwischen 1,7 kg pro Stunde bei Ruhe und 30 kg bei Arbeit. Die primäre Energiequelle aller Lebewesen ist das Sonnenlicht. Der Prozess, der seiner Umwandlung dient, heißt Photosynthese. Die dafür verantwortlichen Organismen heißen Chloroplasten.

Reproduktion und Artenvielfalt (BD)

Die Arten oder die Spezies sind die Reproduktionsgemeinschaften der Lebewesen. Nur ihre Mitglieder fühlen sich voneinander angezogen und können sich sexuell fortpflanzen. Durch Mutationen (Speziation) entstehen neue Arten. Die meisten Mutationen sind schädlich und verschwinden. Die Arten überleben aufgrund von Variationen. Innerhalb einer Art ist die Variationsbreite sehr hoch. Nicht ein Individuum evolviert, sondern eine Population.

Bereits bei den Einzellern ist die Artenvielfalt sehr groß. Man schätzt, dass es über 100 Millionen Arten gibt. Die genaue Zahl ist nicht bekannt. Es leben heute noch Arten, die es bereits in der Kreidezeit gab. Besonders artenreich sind Käfer (350k) und Fliegen (120k). Bei vielen Säugetierarten gibt es eine sukzessive Größenzunahme der Individuen, nicht jedoch bei allen Arten. Man teilt die Arten in drei Reiche ein: Urbakterien (auch Archaea genannt), Bakterien und Eukaryoten. Die Bakterien sind sehr früh entstanden.

Evolution und deren Zweckorientierung (HD)

Penzlin gibt eine sehr saubere und ausführliche Einführung in das Thema Evolution. Für mich als Laien ist es schon mehr als eine Einführung. Gewundert habe ich mich über folgende Aussage:

Eine einheitliche Theorie der Evolution, die alle diese Teiltheorien zusammenführt und – was noch wichtiger wäre – auch die Prokaryoten mit ihren Besonderheiten (….) einschließt, ist ein Ziel wissenschaftlicher Forschung, aber leider noch keine Realität. (S. 102)

Im Gegensatz zu John Mayfield, der in seinem Buch eher nach einer Verallgemeinerung des Konzepts Evolution gesucht hat, möchte Penzlin den Begriff Evolution möglichst eng benutzt sehen:

Gegenwärtig erleben wir eine Inflation des biologischen Begriffs Evolution. Man spricht - wie selbstverständlich - von der Evolution des Kosmos, der Sterne, unseres Sonnensystems und unserer Erde oder auch der menschlichen Gesellschaften, der Sprache, der Kunstformen und der Kultur ohne Rücksicht auf die unbestreitbare Tatsache, dass diese Vorgänge in ihrem Wesen und ihrer inneren Dynamik völlig verschieden sind. (S.104). Man sollte den Evolutionsbegriff deshalb nur in diesem Kontext verwenden und nicht auf alle möglichen Entwicklungsprozesse ganz anderer Natur anwenden, wie es heute üblich geworden ist. (S. 410)

Die Zweckorientierung der Evolution ist eines der zentralen Themen des Buches. Wir (BD, PH, HD) hatten das Thema ausführlich im Zusammenhang mit dem Buch von Mayfield diskutiert. Penzlin macht eine klare Unterscheidung und begründet seine Sicht (die anscheinend auch die Sicht der meisten Biologen ist) ausführlich: (1) es gibt keine Zielgerichtetheit in der (biologischen) Evolution, und (2) die Evolution ist klar zweckgerichtet. Bekannte Beispiele sind: Das Auge ist zweckmäßig, um sich zu orientieren. Die Flügel der Vögel sind zweckmäßig zum Fliegen.

Das Zweckmäßige entsteht im Organischen ohne vorangegangene Zwecksetzung….Alles Zweckmäßige in der Natur ist eine Zweckmäßigkeit a posteriori.

Diese Feststellung „a posteriori-Zweckmäßigkeit“ macht natürlich bei der Zielgerichtetheit keinen Sinn. Die Biologen sind sich anscheinend einig in der Ablehnung der Zielgerichtetheit der Biologie. Allerdings sollte die Aussage der Biologen nicht lauten „es gibt keine Zielgerichtetheit der Evolution“, sondern eher „aus Sicht der Biologie ist keine Zielgerichtetheit zu erkennen“. Mit der Aussage, es gäbe keine Zielgerichtetheit (der Evolution), verlassen die Biologen ihr Arbeitsgebiet und werden zu Philosophen.

BD: Im Hinblick auf unsere frühere Diskussion fand ich auch folgende Formulierungen beachtenswert:

Der Zweck [des Projekts Leben] ist die Selbsterhaltung des Lebendigen. Diese Zweckmäßigkeit ist nicht akzidentiell. Sie ist zutiefst immanent. … Die Natur zielt nicht; sie spielt.

Entropie (HD)

Sowohl unter Physikern wie auch Biologen wird schon seit Jahrhunderten die Frage diskutiert, wieso die Entstehung und das Bestehen von Leben nicht den 2. Hauptsatz der Thermodynamik verletzt. Der besagt bekanntlich, dass die Entropie nur wachsen kann, d.h. die Unordnung in der Natur kann nur zunehmen. Ich habe den Verdacht, dass hierbei (wie auch bei bestimmten Entropie-Diskussionen in der Physik) die Definition dessen, was man unter „geordnet“ und „Ordnung“ versteht, so zurechtgebogen wird, dass man die Allgemeingültigkeit des Entropiegesetzes retten kann. Das Resultat ist, wie Ilya Prigogine schrieb, „a very strange concept“. 

Information (HD)

Auf diese Ausführungen war ich besonders gespannt, da wir das Thema in den letzten Jahren oft und heftig diskutiert haben. Das Thema wird auch in einigen Blogeinträgen adressiert. Der wichtigste Diskussionspunkt war dabei die Frage, was die richtige (oder zumindest plausible oder zweckmäßige) Definition des Begriffs „Information“ sein sollte. Penzlin schreibt:

Der Shannon’sche Informationsbegriff als mathematisches Maß des Informationstransfers hat sich dagegen in der Biologie als wenig brauchbar erwiesen. (S.271) Es ist leider richtig, dass der Informationsbegriff in der Literatur mit sehr unterschiedlichem Inhalt und Bezug gebraucht wird,. … Dessen ungeachtet ist der Informationsbegriff bei manchen Autoren geradezu zum Dreh- und Angelpunkt ganzer Weltanschauungen avanciert. (S. 272)

Meine Meinung zu diesem Thema möchte ich wie folgt ausdrücken:
  • Dass der Shannon’sche Informationsbegriff für die meisten (oder gar alle) Wissenschaften zu eng ist, ist kaum zu bestreiten. Selbst für die Physik gab es schon diese Erkenntnis.
  • Eine neue Definition, die alle möglichen Disziplinen zufrieden stellt, ist anscheinend sehr schwer zu finden. Selbst für die Biologie alleine scheint es noch nicht gelungen zu sein, sich auf eine allerseits zufriedenstellende Definition zu einigen.
  • Noch schwieriger wird es, wenn man versucht ein mathematisches Maß für den Informationstransfer zu finden. Dies war ja die ursprüngliche Zielsetzung von Shannon.
Penzlin beschreibt die Shannon’sche Theorie im Einzelnen. Daran anschließend hat Penzlin ein Kapitel „Information und Entropie“. Die Verquickung von Information und Entropie macht ja nur Sinn, wenn man von dem Shannon’sche Informationsbegriff ausgeht (vielleicht auch nicht einmal dann).

BD: Es ist schon erstaunlich, dass die Biologie sich immer wieder in die Irre führen lässt, waren doch Manfred Eigen und Carl Friedrich von Weizsäcker sehr klar in ihren Aussagen. Auch hier wird Weizsäcker zitiert mit dem Satz: ‚Information ist nur das, was verstanden wird‘. Es verwundert mich sehr, dass Biologen (wie Physiker) an eine Art Erhaltungssatz für Information glauben, in Analogie zur Energie. Nur so ist zu verstehen, dass Penzlin Lebewesen als informationell abgeschlossene System ansehen kann.

Gene und Spezifität (HD)

Nach der Entschlüsselung des menschlichen Genoms entstand die Hoffnung, dass die Biologie jetzt alle Fragen des Lebens klären kann. Die Gene schienen der Schlüssel zu allem zu sein. Auch Penzlin warnt davor, zu viel zu erwarten.

Man kann nur hoffen, dass das Denken in Ein-zu-eins Entsprechungen zwischen Genen und Eigenschaften nun endlich und unwiderruflich sein Ende gefunden hat. (S. 334). Das genozentristische Bild von den Genen als elementare und unabhängige Struktureinheiten, die in linearer Anordnung auf dem Chromosom aufgereiht sind, und für bestimmte „Merkmale“ stehen, gehört unwiederbringlich der Vergangenheit an. (S. 335)

Ob in ferner Vergangenheit, also zur Zeit des Lebensursprungs, einmal eine RNA-Welt existiert hat, bleibt weiterhin fraglich. 

Selbstorganisation und Synergetik (HD)

Der Begriff der Selbstorganisation wurde ursprünglich in der Physik (Thermodynamik) geprägt.

Dessen ungeachtet hat der Begriff sehr schnell Akzeptanz in den verschiedenen Disziplinen außerhalb der Physik bis hin zur Neurobiologie, Psychologie, und Soziologie gefunden, ohne dass in jedem Fall sorgfältig geprüft wurde und wird, ob man mit dem Begriff tatsächlich vergleichbare, d.h. in ihrer inneren Dynamik übereinstimmende Vorgänge, oder nur oberflächlich analog-ähnliche belegt. (S. 397)

Eng verwandt, wenn nicht deckungsgleich ist der Begriff Synergetik. Hierzu sagt Penzlin:

Es trifft leider nicht zu, dass das Konzept der Synergetik, wie es der Physiker Hermann Haken mit großer Hingabe entwickelt hat, bereits die „neuen Gesetze“ für ein besseres Verständnis und ihrer Beziehungen mit ihrer Umgebung geliefert hat. (S.398) 

Physikalismus und Reduktionismus (HD)

Unter Physikalismus versteht man die Theorie oder Meinung, dass die gesamte Natur auf physikalischen Vorgängen beruht und deshalb auch alleine mit Physik erklärt werden kann.

Dem radiklen Physikalismus liegt die These zugrunde Leben sei restlos im Rahmen der Begriffe und Gesetze zu verstehen, wie wir sie aus den anorganischen Naturwissenschaften kennen. Die Dinge unterscheiden sich nur hinsichtlich ihrer Komplexität, aber nicht prinzipiell. (S. 5)

Unter Reduktionismus versteht man das Bestreben die wissenschaftliche Erkenntnis durch immer weiter gehende Reduzierung auf tiefer liegende Gesetzmäßigkeiten zurückzuführen. Für die Nicht-Physikwissenschaften kann der Reduktionismus nur zur Physik führen. Aber auch innerhalb der Physik gibt es den reduktionistischen Ansatz. Die reduktionistische Denkweise und Vorgehensweise wurde in den letzten Jahrzehnten stark kritisiert (Reduktionismus ist fast zu einem Schimpfwort geworden).

Auch Penzlin kritisiert den Reduktionismus in der Biologie und den Versuch Biologie zu verstehen, indem man die Abbildung auf die Physik besser versteht.

Der radikale Reduktionismus ist zum Scheitern verurteilt und muss durch einen moderaten ersetzt werden. Das bedeutet, die Reduktion dort, wo sie angebracht und nützlich ist,  soweit wie möglich voranzutreiben, dabei aber niemals aus dem Auge zu verlieren, dass es Zusammenhänge und Erscheinungen im Bereich des Lebendigen gibt  - und das sind nicht gerade die unwichtigsten -, die nur auf höherer Ebene verstanden und erklärt werden können. (S.40)

Zu diesem Thema passt auch das, was Penzlin zum Schichtenaufbau der realen Welt schreibt. Er zeigt ein auf Nikolai Hartmann zurückgehendes Model von vier Schichten, aus denen die reale Welt besteht. Die vier Schichten sind: (1) die Schicht des Anorganischen, (2) die Schicht des Organischen, (3) die des Seelischen und (4) die des Geistigen. Trotzdem fehlt es nicht an Widerständen, sie in all ihren Konsequenzen anzuerkennen. Der Grund dafür liegt in dem tief verwurzelten und weit verbreiteten Einheitspostulat des spekulativen Denkens.

[Es gibt das] Streben, die Welt aus wenigen oder gar aus einem einzigen Prinzip heraus erklären zu wollen. An solchen verlockenden Versuchen hat es in der Vergangenheit bis zum heutigen Tag niemals gemangelt, sei es in spiritualistischer Weise „von oben nach unten“ oder in materialistischer Weise in umgekehrter Richtung „von unten nach oben".

Erwin Schrödinger charakterisierte die Physik einmal als „die bescheidenste aller Naturwissenschaften“. Penzlin zitiert C.F. von Weizsäcker:

Die Physiker haben sich die einfachsten Probleme ausgesucht, die es überhaupt gibt, dagegen die Biologen vielleicht die interessantesten; aber die interessantesten Probleme sind nicht notwendigerweise die einfachsten. (S. 407) 

Mir ist diese Diskussion zu prinzipiell (schon fast ideologisch). Es wird vermutlich von niemand bestritten, dass gewisse Themen (die letztlich auf physikalischen Gesetzen beruhen) wie zum Beispiel Chemie, Meteorologie und auch Biologie, erst durch die Schöpfung neuer eigener Begriffe und Gesetzmäßigkeiten einem verbesserten Verständnis zugeführt werden konnten. Beispiele dafür sind nicht nur die Entstehung der Nicht-Physikwissenschaften, sondern auch innerhalb der Physik lassen sich derartige Beispiele finden (z.B. Wärmelehre, Supraleitfähigkeit). Ist es nicht radikaler Reduktionismus, wenn Empathie durch Spiegelneuronen erklärt wird?

Wissenschaft und Weltanschauung (PH)

Bei diesem Thema bin ich geneigt, das ganze Kapitel des Buches zu zitieren:

Es bleiben Fragen, die von keiner Wissenschaft beantwortet werden, weil sie gar nicht erst gestellt werden. Dazu gehören solche nach dem Wert, dem Sinn, der Bedeutsamkeit oder der Berechtigung. Um jeweils die richtigen Entscheidungen treffen zu können, sind nicht nur Kenntnisse unerlässlich, sondern auch feste ethisch-moralische Grundsätze und Normen die Bestandteil einer Weltanschauung sind. Sie werden uns nicht in die Wiege gelegt, denn sie sind kein Produkt der Evolution. (S. 416)

BD: Hier leitet Penzlin über zu der Frage, woher kommen das geistige und ethische Rüstzeug des Menschen und wie wird es übertragen.

Kulturelle Evolution (PH)

Penzlins Bemerkungen zu den Unterschieden zwischen der biologischen Evolution und der kulturellen Entwicklung (oder Evolution), haben sofort meine Aufmerksamkeit gefunden. Er vertritt die Meinung:

Niemand sollte allgemeine Behauptungen hinsichtlich der Evolution in Bereichen außerhalb der biologischen Welt machen, ohne sich zuvor mit den gut ausgereiften Vorstellungen der biologischen Welt bekannt gemacht zu haben. ... Das Motiv für Begriffsverflachungen muss man in dem verbreiteten Streben nach Kontinuität oder in dem “Einheitsbedürfnis” sehen, dass auch heute noch eine nicht zu unterschätzende Triebfeder menschlichen, auch wissenschaftlichen Denkens ist. (S. 104)

Das „Einheitsbedürfnis“ ist auch für mich eine wichtige Triebfeder. Ich maße mir keinesfalls an, die Prinzipien und Phänomene der Evolution, wie sie von Penzlin vertreten werden, zu kritisieren.

HD: Als Fachmann steht es Heinz Penzlin zu, über die korrekte Benutzung des Begriffs Evolution zu wachen. Trotzdem finde ich, dass dies nicht dazu führen sollte, das Studium von Gemeinsamkeiten mit anderen Entwicklungsprozessen zu unterlassen. Ob man dabei entdeckte Verallgemeinerungen auch "Evolution" nennen sollte, ist für mich zweitrangig. 

Nachtrag am 28.3.2014:

Wenn der Eindruck entstand, dass Peter Hiemann am wenigsten zu dem Buch von Penzlin zu sagen hätte, dann ist dies falsch. Seine Rezension ist in beigefügtem Artikel wiedergegeben. Vergessen hatte ich, Penzlins Schlusszitat zu bringen. Es stammt von Immanuel Kant. Fast könnte man meinen, auch Kant sei gegen Abstraktionitis gewesen.

Ins Innere der Natur dringt Beobachtung und Zergliederung der Erscheinungen, und man kann nicht wissen, wie weit diese mit der Zeit führen werden. (Kritik der reinen Vernunft. Revidierte Gesamtausgabe, Band 2, S. 266)

Am 31.3.2014 schrieb Hartmut Wedekind aus Darmstadt:

Es gibt noch eine viel ältere Schichtentheorie, nämlich die von Aristoteles (siehe unten), die unter dem Begriff Ontologie (Seinslehre) firmiert. Das ist eine Sphärentheorie. Das Schöne ist ihr konstruktiver Aufbau von unten nach oben und eine Einteilung der Wissenschaften. Grundlegend ist die Somatologie, die Lehre vom unbelebten Körper oder die Sphäre der Somata. Dann kommt im Aufbau die Biosphäre, um die es hier geht. Darüber liegen  die Psycho-Sphäre und dann weiter die Noo-Sphäre, die dem Menschen vorbehalten ist.  Berühmt ist die Mensch-Definition des  Aristoteles: „Der Mensch ist das Lebewesen, das Logos hat.“ Die Griechen konnten sich noch auf allen Schichten bewegen, was uns leider abhanden gekommen ist.


Nachtrag am 3.4.2014:

Nach Kopernikus und Darwin könnte man das Weltbild heute etwas anders darstellen als zur Zeit der alten Griechen, z.B. so:


Freitag, 21. März 2014

Mythos Internet zwischen Epochalismus und Solutionismus

Manchmal hat der Begriff Internet eine fast mythische Bedeutung. Ein Mythos ist im ursprünglichen Wortsinne eine Erzählung, mit der Menschen und Kulturen ihr (vorwiegend primitives) Welt- und Selbstverständnis zum Ausdruck bringen. Im religiösen Mythos wird durch den Mythos das Dasein der Menschen mit der Welt der Götter verknüpft. Mythen erheben einen Anspruch auf nicht zu hinterfragende Wahrheiten für die von ihnen beschriebenen Sachverhalte. Der Mythos steht im Gegensatz zu verstandesgemäßen Beweisen, die die Wahrheit von Behauptungen zu begründen versuchen. Mit dem Wort Epochalismus beschreibt man eine Geisteshaltung, die dazu tendiert, bei jeder kleinen technischen Veränderung den Anfang eines neuen Zeitabschnitts zu erkennen.

Jemand, der den teilweise mythischen Charakter des Internets immer wieder betont und den damit verwandten Epochalismus anprangert, ist Evgeny Morozov (Jahrgang 1984). Morozov ist ein in Weißrussland geborener, in englischer Sprache veröffentlichender Publizist. Mit einem Stipendium von George Soros zog er zunächst nach Bulgarien und danach nach Berlin und New York. Sein jüngstes Buch heißt Smarte neue Welt. Es erschien 2013 in Deutsch (656 Seiten). Lesern der FAZ ist Morozov als Essayist bestens bekannt.

Buch voller Ismen

Selten habe ich ein Buch gelesen, dass so mit Ismen gespickt war. Einige schien der Autor sogar neu geschaffen zu haben. Vermutlich gehört das am häufigsten benutzte Wort dazu. Gemeint ist der Solutionismus. Das ist der Glaube, dass es für alle Probleme der Welt gutartige Lösungen gibt, vornehmlich technischer Art (engl.: the belief that all difficulties have benign solutions, often of a technocratic nature). Im vorliegenden Buch heißt es: Alles, wofür wir Werkzeuge haben, wird repariert. Jetzt ist das menschliche Gedächtnis gerade dran. Es wird dabei nicht gefragt, ob ein unendliches Gedächtnis, das nichts vergisst, überhaupt wünschenswert ist. Wenn es eine App gibt, fragen wir nicht mehr, ob sie überhaupt nötig war. Wir benutzen sie einfach. Wir lösen einfach Probleme, ohne sie vorher näher zu analysieren.

Die Schuld für diese Situation sieht er bei den Protagonisten modernster Technik, die man vielfach mit dem Begriff Internet gleichsetzt. Er belegt diese Meinung mit Zitaten von Larry Page, Sergey Brin, Eric Schmidt, Steve Jobs, Mark Zuckerberg, Cheryl Sandberg, Jeff Jarvis, Lawrence Lessig, Kevin Kelly und andern. Der Autor gesteht, dass er sich manchmal vorkommt wie ein griesgrämiger Wanderprediger, der aus weißrussischen Wäldern kommend, unserer Gesellschaft und ihren Spitzen einen Spiegel vorhält.

Technik als Schicksal und Allheilmittel

Wände, Türen, Telefone, alles ist smart geworden. Wir fördern Effizienz, Transparenz und Perfektion, ohne nach den Nebenkosten zu fragen. Wir zahlen mit dem Verlust der Freiheit. Ineffizienz, Mehrdeutigkeit und Undurchsichtigkeit können Vorteile haben. Es seien verkleidete Tugenden.

Es ist heute sinnvoll, früher als wild geltende Ideen ernst zu nehmen, e.g. alle Bücher der Welt einzuscannen. Die Frage ist nur, was es bringt. Wir definieren Bildung als das, was MOOCs gerade lösen. Wir verwenden ‚augmented reality‘ selbst beim Kochen, auch wenn es den Spaß am Kochen nicht erhöht. Morozov bezeichnet es als digitalen Defätismus, wenn man Technik und ihre Folgen als Schicksal auffasst, das unwiderstehlich über uns hereinbricht. Man sollte Technik genau so diskutieren, wie man über Politik, Wirtschaft, Geschichte und Kultur diskutiert. Man muss über den sinnvollen Beitrag von Technik nachdenken.

Es sei falsch zu glauben, dass Technik alle Probleme der Welt löse. Der Konflikt um Berg-Karabach zum Beispiel gehöre nicht dazu. Auch sei es falsch zu glauben, dass Tablets alle Bildungsprobleme in Afrika lösten. Die Technik-Rationalisten machten alles so einfach, dass Techniker die Politik und die Gesellschaft übernehmen könnten. Ein aktuelles Beispiel sei China, wo nur Technokraten das Land regierten. Viele Techniker glaubten, sie hätten die Wahrheit gepachtet. So seien Larry Page und Sergey Brin, die beiden Google-Gründer, felsenfest davon überzeugt, dass viel Wissen gut sei. Deshalb wollen sie alle Bücher der Welt digitalisieren und kostenlos verteilen. Je mehr Information desto besser, das sei der Imperativ der Aufklärung. Google sähe sich im Dienst der Aufklärung. Niemand frage, ob mehr Information immer besser ist oder ob zu viel schlecht sein kann. Das Tolle ist, man auch kann Geld verdienen, indem man verspricht die Welt zu verbessern.

Morozov möchte nicht dahingehend missverstanden werden, dass er gesellschaftliche Lösungen (politische, juristische, soziale) immer für besser hält als technische. Sie sollten jedoch als Alternativen immer in Erwägung gezogen werden. Außerdem gibt es große Unterschiede zwischen den technischen Lösungen. Wir müssen unterscheiden lernen und das Unterscheiden und Abwägen ernsthaft betreiben.

Internet-Zentrismus

Es sei falsch immer von ‚dem Internet‘ zu reden. Es habe keine inhärenten Eigenschaften, über die geklagt werden müsse. Es sind ganz verschiedene Anbieter, die verschiedene Geschäftsmodelle verwenden. Apple ist anders als Google; Google anders als Facebook. Marshall McLuhan machte einen ähnlichen Fehler, als er über ‚die Medien‘ sprach. Das Schlagwort von der Offenheit des Internet verhindere eine sinnvolle Diskussion. Wenn Google die Suche manipuliere, sei das kein generelles Problem des Internets. Google lässt sich genauso gut wegdenken wie die Enzycopedia Britannica oder Minitel (es wurde im Juni 2012 endgültig abgeschaltet).

Wenn das Urheberrecht geändert werden müsse, weil es mit der Idee des Internets unvereinbar wäre, sei das reiner Internet-Zentrismus. Auch der Vorschlag von Lawrence Lessig, alle Zeitungen in Non-Profit-Unternehmen umzuwandeln, diene nur dazu, das Internet zu retten, so wie es heute ist. Es handelt sich auch um Internet-Zentrismus, wenn wir annehmen, dass die Welt Rücksicht darauf nehmen muss, was dem Internet nutzt. Der Begriff Internet-Freiheit sei inhaltsleer. Das Internet ist nicht heilig, und darf mit Instrumenten der Demokratie erfasst und kontrolliert werden.

Das Internet besitze keine tiefe Logik, aus der folgt, dass Offenheit und Transparenz immer richtig sind. Werden Offenheit und Transparenz, vom Internet ausgehend, für Politik und Gesellschaft gefordert, ignoriere man, dass dadurch andere Werte gefährdet werden. Wieso Offenheit für Kreativität sorge, sei ein Rätsel. Totale Offenheit kann zur Tyrannei werden. Auch Transparenz habe keinen intrinsischen Wert. Transparenz kann große Nachteile haben, indem es Vertrauen untergräbt. Oft ist Geheimhaltung die bessere Strategie. Natürlich wissen und befolgen dies auch die Akteure des Internet (Google, Facebook), die von ihren Kunden das Gegenteil fordern.

Dass die Partei der Piraten das Internet als eine Quelle von Weisheit und politischer Orientierung betrachtet, sei (gelinde gesagt) überraschend. Obwohl wir nicht wissen wie Wikipedia funktioniert, ist es gewagt, daraus Geschäftsmodelle für andere Unternehmen abzuleiten. Wikipedia funktioniere nur in der Praxis, nicht in der Theorie.

Epochalismus des Internet

Eine weitverbreitete technologische Amnesie und Gleichgültigkeit gegenüber Geschichte bestimmten viele Diskussionen in Informatik und Informationstechnik. Wer die Einmaligkeit des Internet betone, vergesse oft, dass es schon lange vorher Post, Fernschreiber, Telefon, Radio und Fernsehen gab. Es sei nicht alles revolutionär, was sich als revolutionär erklärt. Es stehe außer Frage, dass Technik gern von Revolutionären benutzt wird. Deshalb zu sagen, die protestantische Reformation sei Johannes Gutenberg zu verdanken und nicht Martin Luther, oder die Bürgerrechte verdankten wir dem Fernsehen anstatt Martin Luther King, sei schlicht falsch. Die arabische Revolution in Ägypten, an der das Internet maßgeblichen Anteil hatte, landete schließlich zwischen Armee und Muslimbrüdern. Es fehlten stabile Strukturen. Die dezentrale führerlose Struktur des Internet sei als Modell für Staaten ungeeignet.

Wer sagt, das Wissen der Welt sei heute vorwiegend im Internet zuhause, hätte früher sagen müssen, es sei im Postamt oder am Flugplatz zu finden. Wenn gefordert wird, dass das Internet nicht geändert werden darf, dann sei dies Ausdruck eines schädlichen Mythos. Wir müssten uns damit abfinden, dass das Internet von sich aus nichts erklärt, weder die Welt, noch die Gesellschaft oder das Leben. Es sagt weder etwas darüber aus, wie sie funktionieren, noch wie sie funktionieren sollten. Das Internet sei nicht eine Ursache, sondern eine Folge unserer Welt. 

Basisdemokratisches Getöse und Verbrechensverhinderung

Morozov zieht manchmal Vergleiche zwischen seiner Zeit in Berlin und New York.  Zu den Berliner Erfahrungen gehört seine Beschäftigung mit der Bewegung, die sich im Wahlerfolg der Piratenpartei niederschlug. Das Reden über ‚Liquid Democracy‘ habe sich als reines Getöse entlarvt, als sich in der Diskussion um Straffreiheit von Beschneidungen ganze 20 Stimmen meldeten. Dass diese Partei sich seither im Sinkflug befindet, führt er darauf zurück, dass niemand bereit war, politische Verantwortung zu übernehmen. Auch sagt die ‚Weisheit des Internets‘ nichts zu Fragen wie Euro-Schuldenkrise und Klimawandel, die die Politiker nicht ganz ignorieren dürfen.

Auch in den USA gäbe es Stimmen, die ‚direkte Demokratie‘, also die Abschaffung der Parteien, forderten. Sie hätten es allerdings sehr schwer gehört zu werden, angesichts der Verehrung, die die Gründerväter ihrer Demokratieform genössen. Unvollkommenheit kann besser sein als Perfektionismus. Die Politik lebt vom Kompromiss. Anders ist es bei einem Kunden, der bezahlt. Er kann immer die beste Qualität fordern, also eine extreme Lösung.

Der Unterschied zwischen Berlin und New York trete unter anderem in Erscheinung beim Thema der Verbrechensverhütung. Der Fachbegriff heißt Situative Kriminalitätsprävention (SKP). In New York ist der Zutritt zur U-Bahn sogar für Polizisten schwer. In Berlin kann man durch die ganze Stadt fahren, ohne einen Fahrschein zu besitzen. Es werden nur Stichproben gemacht. Überall wird in New York das Zahlen mit Bargeld zurückgedrängt, z.B. an Tankstellen und Brücken. Die SKP-Welt kenne kein moralisches Denken. Da wo der Gesetzesbruch unmöglich ist, gäbe es keinen zivilen Ungehorsam mehr, daher auch keinen gesellschaftlichen Wandel.

Menschenbild und Motivation

Sehr ausführlich befasst sich Morosov mit den durch das Internet geförderten Selbstdarstellungen (Self-Tracking) und Selbstenthüllungen. Er sieht neben dem von Firmen wie Google und Facebook betriebenen Geschäftsmodellen auch eine Form von Narzismus am Werke. Vor allem sieht er den sozialen Zwang. Wer sich nicht enthüllen wolle, gerate in den Verdacht etwas verheimlichen zu müssen. Besonders viel machte der frühere DEC- und heutige Microsoft-Mitarbeiter Gordon Bell von sich reden, der über Jahrzehnte hinweg mittels einer am Körper befestigten Kamera (SenseCam) seinen Tagesablauf dokumentierte. Morosov bezeichnet diese extreme Art des Erinnert-sein-wollens als Datenfetischismus.

Indem Facebook-Gründer Mark Zuckerberg damit wirbt, die Völkerverständigung zu unterstützen, betreibe er in Wirklichkeit einen Pseudohumanismus. Frühere Techniken wie Telefon und Fernsehen hatten teilweise dieselbe Hoffnung gehabt. Je mehr Information die Menschen über einander hätten, umso weniger Missverständnisse gäbe es. Es blieb bisher eine Illusion. Der Solutionismus bediene sich eines einfachen statischen Menschenbilds. Ehrlicher sei es, davon auszugehen, dass wir selbst uns noch ändern, und zwar aufgrund unserer Erfahrungen. Dann haben die Prozesse, die dies bewirken, Bedeutung, nicht nur die Ergebnisse der Prozesse.

Spielerische Ansätze (Gamifizierung) haben für viele Massengeschäfte ein großes Potenzial. Es ist vielfach leichter mit Spaß Leute an sich zu binden als mit Verantwortungsgefühl. Eine Kumulation des Effekts wird erreicht, wenn versucht  wird, Weltprobleme durch Spiele lösen. Im Gegensatz zum wahren Leben haben Spiele den Vorteil, dass sie Belohnungen vergeben. Morosov erinnert daran, dass es in der Sowjetzeiten üblich war, das Erreichen gesellschaftlicher Ziele mit Spielen und Wettbewerben schmackhaft zu machen. Teilweise basieren diese Ansätze auf der behavioristischen Psychologie von  B. F. Skinner (1904-1990), der die extrinsische Motivation gegenüber der intrinsischen Motivation überbetonte. Wo die monetären Anreize vorherrschen, verdrängen sie leicht edlere Motive.

Verantwortung der Ingenieure

Zu meiner Überraschung leitet Morozov aus dem Gesagten auch Forderungen ab an die Ingenieure und Informatiker, die moderne Systeme entwickeln. Normalerweise gelten Ingenieure als kreative Zerstörer. Sie seien die Revolutionäre par excellence. Die klassische Regel, dass das Perfekte der Feind des Guten ist, sollte man ergänzen dahin, dass das Gute manchmal gut genug ist.

Ingenieure könnten nicht konservativ genug sein. Sie dürfen die Würde und die Autonomie des Menschen nicht als Gestaltungsmasse miteinbeziehen. Sie sollten den Menschen als komplexe und irrationale Wesen akzeptieren. Dann reiche es nicht, nur Antworten zu liefern, sondern man muss auch neue Fragestellungen erleichtern. Mülltonnen und Parkuhren könnten wichtiger sein für den für Alltag von Menschen als Twitter-Algorithmen. Die Technik sei nicht der Feind des Menschen. Es seien eher die ‚romantischen und revolutionären Problemlöser, die ihr innewohnen‘. Die Wahrheit sei nicht binär. Pluralismus sei kein Fehler  ̶  kein Bug, sondern ein Feature  ̶  unserer Gesellschaft. Ingenieure dürfen alles tun, was sie können, um menschliche Lebensbedingungen (die ‚conditio humana‘) zu verbessern, aber nur das!

Am 21.3.2014 schrieb Hartmut Wedekind aus Darmstadt:

Ein sehr lesenswerter Beitrag. Man muss den Beitrag mehrfach lesen. Dann kann man ihn auch kommentieren. Obwohl der Beitrag ja schon fast selber ein Kommentar ist.  Ein Kommentar über einen Kommentar, ein Meta-Kommentar, das ist schwierig.

NB (Bertal Dresen): Als ich heute nach Morozov in der FAZ suchte, fand ich die Rezension des besagten Buches von Jürgen Kaube in der Ausgabe vom 9.12.2013. Der Titel der Rezension lautet: „Ist Ingenieur sein denn glamourös?“ Dass der Autor kaum aus dem Umkreis von Ingenieuren stammt, zeigt folgendes Beispiel-Zitat: „Während Unsummen in ‚Open Access‘ zu wissenschaftlichen Aufsätzen gesteckt werden, liegt deren Durchschnittsleserzahl bei ungefähr 1 und es wissen Romanisten im sechsten Semester nicht, wer Flaubert ist. ... Die größten Gewinne der technologischen Versprechen fallen meist nicht dort an, wo die Probleme liegen, sondern bei den Ausrüstern“. Die nicht zu überhörende Kritik lautet: Immer wieder bleibt Geld bei den Technikern hängen, aber bei den armen Geisteswissenschaflern kommt nichts an.

PS: Weder Flaubert noch 'Open Access' kommen bei Morozov vor. Hierbei handelt es sich offensichtlich um originäre Beiträge des FAZ-Rezensenten. 

Nachtrag vom 23.3.2014:

Nescire aude! So ähnlich wird die Überschrift lauten. die ich verwenden werde, um den von Hans-Ulrich Gumbrecht angekündigten Beitrag von Evgeny Morozov zu kommentieren, der demnächst in der FAZ erscheinen wird. Im obigen Blog-Eintrag habe ich diesen Teil in Morozovs Buch vorsichtshalber unterschlagen. Ich habe nur erwähnt, dass er Google (noch) im Dienste der Aufklärung sieht. 

Wenn Morozov die Post-Internet-Welt beschreibt, meint er eine Welt, welche die über 200 Jahre alte Aufklärung (endlich) hinter sich gelassen hat. Er hat über 600-Seiten geschrieben, ohne Immanuel Kant ein einziges Mal zu zitieren. Man kann heute nicht mehr versuchen, alles zu wissen, so wie Kant dies glaubte. Sapere aude! So hieß es noch bei ihm. 


Am 23.3.2014 schrieb Hartmut Wedekind:

Es ist nicht das Nicht-Wissen, um das es geht. Es geht um das Methodische und das Versuchen mit eingeschlossenem Irrtum. Das sagt Spaemann sehr schön. Nichtwissen wegen Faulheit, Trägheit das ist, was bekämpft wird. Trägheit (inertia) ist eine der sieben Todsünden. "Das Wissen des gebildeten Menschen ist strukturiert. Was er weiß, hängt miteinander zusammen. Und wo es nicht zusammenhängt, da versucht er einen  Zusammenhang herzustellen, oder wenigstens zu verstehen, warum dies schwer gelingt. Er lebt nicht so in verschiedenen Welten, daß er bewußtlos von der einen in die andere hinübergleitet. Er kann verschiedene Rollen spielen, aber es ist immer er, der sie spielt."

Am 10.5.2014 schickte Peter Hiemann aus Zarzis (Tunesien) einen Essay:

Er trägt den Titel: Neue Welten von Huxley bis Morozov. (Durch Anklicken aufrufen!). Er stellt Morozovs Buch in den Zusammenhang mehrerer bekannter Kulturkritiken, beginnend bei Aldous Huxlex und George Orwell.

Donnerstag, 13. März 2014

Muss Denken den Daten folgen (oder umgekehrt)?

Mit der apodiktischen Aussage ‚Das Denken muss nun auch den Daten folgen‘ versucht Hans-Ulrich Gumbrecht die Leser der FAZ im Feuilleton vom 11.3.2014 auf eine kommende Artikelserie aufmerksam zu machen. Ich nenne die Aussage apodiktisch, weil sie anscheinend keinen Widerspruch zulässt. Derjenige, der mich auf den Artikel aufmerksam machte, war mein Blog-Partner Hartmut Wedekind. Der Artikel ist auch in elektronischer Form verfügbar, d.h. man kann ihn ohne weiteres nachlesen. Hartmut Wedekind nahm inzwischen Kontakt zu Gumbrecht auf, um ihm seine Probleme mit dem Artikel zu erläutern. Nur soviel sei zitiert:

Nicht „Das Denken muss nun auch den Daten folgen“, sondern umgekehrt: „Das Denken geht den Daten voraus“. Das sagt ein emeritierter Professor für Informatik (Datenbanksysteme), und er bezieht sich dabei auf jemanden, der das vor rund 240 Jahren behauptete und das eine Kopernikanische Wende nannte.

Dass hier Immanuel Kant (1724-1804) gemeint ist, liegt auf der Hand. Gumbrecht (Jahrgang 1948) ist ein in Würzburg geborener und aufgewachsener Romanist, Literaturwissenschaftler und Publizist. Er hat einen Lehrstuhl für vergleichende Literaturwissenschaft (Komparatistik) an der Stanford University inne. Während die Diskussion über Gumbrecht und seine Ideen eigentlich auf breiter Ebene stattfinden sollte, will ich schon mal einige Ideen aus dem genannten Artikel herausgreifen und etwas näher analysieren. Dabei greife ich solche Formulierungen heraus, die mich als literaturwissenschaftlichen Laien überraschten.
  • Technische Innovationen verändern das Denken und über das Denken die Grundlagen der menschlichen Existenz.
  • Während auf Stein, Papyrus, Pergament und Papier festgehaltene Texte immer ‚stabile‘ Texte sind, haben elektronisch produzierte und aufbewahrte Texte eine spezifische Plastizität. Man sollte sie daher nicht als Texte sondern als Wissensaggregate bezeichnen.
  • Buchpublikationen, auch solche mit weniger als zehn Lesern, waren ‚für die Menschheit‘ geschrieben, während ungelesene Blogger neue Dimensionen der Einsamkeit erschließen. Daher sind Begriffe wie ‚Autorschaft‘ und ‚Copyright‘ obsolet.
  • Denkbar ist, dass private Daten einem dramatischen Kursverfall ausgesetzt sind.
  • Wegen der Schnelligkeit der Börse ist sie Teil der Gegenwart geworden. Man plant nicht mehr im Voraus, sondern reagiert … im Vertrauen auf die eigenen Intuitionen.
  • Wir folgen blinden Trends, an deren Emergenz wir selbst beteiligt waren.
  • In Zukunft fungieren wir in einer Fusion von Bewusstsein und Programmen.
  • Wir können eine Gleichzeitigkeit konstatieren zwischen der Emergenz der elektronischen Welt und der Emergenz eines epistemologischen Realismus, …, einer allgemeinen Mobilisierung ohne Richtung.
  • Die elektronische Welt zu denken schließt die Herausforderung ein,  neue Begriffe, Formen der Argumentation und Gesten des Denkens entstehen zu lassen. die Teil einer veränderten Epistemologie sind.
  • Es ist nicht auszuschließen, dass die notwendigen Analysen und Antworten nicht in der Reichweite des menschlichen Bewusstseins liegen.
  • Es ist ein Trost, dass alle anderen Gattungen des Lebens ohne reflexive Erfassung ihrer Situation problemlos existieren.

Manchmal tun mir Geisteswissenschaftler echt leid. Sie verstehen nicht, warum andere Menschen ihre Probleme nicht verstehen. Anstatt an jedem Zitat meine Bemerkungen anzuhängen, erzähle ich in meinen Worten, was – nach meinem Verständnis – der Autor sagen will. Es mag dann manchmal fast trivial klingen. Wo ich eine etwas andere Vorstellung habe, sage ich dies.

Natürlich beeinflussen unsere Werkzeuge und unsere Tätigkeiten unser Denken. Ein Autofahrer erlebt eine Straßenkreuzung anders als ein Radfahrer oder Fußgänger. Wer einen Hammer besitzt, fasst sehr leicht auch Dinge als Nagel auf, die es nicht sind. Etwas Geschriebenes hat andere Eigenschaften als etwas Gesprochenes. Es ist leichter zu korrigieren. Gesprochenes wirkt als wäre es unveränderlich. Wollen wir es korrigieren, müssen wir es zuerst widerrufen. Dafür gibt es sprachliche Hilfsmittel wie ‚Sorry‘ oder ‚Verzeihung‘. In Stein gemeißeltes oder mit Tinte geschriebenes ist schwieriger zu korrigieren als ein Bleistifttext oder ein Text auf einer Schiefertafel. Zu sagen, bei Geisteswissenschaften seien ‚stabile‘ Texte vorherrschend, ist eine verengende Sichtweise.

Private und öffentliche Daten gab es schon immer und wird es immer geben. Dass bestimmte Medien besser geeignet sind als andere, um Daten geheim, also privat zu halten, ist klar. Alle elektromagnetischen Aufzeichnungen strahlen aus. Meistens wird dies vergessen. Manchmal wird es von jemanden ausgenutzt. Das ist aber kein Grund zu sagen, dass es bald keine privaten Daten mehr geben wird.

Wenn Daten oder Rechenergebnisse im ‚Sekundenbruchteil‘ zur Verfügung stehen, heißt dies nicht, dass dann Planung überflüssig wird. Einerseits wird die schnelle Verfügbarkeit erst durch gute Planung (sprich Programmierung) ermöglicht. Andererseits muss man auch, basierend auf den aktuellen Daten, seine Planung anpassen. Es gibt keinen Grund überhaupt Daten zur Verfügung zu stellen, wenn man sie nicht für Planungszwecke verwendet. Natürlich können Daten auch der reinen Unterhaltung dienen, z.B. Musik- oder Bilddaten.

Zu sagen Bewusstsein und Programme könnten eine Fusion oder Symbiose eingehen, ist nicht einmal als Allegorie sinnvoll. Programme sind kondensierte und transferierte Gedanken. Sie steuern Abläufe oder Datenumwandlungen. Wie jedes andere Werkzeug können sie unser Denken beeinflussen (siehe oben).

Jetzt zu zwei etwas schwierigeren Themen, mit philosophischem Tiefgang. Das erste betrifft Gumbrechts Aussagen zur Erkenntnistheorie. Er nennt es Epistemologie, hoffend damit einige Leser abzuhängen. Er stellt die Frage: Kann es sein, dass die Wissenschaft uns zu Erkenntnissen zwingt, für die uns unser Bewusstsein keine Hilfe geben kann? Das Problem ist längst bekannt. Beispiele sind die Relativitätstheorie und die Quantenphysik. Gerade zur Quantenphysik gab es immer wieder Beiträge in diesem Blog. Gewisse Erkenntnisse der Physik haben sich zwar im Bewusstsein festgesetzt, werden dann aber wieder verdrängt. Die Ereignisse in Fukushima im März 2011 sind ein lehrreiches Beispiel.

Das zweite Thema ist die Rolle der Sprache. Die Sprache ist ein Werkzeug des Denkens, aber nicht mehr. Vor allem ist es nicht das einzige Werkzeug. Jeder darstellende Künstler und jeder Ingenieur oder Architekt denkt in Bildern, ein Komponist in Geräuchen, auch Musik genannt. Werden neue Objekte oder neue Sachverhalte erkannt, ist es wichtig, dass sie benannt werden. Um über mehrere unterschiedliche Dinge gleichzeitig reden zu können, werden übergeordnete Begriffe gebildet. Ein Beispiel ist das Wort Obst für Äpfel, Birnen, usw. Dass hierbei der Schritt vom Typ zur Mengenbildung (inkl. unendlicher Mengen) in unverantwortlicher Weise verlassen wird, wurde als Abstraktionitis in diesem Blog thematisiert. Gumbrecht geht es eher um die Benennung von Objekten oder deren Eigenschaften. Hier musste die Wissenschaft immer sprachschöpfend tätig sein. Entweder wurden neue Begriffe gebildet oder vorhandene umdefiniert. Kraft, Masse, Spannung und Widerstand sind Beispiele der letzteren Art. Früher waren es Latein und Französisch, heute dient immer mehr das Englische als Steinbruch für neue Begriffe des Deutschen.

Zum Schluss noch ein paar Bemerkungen zu der durch die Überschrift ausgelösten Diskussion. Als erstes kann man fragen, ob das Denken oder die Dinge zuerst waren. Wenn man Denken nur Menschen (oder höheren Formen des Lebens) zugesteht, ist die Antwort klar. Der Kosmos besteht seit dem Urknall, also seit 13,4 Milliarden Jahren. Menschen gibt es jedoch erst seit hunderttausend Jahren.

Schwieriger wird es, wenn wir fragen, ob es Daten gab, bevor es Denken gab. Die Dinge, die seit dem Urknall den Kosmos bevölkerten, hatten Eigenschaften wie Dichte, Masse und Anziehung. Sie wirkten auch von einem Körper auf den anderen und unterschieden sich von Körper zu Körper. Nur gab es noch niemanden, der die Größen beobachten oder messen konnte. Also gab es keine Daten. Mit andern Worten: Die Welt war die weitaus längste Zeit ihrer Existenz ohne Daten, auch ohne Information. Daten können sich ändern, ohne dass Denken erforderlich ist. Nur wird die Änderung nicht registriert. Ein Baum, der im Urwald umfällt, verursacht Schallwellen, auch wenn kein Hörorgan in Reichweite ist. Nicht jedes Hörorgan, das den Schall empfängt, interpretiert ihn auf die gleiche Weise.

Ehe ich diesen Pfad weiterspinne, möchte ich darauf hinweisen, dass die meisten Physiker dies anders sehen. Für sie ist Information ein physikalischer (oder mathematischer) Begriff, der unabhängig von der Existenz beobachtender oder messender Wesen ist.

Sollten Sie durch die angeschnittenen Fragen neugierig geworden sein, dann kann Ihnen dieser Blog hin und wieder Antworten geben. Manchmal werden wir aber nur die Fragen vertiefen.

Mittwoch, 5. März 2014

Ein neues Narrativ für das Europa-Projekt?

Das Europa-Projekt brauche eine neue Erzählung (engl. narrative). Andere Leute nennen es Vision. Kein Politiker hätte so etwas, auch Angela Merkel nicht. Sie sei ja eh fürs Durchwursteln statt für strategische Planung. So und so ähnlich lauten die Kommentare, und das schon seit einer Weile, zumindest ein oder zwei Jahre. Es sei deshalb kein Wunder, dass die deutsche Öffentlichkeit nur noch Desinteresse zeigt, und dass die bevorstehenden Europa-Wahlen nur eine geringe Wahlbeteiligung erwarten lassen. In einer Rede, die Bundespräsident Joachim Gauck vor fast genau einem Jahr hielt, legte er auch bereits seine Finger auf diese Wunde. Ich benutzte damals die Gelegenheit, um einige praktikable Vorschläge zu machen. Ich erlaube mir an sie zu erinnern. Leider hat sich in den letzten zwölf Monaten wenig in dieser Hinsicht bewegt.

Man sollte nach einfachen Erfolgen suchen. Für mich ist Schwäbisch Hall ein solches Beispiel. Sieben Journalisten aus Sevilla besuchten die schwäbische Kleinstadt. Eine Woche darauf gingen bei der örtlichen Arbeitsagentur 13.000 Bewerbungen aus Spanien und Portugal ein. …Wie viele Tausend Polinnen arbeiten in deutschen Haushalten? Sie nehmen Berufstätigen die Pflege ihrer Angehörigen ab. ...Auf meinem Fachgebiet bringt eine Organisation mit dem Namen Informatics Europe die Dekane europäischer Informatik-Fakultäten zusammen. Letztes Jahr sprachen sie über die Vergleichbarkeit der Promotionsleistungen. Vielleicht wurde auch über nicht-besetzte Lehrstühle gesprochen. …

Die Bundestagswahlen im September letzten Jahres waren primär von innerdeutschen Themen bestimmt. Die Energiewende und der Mindestlohn waren oben auf der Agenda. Nach der Wahl war es schwierig, zu einer Regierungsbildung zu kommen. Jetzt scheint jedoch die Zeit gekommen zu sein, um wieder über Europa nachzudenken und zu reden. Obwohl es noch zu früh ist, um zu sagen, dass die Diskussion um Europa wirklich Fahrt aufgenommen hat, will ich zwei Ereignisse kommentieren, durch die Angela Merkel beweist, dass das Thema Europa vielleicht neu angegangen wird. Interessant fand ich auch, was George Soros in seinem Interview mit dem SPIEGEL-Journalisten Gregor Schmitz Anfang 2014 sagte. Auch das Buch von Henryk M. Broder von 2013 mit dem Titel ‚Die letzten Tage Europas‘, das ich gerade las, enthält vieles zum Nachdenken.

Merkels Rede in London

Als Erstes will ich auf Angela Merkels Rede in London vor beiden Häusern des Parlaments am 27.2.2014 hinweisen. Merkel war nach Brandt und von Weizsäcker erst der dritte deutsche Politiker, dem diese Ehre zuteil wurde. Die Rede ist primär zu sehen als Hilfe für David Cameron gegen die Europa-Kritik in Großbritannien. Bekanntlich hat Cameron versprochen, dass er – sollte er 2016 oder 2017 noch an der Regierung sein – eine Volksabstimmung über den Verbleib Englands in der EU durchzuführen wird.

Merkel gab offen zu, dass der europäische Einigungsprozess keine Einbahnstraße sei. Jede Zeit müsste das Optimum neu definieren. Es könnten auch Verantwortungen von Brüssel zurück an die Mitgliedsstaaten transferiert werden. Entscheidend sei das Subsidiaritätsprinzip. Brüssel dürfte nur das an sich ziehen, was es besser tun kann als einzelne Länder. Wir bräuchten ein starkes Europa und gleichzeitig starke Länder. Brüssel müsse die Länder stärker machen, nicht schwächen. Deutschland sei auf England angewiesen und umgekehrt. Der Maßstab unserer Politik solle Europas Situation in der Welt sein. Die Bevölkerungszahl von heute 7% sei im Begriff auf 5% bis 2050 zu sinken, die Wirtschaftsleistung (BIP) von 25% auf 10%. Wir könnten nur vom Wachstum in andern Weltregionen profitieren, indem wie zusammenarbeiten. Mögliche Bereiche der Kooperation seien neben der industriellen Wettbewerbsfähigkeit die Finanzordnung, aber auch Klima und Umwelt, Datenschutz und Einwanderungspolitik. Mit andern Worten: Es wäre ein Jammer, wenn England die EU verlassen würde.

Europa-Tagung in Berlin

Das zweite Ereignis, das ich kommentieren will, ist eine Veranstaltung in Berlin am 1.3.2014. Geleitet wurde sie von Monika Grütters, der neuen Kulturstaatsministerin. An der Veranstaltung, deren Ziel es sei ein ‚Neues Leitmotiv für Europa‘ (engl. new narrative for Europe) zu schaffen, nahmen außer Angela Merkel auch EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso teil. Folgende Themen wurden als mögliche Leitmotive herausgestellt: Gemeinsame Werte; Frieden, Freiheit, Demokratie und Wohlstand. Die aktuellen Ereignisse in der Ukraine zeigten die Aktualität dieser Werte, meinte die Kanzlerin. Der Euro sei das ‚Symbol für die gelungene friedliche und demokratische Einigung Europas. Er sei mehr, als eine Währung‘. Folgende Fragen seien diskutiert und in einer Erklärung zusammengefasst worden:
  • Was können Kultur und Wissenschaft an Vorstellungen und Ideen zur Lösung der heutigen Herausforderungen beisteuern?
  • Welche Wege würden Künstler, Wissenschaftler und Denker einschlagen, um ein stärkeres europäisches Bewusstsein unter den Unionsbürgern und einen stärkeren Gemeinsinn zu erzeugen?
  • Wofür könnte das europäische Projekt eingesetzt werden?
Leider scheint diese Veranstaltungsreihe in Kunst und Wissenschaft eine größere Chance für einen Antriebsmotor zu sehen als in der Wirtschaft. Der Berliner Veranstaltung gingen ähnliche (von Steuergeldern subventionierte Ereignisse) in andern europäischen Städten voraus. Trauriges Fazit: Vermutlich wieder reine Geldverschwendung.

George Soros grübelt über Europa

Soros wurde 1930 in Budapest geboren und hat es in den USA durch Devisenspekulationen zu großem Reichtum gebracht. Bekannt wurde er durch eine erfolgreiche Spekulation gegen das britische Pfund. Inzwischen betätigt er sich als Philanthrop und hat über eine Milliarde US $ zur Förderung ‚offener demokratischer Gesellschaften‘ vor allem in Osteuropa gespendet. Gerade wegen ihrer Attraktion und ihres Beispielcharakters für Osteuropa dürfe die EU nicht scheitern.

Leider sei Europa keine Erfolgsgeschichte mehr. Es sei eine Illusion zu glauben, dass Griechenland je in der Lage sein wird, seine Schulden zurückzuzahlen. EZB-Präsident Mario Draghi habe zwar die Märkte beruhigt. Die Probleme seien jedoch nicht gelöst. Europa müsse seine Stärke gemeinsam zur Geltung bringen, etwa in Form von Eurobonds. Deutschland müsse zu einem ‚wohlwollenden Hegemon‘ werden. Das entspräche dem, was die USA mit dem Marshall-Plan bewirkten. Deutschland spiele sich in Europa auf wie die Tea Party in Amerika. Es schließe sich ab und denke nur an seinen Vorteil.

Deutschland müsse mehr in die marode Infrastruktur des eigenen Landes investieren, was dann auch den Partnern zugute käme. Die Provinzialität der politischen Klasse würde der wirtschaftlichen Bedeutung des Landes nicht entsprechen.

Henryk Broders Spötteleien

Broder (Jahrgang 1946) ist ein aus Kattowitz in Polen stammender Publizist, der in Berlin, Hamburg und Israel lebt. Broders Buch rechnet mit Europa als einem großen Fehlschlag ab. Broder lässt kaum ein gutes Haar an den Institutionen der EU (Parlament, Kommission, Direktorate) oder an den europäischen Politikern (Rats-, Kommissions- und Parlamentspräsident).

Das Parlament sei überdimensioniert (766 Abgeordnete), aber machtlos. Es rotiere wie ein Wanderzirkus zwischen Brüssel und Straßburg. Die Kommission sei ein bürokratisches Monster (50.000 Beamte), kümmere sich aber mehr um Nebensachen (z.B. Krümmung von Gurken) als um echte Probleme (z.B. Jugendarbeitslosigkeit in Südeuropa). Die Kommission wisse nicht, was sie wollen soll. Dabei bezögen über 4.000 Beamte ein höheres Gehalt als die deutsche Bundeskanzlerin.

Die europäischen Politiker würden oft ‚dummes Zeug reden, ohne sich dafür zu schämen‘. Dabei verfüge jeder der drei Spitzenpolitiker (van Rompuy, Barroso, Schulz) über einen Stab von etwa 40 Mitarbeitern. Brüssel erinnere ihn an Systeme, die kurz vor ihrem Verfall ihre eigene Propaganda als Wahrheit ansahen (wie die DDR oder die Sowjetunion). Er rät davon ab, neue Aufgaben an Brüssel zu übertragen oder die Union zu vertiefen. Eine Verschnaufpause oder Auszeit sei angebracht. Das Problem sei nur: Die nächste Krise kommt bestimmt und wartet nicht.

Ein bisschen eigener Senf

Der derzeit schwelende Konflikt zwischen Russland und dem Westen über die Ukraine dient vielen Kommentatoren dazu, über die außenpolitische Schwäche der EU zu lamentieren. Ich halte dies für etwas unüberlegt, um nicht zu sagen leeres Gerede. Nicht nur ist jede Krise anders. Jede Krise enthält vor allem eine Chance, darüber nachzudenken, wie man für ähnliche Situationen aufgestellt sein möchte. Eine politische Organisation ist wie jede Organisation ein Mittel zum Zweck (klingt durchaus nach Pragmatismus!). Die Frage ist, wäre eine anders organisierte EU in einer besseren Verhandlungsposition. Ich tendiere dazu, dies zu verneinen.

Die Länder, die direkt verhandeln (Deutschland, England, Frankreich und Polen), tun dies in Abstimmung mit der Kommission. Sie lassen sich allerdings nicht von Brüssel vorschreiben, ob, wann und wie sie aktiv werden. Ich bin überzeugt, dass Angela Merkel anders mit Wladimir Putin reden kann, als dies EU-Präsident Barroso tun kann. Das liegt nicht nur daran, dass Merkel und Putin sich beide sowohl in Russisch wie in Deutsch deutliche Worte sagen können. Barroso beherrscht keine der beiden Sprachen. Das ist aber nur ein oberflächlicher Grund. Ein mittelgroßes Land wie Deutschland kann anders gegenüber einem großen Land wie Russland auftreten als die EU. Nur dann, wenn die Zahl der Panzer entscheidet, ist die Stärke eines Partners von Vorteil. Das ist aber nicht (mehr) der Fall, auf den es ankommt. Anders ausgedrückt, meist ist eine Netzorganisation (engl. mesh, web) einer hierarchischen Struktur überlegen.

Die Regulierungswut sollte als Fehlentwicklung anerkannt werden und unnötige Vorschriften schnellstmöglich abgeschafft werden. Edmund Stoiber, der angeblich diesen Auftrag hat, scheint zu resignieren. Wenn dies der Fall ist, sollte jemand anderes einspringen. Ob es wirklich nötig ist, die Doppelspitze bestehend aus Rats- und Kommissionspräsident langfristig zu haben, sollte hinterfragt werden. Auch ein unpolitischer Kommissionspräsident könnte die Sitzungen der Länderchefs vorbereiten und leiten. Da alle Mitgliedsstaaten ohnehin Vertretungen vor Ort haben, könnte man die Zahl der Sitzungen der Regierungschefs sehr leicht auf 2-3 pro Jahr reduzieren.

Da es so schwer zu sein scheint, ein Narrativ, also eine emotional verbindende Erzählung zu finden, sollte man das Suchen nach ihr für die nächsten 10 Jahre einstellen. Man sollte sich im Gegenteil bemühen, die Verantwortung und die Funktion der Kommission einzuschränken auf solche Dinge, von deren Nutzen alle Mitgliedsstaaten überzeugt sind. Dabei könnte die pragmatische Herangehensweise der Briten als Richtschnur dienen. Die Schaffung von Institutionen oder die Einführung von Regulierungen sollten – genau wie die oben erwähnte Gestaltung von Organisationen – nie Selbstzweck sein, sondern nur Mittel zum Zweck. Man muss sie hin und wieder in Frage stellen dürfen.

Am 5.3.2014 schrieb Otto Buchegger aus Tübingen:
 
Ich habe vor einiger Zeit mir auch dazu Gedanken gemacht. Sie finden sie hier. Allerdings sehe ich keine Änderung in den Strukturen und wandle mich vom begeisterten Europäer zum skeptischen Europakritiker.