Wer
kennt nicht Henry Kissinger, der 1923 in Fürth als Heinrich Alfred Kissinger geboren
wurde und mit 15 Jahren Deutschland verlassen musste? Er wuchs im Stadtteil
Washington Heights von Manhattan auf, kam als Soldat ins Nachkriegs-Deutschland
und wollte Historiker in Harvard werden. Er wurde Sicherheitsberater mehrerer
US-Präsidenten und späterer Außenminister. Er nahm großen Einfluss auf die
amerikanische Politik und ist daher nicht unumstritten ̶ in
Amerika und anderswo. In Deutschland genießt er ein hohes Ansehen und gilt als
Freund von Altbundeskanzler Helmut Kohl und Fan der Spielvereinigung Fürth.
Seinen vielen Büchern, mit denen er seine und die US-Politik erläuterte, hat er
in diesem Jahr eines hinzugefügt. Es heißt Weltordnung und hat 480
gedruckte Seiten. Ich las das Buch mit Vergnügen und kann es weiter empfehlen.
Von der
Weltordnung zum Völkerrecht
Bei dem
Wort Weltordnung denkt man an das Bestreben, in dem offensichtlichen Chaos, das
sich im Wettbewerb der Nationen abspielt, für Recht und Ordnung zu sorgen. Nur
ein ganz junger oder ein ganz alter Politiker, einer unter 30 oder einer über
80, haben den Mut, sich mit dem Thema zu befassen. Kissinger gehört zur zweiten
Kategorie. Als Beispiel und Bezugspunkt benutzt Kissinger die Ordnung, die 1648
durch den Frieden von Münster und Osnabrück geschaffen wurde. Damals wurde ein
30-jähriger Religionskrieg beendet, der fast alle europäischen Staaten in Mitleidenschaft
gezogen hatte.
Der so
genannte Westfälische Friede benutzte bestimmte
Prinzipien, um wieder Ordnung herzustellen, und zwar in einer Weltregion, in
der fast ein Jahrhundert lang nur Willkür und Gewalt herrschten. Es hatte sich
eine Pattsituation eingestellt. Keine Macht war noch stark genug, um eine Ordnung
vorzugeben. Die einzelnen Teilnehmer hatten sehr unterschiedliche Interessen
und verfolgten unterschiedliche Ideologien. Es gab lange, penible
Verhandlungen. Nur als Indiz: Der Tagungsraum wurde so umgebaut, dass jede
Delegation einen eigenen Eingang hatte, damit alle gleichzeitig am
Verhandlungstisch erscheinen konnten.
In den
Verhandlungen wurde alles ausgeklammert, über das vorher Krieg geführt worden
war, also alle religiösen und politischen Streitfragen. Es ging nur darum, einen
Modus vivendi, ein Prozedere, für die Zukunft zu finden. Es wurde eine inhärente
Gleichheit souveräner Staaten vereinbart, unabhängig von ihrer Macht und ihrer inneren
Ordnung. Es wurden keinerlei moralische Ansprüche erhoben, noch gab es einen
supernationalen Ordnungshüter. Es wurde der Austausch von Diplomaten vereinbart,
mit dem Ziel, den Frieden zu sichern. Für die Austragung von Streitigkeiten
wurden Verfahrensweisen festgelegt. Daraus entstand das, was als Völkerrecht bezeichnet
wird.
Europäische
Ordnungen und ihre Anfechtungen
Die
Westfälische Ordnung wurde in ganz Europa zur Seite geschoben, als sich mit der
Französischen Revolution eine neue Staatsauffassung durchsetzte. Nicht eine Elite
bestimmte jetzt die Politik, sondern die Masse des Volkes. Nicht die Rationalität
gab den Ausschlag, sondern Emotionen. Napoléon ersetzte zwar die Massen durch
seinen Willen. Mit dem Weltgeist zu verhandeln, war allerdings nicht
vorgesehen. Der Wiener Kongress kehrte jedoch voll zur Westfälischen Ordnung
zurück. Frankreichs Vertreter war als Vertragspartner voll akzeptiert.
Metternich, Castelreagh und andere schufen eine Landkarte, in der Staaten eine
strategische Aufgabe hatten. Nur deshalb kam das Rheinland zu Preußen, weil
England keinen schwachen Nachbarn zu Frankreich haben wollte. Weder Bismarck
noch Hitler ließen sich später in eine Ordnung zwängen. Über Bismarck und
Preußen führte ein gerader Weg zum Ersten Weltkrieg. Da die Sieger in Versailles nur
an Rache und nicht an Balance dachten, war Hitler unvermeidlich. Mit dem Zweiten
Weltkrieg wiederholte sich die Katastrophe.
USA und
ihre geschichtliche Verantwortung
Schon
die Pilgerväter verfolgten das Ziel, sich von Europa abzusetzen und für sich
eine bessere Welt zu schaffen. Spätere Politiker standen vor der Frage, ob sie
diese Verantwortung nur für ihr Land oder für die ganze Welt hätten. Sie
beantworteten diese Frage mal mehr in die eine, mal mehr in die andere Richtung.
Die meisten akzeptierten es jedoch als Schicksal (engl. manifest destiny), dass
sie gar nicht umhin könnten, sich der Verantwortung für die Welt zu stellen.
Zwei Präsidenten, die sich besonders für den Weltfrieden engagierten, waren Woodrow
Wilson und Franklin
D. Roosevelt (FDR). Nur einer ihrer Vorgänger spielte eine starke Rolle in der
Weltpolitik: Teddy Roosevelt. Er betrieb die expansivste Politik aller amerikanischen
Präsidenten, annektierte Porto Rico, Hawaii, Guam und die Philippinen und vermittelte
im Russisch-Japanischen Krieg einen Friedensvertrag.
Wilson
führte die USA in den ersten Weltkrieg, um universellen Moralansprüchen gerecht
zu werden. Er wollte die Welt für die Demokratie retten. Er forderte den Rücktritt
des deutschen Kaisers, bevor über Frieden verhandelt werden sollte. Das Schlimmste
wäre, Deutschland würde das Regierungssystem beibehalten, das es in den Krieg
trieb. Nur auf Demokratien sei Verlass. Kissinger macht keinen Hehl aus seiner
Ansicht, dass der von Demokraten ausgehandelte, und Deutschland diktierte
Friedensvertrag von Versailles alles andere als optimal war. Auch schuf Wilsons
Betonung linguistischer und ethnischer Gesichtspunkte instabile Nationalstaaten
in Europa mit gemischten Bevölkerungen. Anders als Frankreich nach dem Wiener
Kongress, war Deutschland anschließend nur von Kleinstaaten umgeben, die nicht
in der Lage waren, es in Schach zu halten.
Der von
Wilson geschaffene Völkerbund war kein Zweckbündnis mit Zähnen, sondern ein moralisches
Weltgewissen. Sein Scheitern war unvermeidlich. FDR hatte Wilsons Ideen weiter
entwickelt. Die mit Churchill 1941 verfasste Atlantik-Charta definierte eine
Weltordnung, in der selbst die damals noch bestehende britische Kolonialmacht
keinen Platz mehr hatte. Die UN bekam mehr Biss als Wilsons Völkerbund, da sie
mit vier Weltpolizisten (USA, UK, Sowjetunion und China) versehen war, die Aktionen
ergreifen konnten.
Herausforderung
Kommunismus und sein Zusammenbruch
Als ideologische
und machtpolitische Herausforderung machte der Kommunismus von sich reden genau
in dem geschichtlichen Moment, als Nazi-Deutschland und Japan bezwungen waren. FDR
bemühte sich noch 1943 in Teheran um Freundschaft mit Stalin. Er hoffte, in
Vieraugen-Gesprächen Weltprobleme ansprechen zu können. Er musste jedoch
erfahren, dass dies nicht möglich war. Von da an blieb keine andere Wahl, als sich
der ideologischen Schubkraft der Sowjets zu widersetzen. Es kam zur Gründung
der NATO als gezielter Allianz gegen die russische Bedrohung. Eine generelle
Friedenssicherung durch die UN war nicht länger möglich. Der Marshall-Plan leitete den wirtschaftlichen
Wiederaufbau Europas ein.
Harry
Truman fiel die Aufgabe zu, die Widerstandskraft des Westens zu beweisen. Sein
Test wurde der Koreakrieg und er bestand ihn glänzend. Er konnte den Aggressor
zurückweisen und das eigene Militär in Schranken halten. Einen ähnlichen Erfolg
hatte George Bush sen. später im zweiten Golfkrieg, als Sadam Husseins Angriff
auf Kuweit zurückgeschlagen wurde. Im Falle Vietnams (und später im Irak und in
Afghanistan) verlief die Sache weniger gut. Es kam zum Zusammenbruch des nationalen
Konsenses. Übrig blieb ein von Wut und Trauma gespaltenes Land. Es war Ronald Reagan,
der die Schwäche der Sowjetunion erkannte und den Kalten Krieg beendete. Er
handelte nicht nur eine effektive Atomwaffenkontrolle aus. Mit Gorbatschow
hatte er die ersten friedensstiftenden Gespräche (in Reykjavik), an deren Ende
die deutsche Wiedervereinigung stand.
Europäischer
Einigungsprozess
Nach
dem Ende des Zweiten Weltkrieges hatten Politiker wie Konrad Adenauer, Robert Schumann
und Alcide de Gasperi die Vision, die Fehler zu überwinden, die Europa zweimal
in Katastrophen stürzten. Es kam zu den Römischen Verträgen und der heutigen
EU. Die EU bedeutet kein Zurück zum Westfälischen Frieden, sondern dessen
Weiterentwicklung. Wie einst im Hl. Römischen Reich rückt der Nationalstaat wieder
in den Hintergrund, einer übergeordneten Idee zuliebe. Allerdings leidet die EU
darunter, dass alle Politiker eine Politik des nationalen Vorteils betreiben
müssen, um gewählt zu werden.
Reich
der Mitte
China
war ein auf sich selbst ruhender Staat seit 2000 Jahren, ehe der Westen von ihm
Notiz nahm und umgekehrt. Es war eine Welt für sich und verfügte über eine eigene
Weltordnung. Der Kaiser verlangte Ehrerbietung von allen Ländern ‚unter dem
Himmel‘. Das musste König George III. von England zur Kenntnis nehmen, als
seine Vertreter am chinesischen Hofe vorstellig wurden. ‚Wenn Ihre Leute nicht
bereit sind den Kotau zu machen, sollten sie lieber zuhause bleiben. Und
Geschenke können Sie sich sparen. Wir besitzen schon alles‘. so schrieb ihm 1793
der chinesische Kaiser. Da die Engländer sich nicht abweisen ließen und ein
blühendes Opium-Geschäft aufbauten, ist dies ein Grund, warum China sich auch
heute noch allen Offerten des Westens gegenüber skeptisch verhält.
Obwohl
beide, Amerikaner wie Chinesen, sich für einzigartig halten, kam es – nicht
zuletzt durch Kissingers Wirken ̶ zu einer Annäherung und vorsichtigen Kooperation.
Am Anfang ging es darum. die Sowjetunion unter Druck zu setzen. Seit China als
Wirtschafts- und Militärmacht zu den USA aufgeschlossen hat, geht es nicht nur um
militärisches Gleichgewicht, sondern um eine strategische Partnerschaft. Dabei
wird eine neue Form der Weltordnung entstehen.
Muslimische
Welt und islamistischer Terror
Während
die chinesische Weltordnung auf sich selbst beruht, ist dies beim Islam anders.
Seit seinem Bestehen hat er das Ziel, die ganze Welt zu erobern. Mehrere Angriffe
auf Westeuropa wurden zwar gestoppt (732 in der Schlacht von Tours und Poitiers,
bzw. 1529 und 1683 vor Wien), nicht jedoch die Ausdehnung in Asien. Während im
Falle Chinas und auch Russlands (dessen Behandlung hier weggelassen wurde) ein Interessenausgleich
möglich zu sein scheint, ist Kissinger sehr skeptisch, wenn es um den Islam
geht. Bei allen Auseinandersetzungen mit dem Islam stand ein prophetischer
Absolutheitsanspruch im Wege. Man war unfähig, sich auf eine minimale
Legitimität zu einigen. Die Eroberung neuer Länder war nicht ein imperialistisches
Unterfangen, sondern religiöse Pflicht. Das Ziel war und ist ein superethnischer
Staat, eine eigene, neue Weltordnung.
In der
christlichen Welt wurde irgendwann eine Trennung von Kirche und Staat vollzogen,
eine Trennung, die der Islam bis heute nicht kennt. Der Gläubige hat die Aufgabe,
den Dschihad, d.h. die Ausbreitung des wahren Glaubens, durch Herz, Zunge, Hände
oder Schwert zu betreiben. Der Islam lässt keine dauernden Verträge zu. Die heutigen
Grenzen im Nahen Osten wurden ihm ohnehin in einer Schwächephase nach dem
Ersten Weltkrieg aufgezwängt (Vertrag
von Sèvres, Sykes-Picot-Abkommen,
Balfour-Erklärung).
Die Muslimbrüder als politischste Bewegung innerhalb des Islams sehen sich mit
ihrer Weltordnung einer westfälischen Ordnung gegenüber als überlegen an. Sie
wollen den Säkularismus und die nationalen Grenzen überwinden. Westliche
Politiker machen immer wieder den Fehler, dass sie die extreme Positionen, wie
sie die Muslimbrüder vertreten, als metaphorisch oder verhandelbar ansehen. Sie
sind es nicht. Gesprächsbereitschaft ist oft nur Taktik, es ist keine strategische
Wende damit verbunden.
Nach
Ende des Kalten Krieges trat der Jahrhunderte alte Konflikt zwischen Sunniten und
Schiiten wieder hervor. Für beide ist die Existenz Israels jedoch eine Glaubensfrage.
Die Israelis halten ein früheres muslimisches Gebiet besetzt. Kein Muslim darf einmal
besetztes Land wieder aufgeben. Osama bin Laden und seine Anhänger sahen friedliche
Methoden als nutzlos an, um ihre Ziele zu erreichen. Sie bekämpften die USA,
weil sie ihnen als der mächtigste Gegner ihres Glaubens erschien. Im Iran ist
die Gegnerschaft zu den USA Teil der Staatsräson. Deshalb sind die Fortschritte
bei der Urananreicherung nicht verhandelbar.
Der so
genannte Arabische Frühling hat bewiesen, dass die Hoffnung auf eine Verwestlichung
Ägyptens und Tunesiens eine Illusion war (engl.: wishful thinking). Syrien und der
Irak sind unfähig sich nach westfälischen Prinzipien zu gestalten; ebenso
Libyen und Pakistan. Seit dem Auftreten der Terrororganisation Islamischer
Staat (IS) ist die Situation noch verworrener geworden. Die Werte des Westens,
Demokratie, Freiheit und Gleichberechtigung der Frauen, werden weitgehend in
Frage gestellt. In Indien, dem Staat mit der zweitgrößten Bevölkerung der Welt,
leben zwar mehr Muslime als in Pakistan. Das Land ist aber eher bereit, den
westfälischen Prinzipien zu folgen als der ganze Nahe Osten. Das gleiche gilt
für andere fernöstliche Staaten wie Thailand und Vietnam.
Perspektiven
für eine friedliche Zukunft
Trotz
der wenig erfreulichen Aussichten des letzten Abschnitts hat die Politik die Aufgabe,
Ordnung mit Freiheit zu versöhnen. Es besteht immer die Gefahr, dass Dämonen (Autokraten,
Chaoten, Fanatiker) die Macht ergreifen. Es ist Staatskunst gefragt, um dies zu
verhindern. Die UN besitzt viele Werkzeuge für friedenssichernde Maßnahmen. Sie
ist jedoch gelähmt, wenn die Großmächte sich nicht einigen können. Frieden und
Ordnung zu schaffen, ist ein fortdauernder Prozess.
Die USA
sind heute eine ambivalente Supermacht. Alle 12 Präsidenten seit Eisenhower
konnten sich auf die Entschlossenheit des amerikanischen Volkes verlassen,
überall auf der Welt für Demokratie und Freiheit einzutreten. Die USA laufen jetzt
Gefahr der Überforderung und Desillusionierung. Aus den letzten drei Kriegen
(Vietnam, Irak, Afghanistan) gingen sie nicht als Sieger hervor. Der den
Amerikanern innewohnende Idealismus und Exzeptionalismus stoßen an Grenzen
angesichts von Tausenden Toten. ‚Wir Amerikaner sind ein moralisches Volk.‘ so
zitiert Kissinger seinen Amtsvorgänger George Shultz. ‚Die Außenpolitik soll
Werte berücksichtigen. Wir sind aber auch ein pragmatisches Volk. Wir wollen,
dass die Außenpolitik Wirkungen erzielt.‘ Amerikaner gehen am liebsten davon aus,
dass Vernunft herrscht und dass ein friedlicher Kompromiss möglich ist.
Die
rein prozedurale, wertneutrale Weltordnung, wie sie beispielhaft im
Westfälischen Frieden zum Ausdruck kam, gab keine Richtung für eine Weiterentwicklung
vor. Sie sollte aber weiterentwickelt werden, auch über das hinaus, was bereits
durch die EU für Europa realisiert wurde. Kissinger glaubt, dass die Technik
und vor allem das Internet, ein großes Potenzial in Bezug auf die internationale
Kommunikation besitzen. Die Multipolarität muss als Kern der Staatenordnung wieder
fest in ihr verankert sein. Es ist möglich, dass regionale Blöcke die Aufgaben
der Staaten übernehmen. Die Machtbalance muss durch eine neue Legitimität ergänzt
werden. ‚Macht ohne Moral führt zum Kräftemessen, Moral ohne Ausgewogenheit zu
Kreuzzügen‘ meint Kissinger. Beides sollte man tunlichst verhindern.
Im
Gegensatz zur Zeit des Westfälischen Friedens sollte man heute die Wirtschaft stärker
berücksichtigen. Die globalisierte Wirtschaft ignoriert heute alle Grenzen, an
die Politiker jedoch gebunden sind, seien es die von Staaten oder Staatenblöcken.
Gipfeltreffen verkommen daher fast immer zu PR-Veranstaltungen, mit denen die
nationale Wählerschaft beeindruckt werden soll. Dabei fehlt es nicht an Aufgaben
und Problemen, die nur durch internationale Kooperation gelöst werden können. Die
Geschichte kann zeigen, welche Konzepte sich bewährten und welche nicht. Die
richtige Lösung muss jede Generation selbst suchen.