Samstag, 22. November 2014

Westfälische und andere Weltordnungen, erklärt von Henry Kissinger

Wer kennt nicht Henry Kissinger, der 1923 in Fürth als Heinrich Alfred Kissinger geboren wurde und mit 15 Jahren Deutschland verlassen musste? Er wuchs im Stadtteil Washington Heights von Manhattan auf, kam als Soldat ins Nachkriegs-Deutschland und wollte Historiker in Harvard werden. Er wurde Sicherheitsberater mehrerer US-Präsidenten und späterer Außenminister. Er nahm großen Einfluss auf die amerikanische Politik und ist daher nicht unumstritten  ̶  in Amerika und anderswo. In Deutschland genießt er ein hohes Ansehen und gilt als Freund von Altbundeskanzler Helmut Kohl und Fan der Spielvereinigung Fürth. Seinen vielen Büchern, mit denen er seine und die US-Politik erläuterte, hat er in diesem Jahr eines hinzugefügt. Es heißt Weltordnung und hat 480 gedruckte Seiten. Ich las das Buch mit Vergnügen und kann es weiter empfehlen. 

Von der Weltordnung zum Völkerrecht 

Bei dem Wort Weltordnung denkt man an das Bestreben, in dem offensichtlichen Chaos, das sich im Wettbewerb der Nationen abspielt, für Recht und Ordnung zu sorgen. Nur ein ganz junger oder ein ganz alter Politiker, einer unter 30 oder einer über 80, haben den Mut, sich mit dem Thema zu befassen. Kissinger gehört zur zweiten Kategorie. Als Beispiel und Bezugspunkt benutzt Kissinger die Ordnung, die 1648 durch den Frieden von Münster und Osnabrück geschaffen wurde. Damals wurde ein 30-jähriger Religionskrieg beendet, der fast alle europäischen Staaten in Mitleidenschaft gezogen hatte. 

Der so genannte Westfälische Friede benutzte bestimmte Prinzipien, um wieder Ordnung herzustellen, und zwar in einer Weltregion, in der fast ein Jahrhundert lang nur Willkür und Gewalt herrschten. Es hatte sich eine Pattsituation eingestellt. Keine Macht war noch stark genug, um eine Ordnung vorzugeben. Die einzelnen Teilnehmer hatten sehr unterschiedliche Interessen und verfolgten unterschiedliche Ideologien. Es gab lange, penible Verhandlungen. Nur als Indiz: Der Tagungsraum wurde so umgebaut, dass jede Delegation einen eigenen Eingang hatte, damit alle gleichzeitig am Verhandlungstisch erscheinen konnten.  

In den Verhandlungen wurde alles ausgeklammert, über das vorher Krieg geführt worden war, also alle religiösen und politischen Streitfragen. Es ging nur darum, einen Modus vivendi, ein Prozedere, für die Zukunft zu finden. Es wurde eine inhärente Gleichheit souveräner Staaten vereinbart, unabhängig von ihrer Macht und ihrer inneren Ordnung. Es wurden keinerlei moralische Ansprüche erhoben, noch gab es einen supernationalen Ordnungshüter. Es wurde der Austausch von Diplomaten vereinbart, mit dem Ziel, den Frieden zu sichern. Für die Austragung von Streitigkeiten wurden Verfahrensweisen festgelegt. Daraus entstand das, was als Völkerrecht bezeichnet wird. 

Europäische Ordnungen und ihre Anfechtungen 

Die Westfälische Ordnung wurde in ganz Europa zur Seite geschoben, als sich mit der Französischen Revolution eine neue Staatsauffassung durchsetzte. Nicht eine Elite bestimmte jetzt die Politik, sondern die Masse des Volkes. Nicht die Rationalität gab den Ausschlag, sondern Emotionen. Napoléon ersetzte zwar die Massen durch seinen Willen. Mit dem Weltgeist zu verhandeln, war allerdings nicht vorgesehen. Der Wiener Kongress kehrte jedoch voll zur Westfälischen Ordnung zurück. Frankreichs Vertreter war als Vertragspartner voll akzeptiert. Metternich, Castelreagh und andere schufen eine Landkarte, in der Staaten eine strategische Aufgabe hatten. Nur deshalb kam das Rheinland zu Preußen, weil England keinen schwachen Nachbarn zu Frankreich haben wollte. Weder Bismarck noch Hitler ließen sich später in eine Ordnung zwängen. Über Bismarck und Preußen führte ein gerader Weg zum Ersten Weltkrieg. Da die Sieger in Versailles nur an Rache und nicht an Balance dachten, war Hitler unvermeidlich. Mit dem Zweiten Weltkrieg wiederholte sich die Katastrophe. 

USA und ihre geschichtliche Verantwortung 

Schon die Pilgerväter verfolgten das Ziel, sich von Europa abzusetzen und für sich eine bessere Welt zu schaffen. Spätere Politiker standen vor der Frage, ob sie diese Verantwortung nur für ihr Land oder für die ganze Welt hätten. Sie beantworteten diese Frage mal mehr in die eine, mal mehr in die andere Richtung. Die meisten akzeptierten es jedoch als Schicksal (engl. manifest destiny), dass sie gar nicht umhin könnten, sich der Verantwortung für die Welt zu stellen. Zwei Präsidenten, die sich besonders für den Weltfrieden engagierten, waren Woodrow Wilson und Franklin D. Roosevelt (FDR). Nur einer ihrer Vorgänger spielte eine starke Rolle in der Weltpolitik: Teddy Roosevelt. Er betrieb die expansivste Politik aller amerikanischen Präsidenten, annektierte Porto Rico, Hawaii, Guam und die Philippinen und vermittelte im Russisch-Japanischen Krieg einen Friedensvertrag. 

Wilson führte die USA in den ersten Weltkrieg, um universellen Moralansprüchen gerecht zu werden. Er wollte die Welt für die Demokratie retten. Er forderte den Rücktritt des deutschen Kaisers, bevor über Frieden verhandelt werden sollte. Das Schlimmste wäre, Deutschland würde das Regierungssystem beibehalten, das es in den Krieg trieb. Nur auf Demokratien sei Verlass. Kissinger macht keinen Hehl aus seiner Ansicht, dass der von Demokraten ausgehandelte, und Deutschland diktierte Friedensvertrag von Versailles alles andere als optimal war. Auch schuf Wilsons Betonung linguistischer und ethnischer Gesichtspunkte instabile Nationalstaaten in Europa mit gemischten Bevölkerungen. Anders als Frankreich nach dem Wiener Kongress, war Deutschland anschließend nur von Kleinstaaten umgeben, die nicht in der Lage waren, es in Schach zu halten.

Der von Wilson geschaffene Völkerbund war kein Zweckbündnis mit Zähnen, sondern ein moralisches Weltgewissen. Sein Scheitern war unvermeidlich. FDR hatte Wilsons Ideen weiter entwickelt. Die mit Churchill 1941 verfasste Atlantik-Charta definierte eine Weltordnung, in der selbst die damals noch bestehende britische Kolonialmacht keinen Platz mehr hatte. Die UN bekam mehr Biss als Wilsons Völkerbund, da sie mit vier Weltpolizisten (USA, UK, Sowjetunion und China) versehen war, die Aktionen ergreifen konnten.  

Herausforderung Kommunismus und sein Zusammenbruch 

Als ideologische und machtpolitische Herausforderung machte der Kommunismus von sich reden genau in dem geschichtlichen Moment, als Nazi-Deutschland und Japan bezwungen waren. FDR bemühte sich noch 1943 in Teheran um Freundschaft mit Stalin. Er hoffte, in Vieraugen-Gesprächen Weltprobleme ansprechen zu können. Er musste jedoch erfahren, dass dies nicht möglich war. Von da an blieb keine andere Wahl, als sich der ideologischen Schubkraft der Sowjets zu widersetzen. Es kam zur Gründung der NATO als gezielter Allianz gegen die russische Bedrohung. Eine generelle Friedenssicherung durch die UN war nicht länger möglich. Der Marshall-Plan leitete den wirtschaftlichen Wiederaufbau Europas ein. 

Harry Truman fiel die Aufgabe zu, die Widerstandskraft des Westens zu beweisen. Sein Test wurde der Koreakrieg und er bestand ihn glänzend. Er konnte den Aggressor zurückweisen und das eigene Militär in Schranken halten. Einen ähnlichen Erfolg hatte George Bush sen. später im zweiten Golfkrieg, als Sadam Husseins Angriff auf Kuweit zurückgeschlagen wurde. Im Falle Vietnams (und später im Irak und in Afghanistan) verlief die Sache weniger gut. Es kam zum Zusammenbruch des nationalen Konsenses. Übrig blieb ein von Wut und Trauma gespaltenes Land. Es war Ronald Reagan, der die Schwäche der Sowjetunion erkannte und den Kalten Krieg beendete. Er handelte nicht nur eine effektive Atomwaffenkontrolle aus. Mit Gorbatschow hatte er die ersten friedensstiftenden Gespräche (in Reykjavik), an deren Ende die deutsche Wiedervereinigung stand. 

Europäischer Einigungsprozess 

Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges hatten Politiker wie Konrad Adenauer, Robert Schumann und Alcide de Gasperi die Vision, die Fehler zu überwinden, die Europa zweimal in Katastrophen stürzten. Es kam zu den Römischen Verträgen und der heutigen EU. Die EU bedeutet kein Zurück zum Westfälischen Frieden, sondern dessen Weiterentwicklung. Wie einst im Hl. Römischen Reich rückt der Nationalstaat wieder in den Hintergrund, einer übergeordneten Idee zuliebe. Allerdings leidet die EU darunter, dass alle Politiker eine Politik des nationalen Vorteils betreiben müssen, um gewählt zu werden. 

Reich der Mitte 

China war ein auf sich selbst ruhender Staat seit 2000 Jahren, ehe der Westen von ihm Notiz nahm und umgekehrt. Es war eine Welt für sich und verfügte über eine eigene Weltordnung. Der Kaiser verlangte Ehrerbietung von allen Ländern ‚unter dem Himmel‘. Das musste König George III. von England zur Kenntnis nehmen, als seine Vertreter am chinesischen Hofe vorstellig wurden. ‚Wenn Ihre Leute nicht bereit sind den Kotau zu machen, sollten sie lieber zuhause bleiben. Und Geschenke können Sie sich sparen. Wir besitzen schon alles‘. so schrieb ihm 1793 der chinesische Kaiser. Da die Engländer sich nicht abweisen ließen und ein blühendes Opium-Geschäft aufbauten, ist dies ein Grund, warum China sich auch heute noch allen Offerten des Westens gegenüber skeptisch verhält. 

Obwohl beide, Amerikaner wie Chinesen, sich für einzigartig halten, kam es – nicht zuletzt durch Kissingers Wirken  ̶  zu einer Annäherung und vorsichtigen Kooperation. Am Anfang ging es darum. die Sowjetunion unter Druck zu setzen. Seit China als Wirtschafts- und Militärmacht zu den USA aufgeschlossen hat, geht es nicht nur um militärisches Gleichgewicht, sondern um eine strategische Partnerschaft. Dabei wird eine neue Form der Weltordnung entstehen. 

Muslimische Welt und islamistischer Terror 

Während die chinesische Weltordnung auf sich selbst beruht, ist dies beim Islam anders. Seit seinem Bestehen hat er das Ziel, die ganze Welt zu erobern. Mehrere Angriffe auf Westeuropa wurden zwar gestoppt (732 in der Schlacht von Tours und Poitiers, bzw. 1529 und 1683 vor Wien), nicht jedoch die Ausdehnung in Asien. Während im Falle Chinas und auch Russlands (dessen Behandlung hier weggelassen wurde) ein Interessenausgleich möglich zu sein scheint, ist Kissinger sehr skeptisch, wenn es um den Islam geht. Bei allen Auseinandersetzungen mit dem Islam stand ein prophetischer Absolutheitsanspruch im Wege. Man war unfähig, sich auf eine minimale Legitimität zu einigen. Die Eroberung neuer Länder war nicht ein imperialistisches Unterfangen, sondern religiöse Pflicht. Das Ziel war und ist ein superethnischer Staat, eine eigene, neue Weltordnung. 

In der christlichen Welt wurde irgendwann eine Trennung von Kirche und Staat vollzogen, eine Trennung, die der Islam bis heute nicht kennt. Der Gläubige hat die Aufgabe, den Dschihad, d.h. die Ausbreitung des wahren Glaubens, durch Herz, Zunge, Hände oder Schwert zu betreiben. Der Islam lässt keine dauernden Verträge zu. Die heutigen Grenzen im Nahen Osten wurden ihm ohnehin in einer Schwächephase nach dem Ersten Weltkrieg aufgezwängt (Vertrag von Sèvres, Sykes-Picot-Abkommen, Balfour-Erklärung). Die Muslimbrüder als politischste Bewegung innerhalb des Islams sehen sich mit ihrer Weltordnung einer westfälischen Ordnung gegenüber als überlegen an. Sie wollen den Säkularismus und die nationalen Grenzen überwinden. Westliche Politiker machen immer wieder den Fehler, dass sie die extreme Positionen, wie sie die Muslimbrüder vertreten, als metaphorisch oder verhandelbar ansehen. Sie sind es nicht. Gesprächsbereitschaft ist oft nur Taktik, es ist keine strategische Wende damit verbunden.  

Nach Ende des Kalten Krieges trat der Jahrhunderte alte Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten wieder hervor. Für beide ist die Existenz Israels jedoch eine Glaubensfrage. Die Israelis halten ein früheres muslimisches Gebiet besetzt. Kein Muslim darf einmal besetztes Land wieder aufgeben. Osama bin Laden und seine Anhänger sahen friedliche Methoden als nutzlos an, um ihre Ziele zu erreichen. Sie bekämpften die USA, weil sie ihnen als der mächtigste Gegner ihres Glaubens erschien. Im Iran ist die Gegnerschaft zu den USA Teil der Staatsräson. Deshalb sind die Fortschritte bei der Urananreicherung nicht verhandelbar. 

Der so genannte Arabische Frühling hat bewiesen, dass die Hoffnung auf eine Verwestlichung Ägyptens und Tunesiens eine Illusion war (engl.: wishful thinking). Syrien und der Irak sind unfähig sich nach westfälischen Prinzipien zu gestalten; ebenso Libyen und Pakistan. Seit dem Auftreten der Terrororganisation Islamischer Staat (IS) ist die Situation noch verworrener geworden. Die Werte des Westens, Demokratie, Freiheit und Gleichberechtigung der Frauen, werden weitgehend in Frage gestellt. In Indien, dem Staat mit der zweitgrößten Bevölkerung der Welt, leben zwar mehr Muslime als in Pakistan. Das Land ist aber eher bereit, den westfälischen Prinzipien zu folgen als der ganze Nahe Osten. Das gleiche gilt für andere fernöstliche Staaten wie Thailand und Vietnam. 

Perspektiven für eine friedliche Zukunft 

Trotz der wenig erfreulichen Aussichten des letzten Abschnitts hat die Politik die Aufgabe, Ordnung mit Freiheit zu versöhnen. Es besteht immer die Gefahr, dass Dämonen (Autokraten, Chaoten, Fanatiker) die Macht ergreifen. Es ist Staatskunst gefragt, um dies zu verhindern. Die UN besitzt viele Werkzeuge für friedenssichernde Maßnahmen. Sie ist jedoch gelähmt, wenn die Großmächte sich nicht einigen können. Frieden und Ordnung zu schaffen, ist ein fortdauernder Prozess. 

Die USA sind heute eine ambivalente Supermacht. Alle 12 Präsidenten seit Eisenhower konnten sich auf die Entschlossenheit des amerikanischen Volkes verlassen, überall auf der Welt für Demokratie und Freiheit einzutreten. Die USA laufen jetzt Gefahr der Überforderung und Desillusionierung. Aus den letzten drei Kriegen (Vietnam, Irak, Afghanistan) gingen sie nicht als Sieger hervor. Der den Amerikanern innewohnende Idealismus und Exzeptionalismus stoßen an Grenzen angesichts von Tausenden Toten. ‚Wir Amerikaner sind ein moralisches Volk.‘ so zitiert Kissinger seinen Amtsvorgänger George Shultz. ‚Die Außenpolitik soll Werte berücksichtigen. Wir sind aber auch ein pragmatisches Volk. Wir wollen, dass die Außenpolitik Wirkungen erzielt.‘ Amerikaner gehen am liebsten davon aus, dass Vernunft herrscht und dass ein friedlicher Kompromiss möglich ist.  

Die rein prozedurale, wertneutrale Weltordnung, wie sie beispielhaft im Westfälischen Frieden zum Ausdruck kam, gab keine Richtung für eine Weiterentwicklung vor. Sie sollte aber weiterentwickelt werden, auch über das hinaus, was bereits durch die EU für Europa realisiert wurde. Kissinger glaubt, dass die Technik und vor allem das Internet, ein großes Potenzial in Bezug auf die internationale Kommunikation besitzen. Die Multipolarität muss als Kern der Staatenordnung wieder fest in ihr verankert sein. Es ist möglich, dass regionale Blöcke die Aufgaben der Staaten übernehmen. Die Machtbalance muss durch eine neue Legitimität ergänzt werden. ‚Macht ohne Moral führt zum Kräftemessen, Moral ohne Ausgewogenheit zu Kreuzzügen‘ meint Kissinger. Beides sollte man tunlichst verhindern.  

Im Gegensatz zur Zeit des Westfälischen Friedens sollte man heute die Wirtschaft stärker berücksichtigen. Die globalisierte Wirtschaft ignoriert heute alle Grenzen, an die Politiker jedoch gebunden sind, seien es die von Staaten oder Staatenblöcken. Gipfeltreffen verkommen daher fast immer zu PR-Veranstaltungen, mit denen die nationale Wählerschaft beeindruckt werden soll. Dabei fehlt es nicht an Aufgaben und Problemen, die nur durch internationale Kooperation gelöst werden können. Die Geschichte kann zeigen, welche Konzepte sich bewährten und welche nicht. Die richtige Lösung muss jede Generation selbst suchen.

Sonntag, 16. November 2014

London und Rom

Während meines Berufslebens und danach besuchte ich beide Städte, und zwar mehrmals. Ich will nur einige Details von meinem letzten Rombesuch im Jahre 2002 nachtragen. Sie sind auf der CD Gunst und Kunst des Reisens enthalten. 

Patriarchalkirchen 

Bei diesem Besuch besuchten wir neben anderen Kirchen auch alle vier Patriarchalkirchen Roms. Statt einer ausführlichen Beschreibung, erwähne ich nur ihre Besonderheiten. Sankt Johann im Lateran war früher der Sitz des Papstes. Hier liegt Silvester II., auch bekannt als Gerbert d’Aurillac, begraben. Santa Maria Maggiore hat eine herrliche Seitenkapelle. Sankt Paul vor den Mauern ist die schönste Gesamtanlage. In ihrer Rotunde gibt es Rundbilder aller Päpste.

 
Abb. 1: St. Johann im Lateran 

In Sankt Peter waren wir dreimal. Der Grund dafür war die Suche nach dem Grab von Ludwig Kaas, über den ich gerade einen Artikel für das „Neue Trierische Jahrbuch“ geschrieben hatte.

Abb. 2: Santa Maria Maggiore 

Den ersten Versuch machten wir an einem Samstag (14.9.). Wir hatten eine Stadtrundfahrt mit dem Bus gebucht, die uns von der Station Termini zu den Hauptsehenswürdigkeiten der Stadt brachte. Dabei konnte man mehrmals aussteigen und eine oder zwei Stunden später weiterfahren. Unser erster Zwischenstopp war am Petersplatz. Wir folgten den anstehenden Gruppen durch die Sicherheitskontrolle in die Peterskirche. Dort stiegen wir in die Krypta hinab, in der sich die Papstgräber befinden. Wir suchten einen Seitengang, der zum Kaas-Grab führen würde, fanden aber keinen. Da der Fluss der Besucher in der Krypta nur in einer Richtung ging, stiegen wir am Ende der Krypta wieder nach oben. Vor dem Petersdom fragten wir einen Schweizer Gardisten (in Deutsch) nach dem deutschen Friedhof, dem Campo Santo Teutonico. Er zeigte uns die Richtung, sagte aber, dass er nachmittags geschlossen sei. Das beste wäre, wir kämen am nächsten Morgen um neun Uhr in die deutsche Messe in der benachbarten Kapelle. Dann könnten wir den Direktor bitten, uns hineinzulassen.

 
Abb. 3: St. Paul vor den Mauern

Da wir am Sonntag etwas anderes vorhatten, kamen wir erst am Montag (16.9.) wieder auf den Petersplatz. Der Schweizer Gardist erkannte uns wieder und ließ uns zum deutschen Friedhof durch. Dort fanden wir nach einigem Suchen das Grab von Johannes und Karin Schauff, sowie das von Schwester Pascalina Lehnert. Schwester Pascalina war die Haus­hälte­rin von Papst Pius XII. Schließlich fanden wir auch einen Grabstein von Ludwig Kaas. Darauf stand, dass er von 1952 bis 1965 hier gelegen habe, dann aber in die Basilika von St. Peter um­gebettet worden sei. Wir erkundigten uns im Nebenhaus, wie man zu den Gräbern im Peters­dom käme, und wurden an eine Seitentür der Kirche verwiesen, dem Büro der Aus­grabungen (Ufficio Scarvi). Als wir dort unseren Wunsch vortrugen, an einer Besichti­gungs­tour teilzunehmen, erhielten wir die Antwort: „Vielleicht nächste Woche; diese Woche haben wir schon zu viele Anmeldungen“. Wir machten uns den Vorwurf, mal wieder schlecht geplant zu haben, und stellten uns in die mehrere Kilometer lange Schlange, die zu den vatikanischen Museen führte.

 
Abb. 4: Schweizer Gardist 

Am Mittwoch darauf besuchten wir Sankt Paul vor den Mauern. Im Souvenirladen lag ein schöner Bildband über die Patriarchal-Basiliken Roms, den wir erwarben. 

Grab eines Trierers  

Im Abschnitt über den Petersdom befand sich ein kleines Bild, welches das Grab von Ludwig Kaas wiedergab, sowie eine Wegbeschreibung, wie man dorthin gelange. Nach diesem Fingerzeig war klar, dass wir noch ein drittes Mal suchen mussten. Am Donnerstag (19.9.) marschierten wir zielstrebig auf den Lon­ginuspfeiler zu. Das ist einer der vier Pfeiler, welche die Kuppel der Peterskirche tragen. Er ist benannt nach der Statue des Soldaten Longinus, der am Kreuz stehend mit seiner Lanze die Brust Christi öffnete, um seinen Tod festzustellen. Wir mussten feststellen, dass der Ein­stieg in die Krypta an dieser Stelle verschlossen war. Daraufhin gingen wir zum gegen­über­liegenden Andreaspfeiler und fragten einen der dort postierten Aufseher, ob er wisse, wo sich die deutsche Kapelle (capella tedesca) und das Grab von Prälat Kaas befinden. Er meinte, eine „Capella tedesca“ gäbe es nicht, aber das Grab von „Bischof Kaas“ sei gleich unten rechts. Wir stiegen also am Andreaspfeiler ein, fanden aber weder rechts noch links einen Hin­weis auf das Grab von Kaas.  



Abb. 5: Grab von Ludwig Kaas

Ich fragte auch eine Reiseleiterin, die gerade mit ihrer Gruppe aus einem abgeschlossenen Teil der Krypta herauskam. Da sie uns nicht helfen konnte, stiegen wir entgegen der Richtung des Besucherverkehrs wieder die enge Treppe nach oben. Oben ange­kommen, machten wir dem dort noch stehenden Wächter mittels trauriger und verzweifelter Mimik klar, dass wir erfolglos waren. Darauf gab er seinem gerade in der Nähe stehenden Chef ein Zeichen. Dieser deutete mir an, ihm zu folgen. Ich alarmierte meine Frau und hinunter ging es wieder über die steile Treppe am Andreaspfeiler. Unten ange­kommen, öffnete unser Begleiter mit seinem Schlüssel die rechte Seitenkapelle und deutete auf das Kaas-Grab. Ich machte schnell meine Photos. Als ich dem Oberaufseher zum Dank ein Trinkgeld geben wollte, lehnte er ab. Er schloss die Kapelle und wir folgten dem Touristen­strom zum normalen Ausgang. 

Andere Höhepunkte 

Natürlich besuchten wir auch einige der bekannten Sehenswürdigkeiten der Stadt, da wir zuletzt vor 30 Jahren dort waren. Wir benutzten ausschließlich öffentliche Verkehrsmittel. Bei einer U-Bahnfahrt zog mich meine Frau plötzlich zur Seite. Sie hatte eine Hand gesehen, die unter einer Zeitung hervor kam und sich in Richtung auf meine Hosentasche bewegte.



Abb. 6: Spanische Treppe 

Die Spanische Treppe und die Fontanta di Trevi waren fest in der Hand von Touristen. Kaffee und Kuchen gab es im Cafe Greco nahe der Spanischen Treppe für 25 Euro.

 
Abb. 7: Bei Marc Aurel am Kapitol

Ganz in Ruhe konnten wir uns die Exponate in beiden Museen des Kapitols (Konservatorium, Neues Museum) ansehen. Der Blick über die Dächer der Stadt ist hier sehr lohnend. Dass die Statue des Marc Aurel die Jahrhunderte überlebt hat, hat er einem Irrtum zu verdanken. Man hielt den Reiter lange Zeit für Kaiser Konstantin, der ja bekanntlich das Christentum zur Staatsreligion gemacht hatte.


Abb. 8: Im Colosseum 

Das Collosseum wie das Forum konnten wir uns gründlich ansehen. Dass hier andere Touristen herum liefen, störte nicht. Wir besuchten auch das Goethe-Haus (Casa Goethe) an der Piazza del Populo und waren überrascht, dort das allseits bekannte Bild Tischbeins zu finden, das Goethe in der Campagne zeigt, also während seiner Italienreise. In der Casa Goethe sahen wir auch Goethes Versuche als Landschaftsmaler. Es war der am Hof des Königs von Neapel (in Caserta) tätige deutsche Maler Jakob Philipp Hackert, der mit ihm übte und ihn (zu unserer aller Glück) überzeugte, sich auf seine andere Begabung zu konzentrieren.


Abb. 9: In der Casa Goethe 

Dass Goethes Sohn in Rom begraben liegt, erfuhren wir erst als wir vor seinem Grab auf dem Evangelischen Friedhof standen. Auf demselben Friedhof bei St. Paul vor den Mauern liegen Wilhelm Waiblinger begraben, sowie ein Kind Humboldts (*1794 in Jena, †1803 in Rom). Wilhelm Friedrich Waiblinger (*1804 in Heilbronn; †1830 in Rom) war ein deutscher Dichter der Romantik und mit Hölderlin und Mörike befreundet.

Mittwoch, 12. November 2014

Prägen Romantik und Idealismus (immer noch) die deutsche Seele?

Als Romantik wird in der deutschen Kulturgeschichte die Zeit zwischen 1795 und 1848 verstanden. Im Westen Deutschlands, also meiner Heimat, ist es die Zeit vom Beginn der französischen Besatzung bis zum Scheitern der demokratischen Revolution. Die Wörter Romantik und romantisch bezeichnen heute einen Zustand starker Gefühlsbetontheit, verbunden mit der Sehnsucht nach einer verklärten, ja idealen Welt. Der Drang nach Unendlichkeit gehört dazu, sowie die Forderung nach völliger Subjektivität, Individualisierung, Freiheit und Unabhängigkeit, verbunden mit einer Vorliebe für das Traumhafte, Wunderbare, Unbewusste und Übersinnliche. Wir verbinden die Romantik mit Namen wie Novalis, Eichendorff und den Brüder Grimm, aber auch mit Lortzing, Richard Wagner und Ludwig II. von Bayern. Es war eine Gegenbewegung zur Aufklärung. 

Demgegenüber fasst der Begriff Idealismus unterschiedliche Strömungen und Einstellungen zusammen, die „hervorheben, dass die Wirklichkeit in radikaler Weise durch Erkenntnis und Denken bestimmt ist, oder dass Ideen die Fundamente von Wirklichkeit, Wissen und Moral ausmachen. Im engeren Sinn wird als Vertreter des Idealismus bezeichnet, wer annimmt, dass die physikalische Welt nur als Objekt für das Bewusstsein oder im Bewusstsein existiert oder in sich selbst. Eine typische Form des deutschen Idealismus verbindet sich mit Namen wie Hölderlin, Schelling und Hegel. Ihre geistige Heimat war das evangelische Stift der Universität Tübingen. 

Heutige Erscheinungsformen 

Sowohl romantische wie idealistische Vorstellungen haben im Leben der Deutschen eine große Rolle gespielt. Das gilt auch heute noch, im Jahre 2014. Man begegnet ihnen in vielen Lebensbereichen und Fachgebieten. Die Romantik treibt ihre Blüten bei Weihnachts- und Jahrmärkten,  Mittelalterfesten und Ritterspielen, Prozessionen und Wallfahrten. Ebenso bestimmt sie das Treiben von Heimat-, Schützen-, Trachten- und Wandervereinen. An Burgen und Schlössern, Sagen und Märchen, dem rheinischen Karneval und deutschen Gartenzwergen erfreuen sich Einheimische wie Touristen. Dabei geht es fast immer gegen die Vernunft, gegen das Rationale, gegen die Technik oder die Moderne. Es werden Probleme und Gefahren, Leid und Ungerechtigkeit ausgeklammert, ja das Alltägliche und Banale. Streng genommen steckt ein Stück Romantik auch im Programm der Grünen, der AfD, der Neo-Nazis und der Islamisten. Sie können und wollen sich nicht mit der gesellschaftlichen Realität abfinden. 

Eine von der Realität abgehobene Betrachtungsweise ist auch kennzeichnend für alle heutigen Anhänger des Idealismus. Sie sind eher in akademischen Kreisen zu finden als unter dem breiten Volk.

Blick nach anderswo 

Romantik und Idealismus gibt es auch in andern Ländern. Sie sind dort aber weniger bestimmend als in Deutschland. Besonders der Pragmatismus der Angelsachsen sticht als Gegensatz hervor. Es gibt dort weniger den  Streit zwischen Theorie und Praxis. Man darf mit einer unvollkommenen oder theoretisch nicht ganz durchdachten Lösung beginnen und verbessert diese Schritt für Schritt. Die Engländer können sogar eine Demokratie praktizieren, Jahrhunderte lang, ohne eine geschriebene Verfassung zu haben. Sie sprechen Recht, basierend auf dem Urteil von Laien.  

Die Romantik gibt es bei Angelsachsen, Franzosen und Russen auch, ist aber schwächer ausgeprägt als bei uns. Frankreich ist bekanntlich die Heimat des Rationalismus und der Aufklärung. In der Person Voltaires gab es eine Brücke nach Preußen, zu Friedrich dem Großen. Sie bestand nicht allzu lange. Danach übernahm die Romantik.  


Nachtrag am 13.11.2014:

In den Tagen als Alexander Gerst von der ISS zur Erde zurückkehrt, die ESA mit der Raumsonde Rosetta das Landegerät Philae auf dem Kometen Tschuri plaziert, die Terrororganisation Boko Haram immer noch hunderte Schülerinnen in Nigeria festhält, der IS weiterhin die syrische Stadt Kobane belagert, und die Präsidenten Obama und Xi sich auf langfristige Klimaziele einigen, sollte man sich eigentlich nicht nur mit Trends und Streitfragen der deutschen Vergangenheit befassen.


Die großen Fragen der Gegenwart und der Zukunft, welche die Menschheit als Ganzes berühren, sollten unserer Aufmerksamkeit nicht entgehen. Ich möchte daher in den kommenden Monaten versuchen, das Interesse der Beitragenden und der Leser wieder in diese Richtung zu lenken. Ob und wie weit es mir gelingt, wird sich zeigen. Eigentlich sind die bevorstehende Festtags-Saison und das Jahresende dafür besonders geeignet.


Nachtrag am 15.11.2014: 

Heute wies mich Hartmut Wedekind darauf hin, dass zum Deutschen Idealismus auch der Königsberger Kant und der Jenaer Fichte zu rechnen sind. Es gibt mehrere mögliche Erklärungen dieses Sachverhalts: 

(1) Meine Darstellung des Idealismus hatte einen süddeutschen Bias hin zum absoluten Idealismus. Sie erachtete die norddeutschen Beiträge als vernachlässigbar.
(2) Eine nationalbewusste deutsche Philosophie ist gründlicher als eine neutrale, wenn es um deutsche Beiträge geht.
(3) Die Südhessen denken eher an die Norddeutschen als Bayern, Franken und Schwaben. Ob sie als Norddeutsche (so genannte Fischköppe) kategorisiert sein wollen, ist eine andere Frage. 

Da Kant und Frege schon des Öftern gewürdigt wurden, würde es mich freuen, wenn man Hegel mal thematisieren könnte. Es gibt Leute, unter anderem in den USA, die mir klarzumachen versuchten, dass Hegel der einflussreichste deutsche Philosoph war.

Donnerstag, 6. November 2014

Lutz Wegner über die Einrichtung eines universitären Informatikstudiengangs und das politische Umfeld

Lutz Wegner ist seit 1987 Professor und Fachgebietsleiter für Praktische Informatik/Datenbanken am Fachbereich Elektrotechnik/Informatik der Universität Kassel. In den Jahren 2000 und 2001 engagierte sich Wegner mit Kollegen vor Ort erfolgreich für den Aufbau eines Informatikstudiengangs (Hauptfach), was am Ende zu drei Stiftungsprofessuren und weiteren Neuberufungen führte. Die Wirtschaft wurde hierbei als Förderer des neuen Studiengangs erfolgreich „aktiviert“ und von Beginn an stark miteinbezogen. Wegner hatte vorher eine Professur an der FH Fulda, und zwar seit 1984. Auch ein mehrmonatiger Forschungsaufenthalt am Wissenschaftlichen Zentrum der IBM in Heidelberg (1986) fiel in diesen Zeitraum. Dort arbeitete er am Datenbankprojekt AIM-P (Advanced Information Management – Prototype) mit. Von Kassel aus hatte er verschiedene enge Fachkooperationen mit IBM und SAP. Jeweils mehrmonatige Auslandsaufenthalte im Forschungsfreisemester führten ihn zudem wiederholt nach Australien bzw. Kalifornien.

Wegner studierte Wirtschaftsingenieurwesen an der Universität Karlsruhe (TH) – heute KIT – mit Schwerpunkten in Informatik und Operations Research. Nach dem Diplom 1974 verbrachte er zwei Jahre als Visiting PhD Student an der University of British Columbia in Vancouver, Kanada. Die Promotion erfolgte, wieder zurück in Karlsruhe, 1977 bei Hermann Maurer und Thomas Ottmann. 1982 habilitierte Wegner sich, ebenfalls in Karlsruhe, mit einer Arbeit auf dem Gebiet der Komplexitätsbetrachtungen von Algorithmen und Datenstrukturen.


 



 Klaus Küspert (KK): Lutz, Du warst in deinem Werdegang immer auch sehr international „aufgestellt“ und präsent. Das fing sogar schon zu Schulzeiten an (Highschool-Abschluss in den USA zusätzlich zum deutschen Abitur), später in der Promotionsphase und in vielen weiteren  Lehr- und Forschungsaufenthalten in den folgenden Jahrzehnten. Wie kam’s zustande? Welche wohl erfreuliche Unruhe trieb dich dabei an mit welchen Resultaten? Gibt’s daraus Tipps fürs Nachmachen etwa für heutige Studierende und Nachwuchswissenschaftler? 

Lutz Wegner (LW): Das Jahr mit High-School-Abschluss war ein Austauschprogramm unserer Schule. Ich bin dort auch schon mit Informatik in Berührung gekommen in Form eines FORTRAN-Lehrgangs an der University of Massachusetts in Amherst. Das hat dann wieder geholfen, ins sehr selektive Werkstudentenprogramm der IBM aufgenommen zu werden. Vom IBM System/360 gab es das Sparmodell 20 mit 16-Bit-Registern. Dessen Assemblerprogramme wurden von uns von Hand auf System/370 mit 32 Bit umgestellt. Wer nicht den BALR-Befehl kennt, weiß nichts vom Leben. 

Kanada kam zustande, weil Maurer in Karlsruhe schon zehn Doktoranden hatte und mich zu Peck, einem der Ko-Autoren des Algol 68 Reports, an die University of British Columbia nach Vancouver „abgeschoben“ hat. Es gab das Graduiertenprogramm damals, 800 DM im Monat. Im Kleingedruckten stand, man dürfe sich auch im Ausland an einer Uni aufhalten, solange man in Deutschland eingeschrieben ist. Das war einfach, einmal im Semester hat mein Vater 30 DM nach Karlsruhe überwiesen. 

In Kanada hatte ich, ganz wie Hans-Peter Kriegel (damals auch Karlsruhe, jetzt LMU München), meine Frau gefunden. Das war dann natürlich in den Jahren danach ein weiterer Anreiz, den internationalen Kontakt zu suchen. Insofern: Auslandsaufenthalt unbedingt, im Studium, nach dem Studium, nach der Promotion, mit oder ohne Eheanbahnung, wie es passt. 

KK: Die Karlsruher Jahre – im Studium und nachher weiter in der Promotions- und Habilitationsphase – waren sicher, nun wieder national gesprochen, ebenfalls mit prägend in deinem Werdegang. Etwa durch Hermann Maurer, der in Karlsruhe viel anschob, bevor er 1978 an die Universität Graz wechselte. Wie kann man das Leben und Arbeiten in solch bewegten und kreativen Phasen der Informatik- und Wirtschaftsinformatikentwicklung in Karlsruhe damals umreißen, was blieb persönlich hängen? 

LW: Maurer war (und ist immer noch?) ein Antreiber und   im positiven Sinn   ein Getriebener und Visionär. Er hat z.B. Donald Knuth nach Karlsruhe und zu sich nach Hause eingeladen, so habe ich ihn persönlich kennengelernt, Salomaa war häufiger Gast. Maurer war einer der ersten, der mit Videolektionen angefangen hat und COSTOC war ein ambitioniertes E-Learning-Programm, das er ins Leben rief, damals noch auf der Basis von Bildschirmtext. Er hat nach dem Weggang aus Karlsruhe 1977/78 dann die Informatik an der TU Graz aus dem Nichts zu einer der führenden Informatiken in Österreich aufgebaut.  

Er war immer ein großzügiger Gastgeber. Von ihm habe ich das Geben-und-Nehmen (do ut des) gelernt, á la ich korrigiere deine Klausur und du schreibst mir ein Gutachten für ein Stipendium. Hermann und ich sind gute Freunde geworden. Thomas Ottmann war mein „Habilvater“, auch Zweitgutachter meiner Promotionsschrift. Er ist mit mir jeden Beweis und jede Formel penibel durchgegangen. Vor dieser kompromisslosen Genauigkeit habe ich bis heute die größte Hochachtung und versuche, das auch in meinen Begutachtungen nachzuleben. Jan van Leeuwen aus Utrecht, derzeit Sprecher von Informatics Europe, war externer Gutachter im Habilitationsverfahren, auch er beeindruckend in seiner fachlichen Souveränität und gleichzeitigen Herzlichkeit. Du siehst, die Vaterfiguren prägen sich ein. 

KK:  Du bist zwei Jahre nach der Habilitation erst mal für drei Jahre auf eine FH-Professur in Fulda gewechselt. War es ein Paradigmenwechsel? Ich erinnere mich aus früheren Gesprächen, dass du schmunzelnd leicht „revolutionäre Stimmung“ zu jener Zeit dort an der FH erwähnt hattest. 

LW:  Das ist einfach erzählt. Noch vor meiner Habilitation gab es eine Option, ins IBM Labor nach Yorktown Heights zu gehen und am parallelisierenden FORTRAN-Compiler mitzuarbeiten. Das hat sich in letzter Sekunde wegen angeblicher Visa-Probleme zerschlagen. Nach 1982 folgten Lehr- und Wanderjahre mit Lehrstuhlvertretungen. Ich hatte eine befristete C1-Stelle und drei Kinder. Ich habe mich auf alles beworben, was in DIE ZEIT stand, hätte sogar nach Luxemburg zur EU gehen können. Eine Zeit lang gab es nur kuriose Aussichten, z.B. ein dritter Listenplatz auf C3 in Hildesheim (of all places), aequo loco mit meinem Freund Jürgen Albert, der vor kurzem in Würzburg als Lehrstuhlinhaber ausgeschieden ist. 

Hessen hatte die Besonderheit, dass die Habilitation die sonst notwendigen Industriejahre für eine FH-Professur aufwog. Fulda bot mir C3 (entspricht in etwa W2 heute) von Anfang an. Das war schon mal was. Ich kann auch nur Gutes über meine Kollegen dort und die Studenten sagen, natürlich anstrengend durch die hohe Lehrbelastung. Ich würde auch jedem Studenten, der sich mit den z.T. sehr theorielastigen Vorlesungen mancher Fakultäten schwer tut, raten, sich mal eine Fachhochschule (heute Hochschule bzw. University of Applied Sciences) oder eine Berufsakademie anzuschauen.  

Revolutionär? OK, die FH war rot-grün, die Stadt tiefschwarz mit Bischof Dyba voran. Als der Reaktor in Tschernobyl im April 1986 explodierte, wollten der Asta und Kollegen des ökologischen Fachbereichs meine morgendliche Einführungsveranstaltung in Informatik sprengen. Ich habe sie rausgeschmissen und weitergemacht. Es hieß später, sie hätten Angst gehabt, ich würde einen Herzkasper kriegen, so wütend sei ich über die Störung gewesen. Ehrlich   wegen so ein bisschen Kernschmelze die Behandlung von Nassi-Shneiderman-Diagrammen abbrechen, niemals. ;-) 

KK:  In der Zeit an der FH gab’s auch einen Abschnitt mit Wirtschaftsnähe – das waren die Monate am Wissenschaftlichen Zentrum der IBM in Heidelberg, also am WZH. Kannst Du aus jener Periode ein paar Eindrücke dem Leser vermitteln? Es war ja ein sehr international aufgestelltes Team damals dort, dem du dich angeschlossen hattest. 

LW:  Ja, das WZH unter der Leitung von Albrecht Blaser im Sommer 1986 war phantastisch. Man nennt das wohl genius loci. Die anderen Gäste, an die ich mich aus jener Zeit und darum herum erinnere, waren Jukka Teuhola, Rita Scalas, Henk Blanken, Flemming Andersen, Gunter Saake, Ullrich Kessler. Dann die Angestellten resp. Doktoranden im AIM-Team: Du, Dadam als Leiter der Abteilung, Pistor, Linnemann, Südkamp, Günauer, Erbe, Walch, Herrmann. Und Heidelberg im Sommer hat auch seine Reize –  meine Tochter und ihr Mann leben seit einigen Jahren dort und arbeiten bei SAP, ich kann verstehen, dass man da nicht weg will und ggf. lieber zum Wochenendpendler wird .;-) 

Ich habe am WZH in jener fachlich frühen Phase der erweiterten relationalen Datenbankmodelle in sehr kurzer Zeit sehr viele Impulse bekommen. Für einen eher theoretisch arbeitenden Menschen kann die Praxis sehr befruchtend sein, auch ein interdisziplinäres Projekt bringt neue Ideen. Daraus sind rasch einige Publikationen entstanden, auch mit Dir als Koautor und mit Jukka zwei Arbeiten in den CACM und IEEE TSE, die sind bis heute meine Glanzlichter.  

KK: Stichwort SAP: Da hattest du neben IBM auch nachher noch eine Kooperation. Wie war sie entstanden? Was waren die Highlights und Erfahrungen? 

LW:  Ja, IBM hat mir einen gebrauchten PC überlassen, ich war ja dabei, einen visuellen Editor für NF2-Tabellen („nested relations“) zu schreiben, Turbo Pascal war die damals angesagte Technik. Der Rechner war das PS/2 Modell 60, ein etwas unglückliches Modell, ein Intel 80286 Prozessor (16-Bit-Register) an einem 32-Bit Microchannel. IBM und 16-Bit-Register, hatten wir da nicht gerade was? Er hat mir jedenfalls jahrelang gute Dienste geleistet. Auf dem Flohmarkt habe ich später mal eine Microchannel-Steckkarte für einen Joystick (!!) gefunden, dann konnte man zur Entspannung MS Flugsimulator spielen. 

Die Kooperation mit SAP kam aus einem Fachgespräch der GI-Datenbankgruppe zum Thema „Visuelle Interaktion mit Datenbanken“ in Kassel zustande. Die Fachtagung 1993 war mit über 100 Teilnehmern die damals größte, die die Datenbankgruppe je veranstaltet hatte. Ich hatte Gerhard Rodé von SAP, einen ABAP-Vater und damals hohen SAP-Manager, als eingeladenen Redner gewonnen und habe ihm von unserer Arbeit mit komplexen Objekten erzählt. Da bot er mir eine Kooperation an, ein sehr schönes Industrieprojekt mit sehr unkomplizierter Abrechnung. Später habe ich mal auf dem ABAP-Jahrestreffen 1995 einen Mitarbeitervortrag über das bis heute wenig verstandene „Pointer Swizzling“ gehalten, was ja auch die Technikgrundlage der IBM AS/400 und Nachfolger ist. Vielleicht saßen da die Leute drin, die heute die In-Memory-Techniken pushen. Die Wege des Herrn sind verschlungen … 

KK: Wir wollen jetzt auf den Aspekt der Interview-Überschrift eingehen, also den neuen Studiengang Informatik in Kassel. Ich weiß, du hast darüber ja sogar ein Buch geschrieben als sehr nett verpackter Erfahrungs- und wohl auch Leidensbericht. Kann man das dem Leser hier im Blog kompakt vermitteln? 

LW:  Au weia, das ist fast unmöglich. Ich wurde 1987 an die damalige Gesamthochschule Kassel für den Aufbau einer Informatik berufen. Das war glatt gelogen, es ging erst mal nichts weiter in Sachen Aufbau. Nun gab es natürlich auch schlechte Zeiten für die Informatik. Der Ministerpräsident Schröder wollte in Niedersachsen 1994 die Informatik in Hildesheim (schon wieder Hildesheim) dicht machen.  

Jahre später, um 2000, gab es dann aber die Internetblase. Da sah es auf einmal besser aus. Wer die Zeit nachempfinden will, sollte sich den Film „Weltmarktführer“ von Klaus Stern (aus Kassel) über Tan Siekmann und die Biodata AG (aus der Nähe von Kassel) anschauen, gibt es als DVD im Handel. Ein gewisser Herr Middelhoff von Bertelsmann trat auf der GI-Jahrestagung 1999 in Paderborn als eingeladener Redner auf und versprach allen notleidenden Informatiken Unterstützung. Ich habe ihn angeschrieben und fast hätten wir in Kassel etwas von seinen Stiftungsmitteln abbekommen. Das Geld ging dann aber nach Hannover. 

Die Uni Kassel war 2000 gerade dabei, sich von einer Gesamthochschule ohne Mittelbau in eine normale Universität (mit Mitgliedschaft in der DFG) zu wandeln. Es wurden hierfür massiv Professorenstellen in Stellen für Wissenschaftliche Bedienstete umgewidmet – eine denkbar schlechte Situation für den Aufbau einer neuen Fachrichtung. Entsprechend gab es heftigen Widerstand und Misstrauen von allen Seiten, besonders von der Mathematik und der Elektrotechnik.  

Gerettet hat uns Frau Traudl Herrhausen, damals Mitglied des Landtags und Sprecherin für Hochschulfragen der CDU-Fraktion. Irgendwie muss sie das nordhessische Elend so gerührt haben, dass sie das Land, genauer Roland Koch, und die Industrie, z.B. Georg Ludwig Braun von B. Braun Melsungen und Hermann-Josef Lamberti von der Deutschen Bank, später auch Sponsoren wie Heinz-Nixdorf- und die Hertie-Stiftung, Stifterverband für die Deutsche Wirtschaft, der Sparkassenverband Hessen und andere, an einen lecker gedeckten Tisch zusammenbrachte. Das waren am Ende von privater Seite Zusagen in Höhe von über 7 Mio. € – keine schlechte Basis für einen Start jenes neuen Studiengangs. 

KK: Diese Einbeziehung der Wirtschaft und das Mit-in-die-Pflicht-Nehmen ab Studiengangsbeginn waren ja durchaus außergewöhnlich. Ees gibt nicht sehr viele ähnliche Fälle im deutschen Hochschulwesen. Wie ging das weiter in jenem Kontext Universitätsstudiengang/Wirtschaft? 

LW:  Erstens sind die zugesagten Gelder überpünktlich (und nicht als Sachleistungen mit dubioser Wertansetzung) in drei Stiftungsprofessuren geflossen. Du hast Recht, das war nicht immer so. Man denke an das Debakel mit dem Multimedia-Campus in Kiel und dem Stifter Gerhard Schmid von der MobilCom AG, der Zusagen über 10 Mio. DM gemacht hatte. Zweitens würde ich hervorheben, dass die Wirtschaft keinen Einfluss genommen hat auf die Besetzung und den Betrieb der Stiftungsprofessuren. Das finde ich hoch anständig und das hat am Ende zu hervorragenden Berufungen geführt. Drittens ist die regionale Wirtschaft gut mit dem Fachbereich vernetzt und froh, vor Ort ein Angebot an Absolventen zu haben. 

KK: Du hattest 2002 einen Ruf an einen Ort wo, wie man sagt, „andere Leute Urlaub machen“, wo aber sicher an der Universität auch erfolgreich gearbeitet wird: Bozen. Du hast den Ruf abgelehnt. War’s auf Messers Schneide hinsichtlich der Annahme oder Ablehnung? 

LW:  Ich wollte an die Freie Universität Bozen, wo die Unterrichtssprache Englisch ist, auch weil Kassel mich mitten in der Einwerbung der Stiftungsprofessuren mit der Wegnahme einer Mitarbeiterstelle aus meiner Berufungszusage geärgert hatte. Gescheitert ist es an der Nichtübertragbarkeit der Beamtenversorgung. Die Ironie ist, dass gerade dieses Jahr (2014) die Länder die gesetzliche Voraussetzung dafür geschaffen haben, Pensionsansprüche auch anteilig mitzunehmen, wenn ein Beamter oder eine Beamtin in die Wirtschaft oder das Ausland wechselt. Das kommt für mich zwölf Jahre zu spät. Eine Beurlaubung wurde damals abgelehnt, wie zuvor schon mal an der FH Fulda, als ich einen Ruf an die Universität von Hawaii hatte. Andererseits, wer weiß, was dort auf mich zugekommen wäre, es ist auch nicht alles eitel Sonnenschein.  

KK: Kassel hat, wie das gesamte deutsche Hochschulwesen, in den letzten Jahren von den Diplom- auf Bachelor- und Masterstudiengänge umgestellt. Diese Thematik der damit verbundenen Vor- und Nachteile wird immer noch deutschlandweit stark diskutiert. Ich selbst würdigte in diesem Blog durchaus auch die Vorteile. Es gibt aber natürlich auch sehr ablehnende Meinungen zu jenem Komplex. Wie siehst du es mit deiner Erfahrung von Ausland und Wirtschaft? 

LW:  Der Witz ist ja, Kassel hatte bis vor kurzem die sog. gestuften Studiengänge mit Diplom I und II, also das heutige Bachelor/Master-Modell. Das war schwer extern zu vermitteln und hat niemandem was gebracht. Meinetwegen hätte man nicht generell in Europa auf Bachelor/Master umstellen müssen. Anders als im angelsächsischen Raum haben wir Kultus- und Wissenschaftsministerien. Akkreditierungen, um Mindeststandards zu garantieren, bräuchten wir nicht. Die Planungsabteilung der Uni hat den direkten Draht zum zuständigen Referenten im Ministerium, das war auch immer frei von Bevormundung, so wie ich es erlebt habe. Auch die Diskussion um die Autonomie der Universitäten halte ich somit eher für überflüssig. Jetzt haben alle umgestellt und die Wirtschaft hat sich darauf eingerichtet, dann soll man das so lassen. In Schlachten, die ich nicht gewinnen kann, ziehe ich nicht (mehr).  

KK:  Vielleicht zum Schluss noch ein paar Bemerkungen zum Thema deutsche Universitätslandschaft und Wertung von deiner Seite? 

LW: Zur Universitätslandschaft wird in letzter Zeit viel gelästert, etwa über Gefälligkeitspromotionen und Schlampereien beim Zitieren. Die gibt es, habe ich sogar mit eigenen Augen als Mitglied einer Jury für einen Promotionspreis gesehen. Aber diese Schleimer-Arbeiten wurden abserviert. Wir waren ein paar Mal wechselseitig als Zweitgutachter tätig. Ich denke, du stimmst mir zu, in der Regel wird gründlich gelesen und objektiv benotet. Gleiches gilt für das deutsche Peer-System bei Berufungen und ich habe viele Kommissionen geleitet. Auch wenn prominente Köpfe gestöhnt haben wegen der Belastung, die erbetenen Gutachten kamen und waren fundiert. The system is not broken! 

Volker Claus (ehemals Universität Stuttgart) hat einmal bemerkt, die deutsche Wissenschaft maximiere den Durchschnitt der Leistungen in Forschung und Lehre, Amerika nur die Spitzenleistung. D.h., ich kann der Software in der elektronischen Fahrzeugsteuerung eines Absolventen aus Kassel, Jena, Siegen genau so trauen, wie wenn der Herr oder die Dame von einer so genannten Exzellenzuniversität kommt. Das dürfte der deutschen Wirtschaft, die ja der De-Industrialisierung Gott sei Dank widerstanden hat, auf lange Sicht mehr nützen, als wenn ein Mark Zuckerberg in Harvard Facebook erfindet – und sein Studium schmeißt. Das musste mal zur Rettung unserer Universitätsehre gesagt werden. ;-) 

KK: Lutz, herzlichen Dank für das anregende und spannende Interview. Ich denke, es liefert auch Inhalte und Anlass für Kommentare dazu hier im Blog und vielleicht darüber hinaus.