Donnerstag, 6. November 2014

Lutz Wegner über die Einrichtung eines universitären Informatikstudiengangs und das politische Umfeld

Lutz Wegner ist seit 1987 Professor und Fachgebietsleiter für Praktische Informatik/Datenbanken am Fachbereich Elektrotechnik/Informatik der Universität Kassel. In den Jahren 2000 und 2001 engagierte sich Wegner mit Kollegen vor Ort erfolgreich für den Aufbau eines Informatikstudiengangs (Hauptfach), was am Ende zu drei Stiftungsprofessuren und weiteren Neuberufungen führte. Die Wirtschaft wurde hierbei als Förderer des neuen Studiengangs erfolgreich „aktiviert“ und von Beginn an stark miteinbezogen. Wegner hatte vorher eine Professur an der FH Fulda, und zwar seit 1984. Auch ein mehrmonatiger Forschungsaufenthalt am Wissenschaftlichen Zentrum der IBM in Heidelberg (1986) fiel in diesen Zeitraum. Dort arbeitete er am Datenbankprojekt AIM-P (Advanced Information Management – Prototype) mit. Von Kassel aus hatte er verschiedene enge Fachkooperationen mit IBM und SAP. Jeweils mehrmonatige Auslandsaufenthalte im Forschungsfreisemester führten ihn zudem wiederholt nach Australien bzw. Kalifornien.

Wegner studierte Wirtschaftsingenieurwesen an der Universität Karlsruhe (TH) – heute KIT – mit Schwerpunkten in Informatik und Operations Research. Nach dem Diplom 1974 verbrachte er zwei Jahre als Visiting PhD Student an der University of British Columbia in Vancouver, Kanada. Die Promotion erfolgte, wieder zurück in Karlsruhe, 1977 bei Hermann Maurer und Thomas Ottmann. 1982 habilitierte Wegner sich, ebenfalls in Karlsruhe, mit einer Arbeit auf dem Gebiet der Komplexitätsbetrachtungen von Algorithmen und Datenstrukturen.


 



 Klaus Küspert (KK): Lutz, Du warst in deinem Werdegang immer auch sehr international „aufgestellt“ und präsent. Das fing sogar schon zu Schulzeiten an (Highschool-Abschluss in den USA zusätzlich zum deutschen Abitur), später in der Promotionsphase und in vielen weiteren  Lehr- und Forschungsaufenthalten in den folgenden Jahrzehnten. Wie kam’s zustande? Welche wohl erfreuliche Unruhe trieb dich dabei an mit welchen Resultaten? Gibt’s daraus Tipps fürs Nachmachen etwa für heutige Studierende und Nachwuchswissenschaftler? 

Lutz Wegner (LW): Das Jahr mit High-School-Abschluss war ein Austauschprogramm unserer Schule. Ich bin dort auch schon mit Informatik in Berührung gekommen in Form eines FORTRAN-Lehrgangs an der University of Massachusetts in Amherst. Das hat dann wieder geholfen, ins sehr selektive Werkstudentenprogramm der IBM aufgenommen zu werden. Vom IBM System/360 gab es das Sparmodell 20 mit 16-Bit-Registern. Dessen Assemblerprogramme wurden von uns von Hand auf System/370 mit 32 Bit umgestellt. Wer nicht den BALR-Befehl kennt, weiß nichts vom Leben. 

Kanada kam zustande, weil Maurer in Karlsruhe schon zehn Doktoranden hatte und mich zu Peck, einem der Ko-Autoren des Algol 68 Reports, an die University of British Columbia nach Vancouver „abgeschoben“ hat. Es gab das Graduiertenprogramm damals, 800 DM im Monat. Im Kleingedruckten stand, man dürfe sich auch im Ausland an einer Uni aufhalten, solange man in Deutschland eingeschrieben ist. Das war einfach, einmal im Semester hat mein Vater 30 DM nach Karlsruhe überwiesen. 

In Kanada hatte ich, ganz wie Hans-Peter Kriegel (damals auch Karlsruhe, jetzt LMU München), meine Frau gefunden. Das war dann natürlich in den Jahren danach ein weiterer Anreiz, den internationalen Kontakt zu suchen. Insofern: Auslandsaufenthalt unbedingt, im Studium, nach dem Studium, nach der Promotion, mit oder ohne Eheanbahnung, wie es passt. 

KK: Die Karlsruher Jahre – im Studium und nachher weiter in der Promotions- und Habilitationsphase – waren sicher, nun wieder national gesprochen, ebenfalls mit prägend in deinem Werdegang. Etwa durch Hermann Maurer, der in Karlsruhe viel anschob, bevor er 1978 an die Universität Graz wechselte. Wie kann man das Leben und Arbeiten in solch bewegten und kreativen Phasen der Informatik- und Wirtschaftsinformatikentwicklung in Karlsruhe damals umreißen, was blieb persönlich hängen? 

LW: Maurer war (und ist immer noch?) ein Antreiber und   im positiven Sinn   ein Getriebener und Visionär. Er hat z.B. Donald Knuth nach Karlsruhe und zu sich nach Hause eingeladen, so habe ich ihn persönlich kennengelernt, Salomaa war häufiger Gast. Maurer war einer der ersten, der mit Videolektionen angefangen hat und COSTOC war ein ambitioniertes E-Learning-Programm, das er ins Leben rief, damals noch auf der Basis von Bildschirmtext. Er hat nach dem Weggang aus Karlsruhe 1977/78 dann die Informatik an der TU Graz aus dem Nichts zu einer der führenden Informatiken in Österreich aufgebaut.  

Er war immer ein großzügiger Gastgeber. Von ihm habe ich das Geben-und-Nehmen (do ut des) gelernt, á la ich korrigiere deine Klausur und du schreibst mir ein Gutachten für ein Stipendium. Hermann und ich sind gute Freunde geworden. Thomas Ottmann war mein „Habilvater“, auch Zweitgutachter meiner Promotionsschrift. Er ist mit mir jeden Beweis und jede Formel penibel durchgegangen. Vor dieser kompromisslosen Genauigkeit habe ich bis heute die größte Hochachtung und versuche, das auch in meinen Begutachtungen nachzuleben. Jan van Leeuwen aus Utrecht, derzeit Sprecher von Informatics Europe, war externer Gutachter im Habilitationsverfahren, auch er beeindruckend in seiner fachlichen Souveränität und gleichzeitigen Herzlichkeit. Du siehst, die Vaterfiguren prägen sich ein. 

KK:  Du bist zwei Jahre nach der Habilitation erst mal für drei Jahre auf eine FH-Professur in Fulda gewechselt. War es ein Paradigmenwechsel? Ich erinnere mich aus früheren Gesprächen, dass du schmunzelnd leicht „revolutionäre Stimmung“ zu jener Zeit dort an der FH erwähnt hattest. 

LW:  Das ist einfach erzählt. Noch vor meiner Habilitation gab es eine Option, ins IBM Labor nach Yorktown Heights zu gehen und am parallelisierenden FORTRAN-Compiler mitzuarbeiten. Das hat sich in letzter Sekunde wegen angeblicher Visa-Probleme zerschlagen. Nach 1982 folgten Lehr- und Wanderjahre mit Lehrstuhlvertretungen. Ich hatte eine befristete C1-Stelle und drei Kinder. Ich habe mich auf alles beworben, was in DIE ZEIT stand, hätte sogar nach Luxemburg zur EU gehen können. Eine Zeit lang gab es nur kuriose Aussichten, z.B. ein dritter Listenplatz auf C3 in Hildesheim (of all places), aequo loco mit meinem Freund Jürgen Albert, der vor kurzem in Würzburg als Lehrstuhlinhaber ausgeschieden ist. 

Hessen hatte die Besonderheit, dass die Habilitation die sonst notwendigen Industriejahre für eine FH-Professur aufwog. Fulda bot mir C3 (entspricht in etwa W2 heute) von Anfang an. Das war schon mal was. Ich kann auch nur Gutes über meine Kollegen dort und die Studenten sagen, natürlich anstrengend durch die hohe Lehrbelastung. Ich würde auch jedem Studenten, der sich mit den z.T. sehr theorielastigen Vorlesungen mancher Fakultäten schwer tut, raten, sich mal eine Fachhochschule (heute Hochschule bzw. University of Applied Sciences) oder eine Berufsakademie anzuschauen.  

Revolutionär? OK, die FH war rot-grün, die Stadt tiefschwarz mit Bischof Dyba voran. Als der Reaktor in Tschernobyl im April 1986 explodierte, wollten der Asta und Kollegen des ökologischen Fachbereichs meine morgendliche Einführungsveranstaltung in Informatik sprengen. Ich habe sie rausgeschmissen und weitergemacht. Es hieß später, sie hätten Angst gehabt, ich würde einen Herzkasper kriegen, so wütend sei ich über die Störung gewesen. Ehrlich   wegen so ein bisschen Kernschmelze die Behandlung von Nassi-Shneiderman-Diagrammen abbrechen, niemals. ;-) 

KK:  In der Zeit an der FH gab’s auch einen Abschnitt mit Wirtschaftsnähe – das waren die Monate am Wissenschaftlichen Zentrum der IBM in Heidelberg, also am WZH. Kannst Du aus jener Periode ein paar Eindrücke dem Leser vermitteln? Es war ja ein sehr international aufgestelltes Team damals dort, dem du dich angeschlossen hattest. 

LW:  Ja, das WZH unter der Leitung von Albrecht Blaser im Sommer 1986 war phantastisch. Man nennt das wohl genius loci. Die anderen Gäste, an die ich mich aus jener Zeit und darum herum erinnere, waren Jukka Teuhola, Rita Scalas, Henk Blanken, Flemming Andersen, Gunter Saake, Ullrich Kessler. Dann die Angestellten resp. Doktoranden im AIM-Team: Du, Dadam als Leiter der Abteilung, Pistor, Linnemann, Südkamp, Günauer, Erbe, Walch, Herrmann. Und Heidelberg im Sommer hat auch seine Reize –  meine Tochter und ihr Mann leben seit einigen Jahren dort und arbeiten bei SAP, ich kann verstehen, dass man da nicht weg will und ggf. lieber zum Wochenendpendler wird .;-) 

Ich habe am WZH in jener fachlich frühen Phase der erweiterten relationalen Datenbankmodelle in sehr kurzer Zeit sehr viele Impulse bekommen. Für einen eher theoretisch arbeitenden Menschen kann die Praxis sehr befruchtend sein, auch ein interdisziplinäres Projekt bringt neue Ideen. Daraus sind rasch einige Publikationen entstanden, auch mit Dir als Koautor und mit Jukka zwei Arbeiten in den CACM und IEEE TSE, die sind bis heute meine Glanzlichter.  

KK: Stichwort SAP: Da hattest du neben IBM auch nachher noch eine Kooperation. Wie war sie entstanden? Was waren die Highlights und Erfahrungen? 

LW:  Ja, IBM hat mir einen gebrauchten PC überlassen, ich war ja dabei, einen visuellen Editor für NF2-Tabellen („nested relations“) zu schreiben, Turbo Pascal war die damals angesagte Technik. Der Rechner war das PS/2 Modell 60, ein etwas unglückliches Modell, ein Intel 80286 Prozessor (16-Bit-Register) an einem 32-Bit Microchannel. IBM und 16-Bit-Register, hatten wir da nicht gerade was? Er hat mir jedenfalls jahrelang gute Dienste geleistet. Auf dem Flohmarkt habe ich später mal eine Microchannel-Steckkarte für einen Joystick (!!) gefunden, dann konnte man zur Entspannung MS Flugsimulator spielen. 

Die Kooperation mit SAP kam aus einem Fachgespräch der GI-Datenbankgruppe zum Thema „Visuelle Interaktion mit Datenbanken“ in Kassel zustande. Die Fachtagung 1993 war mit über 100 Teilnehmern die damals größte, die die Datenbankgruppe je veranstaltet hatte. Ich hatte Gerhard Rodé von SAP, einen ABAP-Vater und damals hohen SAP-Manager, als eingeladenen Redner gewonnen und habe ihm von unserer Arbeit mit komplexen Objekten erzählt. Da bot er mir eine Kooperation an, ein sehr schönes Industrieprojekt mit sehr unkomplizierter Abrechnung. Später habe ich mal auf dem ABAP-Jahrestreffen 1995 einen Mitarbeitervortrag über das bis heute wenig verstandene „Pointer Swizzling“ gehalten, was ja auch die Technikgrundlage der IBM AS/400 und Nachfolger ist. Vielleicht saßen da die Leute drin, die heute die In-Memory-Techniken pushen. Die Wege des Herrn sind verschlungen … 

KK: Wir wollen jetzt auf den Aspekt der Interview-Überschrift eingehen, also den neuen Studiengang Informatik in Kassel. Ich weiß, du hast darüber ja sogar ein Buch geschrieben als sehr nett verpackter Erfahrungs- und wohl auch Leidensbericht. Kann man das dem Leser hier im Blog kompakt vermitteln? 

LW:  Au weia, das ist fast unmöglich. Ich wurde 1987 an die damalige Gesamthochschule Kassel für den Aufbau einer Informatik berufen. Das war glatt gelogen, es ging erst mal nichts weiter in Sachen Aufbau. Nun gab es natürlich auch schlechte Zeiten für die Informatik. Der Ministerpräsident Schröder wollte in Niedersachsen 1994 die Informatik in Hildesheim (schon wieder Hildesheim) dicht machen.  

Jahre später, um 2000, gab es dann aber die Internetblase. Da sah es auf einmal besser aus. Wer die Zeit nachempfinden will, sollte sich den Film „Weltmarktführer“ von Klaus Stern (aus Kassel) über Tan Siekmann und die Biodata AG (aus der Nähe von Kassel) anschauen, gibt es als DVD im Handel. Ein gewisser Herr Middelhoff von Bertelsmann trat auf der GI-Jahrestagung 1999 in Paderborn als eingeladener Redner auf und versprach allen notleidenden Informatiken Unterstützung. Ich habe ihn angeschrieben und fast hätten wir in Kassel etwas von seinen Stiftungsmitteln abbekommen. Das Geld ging dann aber nach Hannover. 

Die Uni Kassel war 2000 gerade dabei, sich von einer Gesamthochschule ohne Mittelbau in eine normale Universität (mit Mitgliedschaft in der DFG) zu wandeln. Es wurden hierfür massiv Professorenstellen in Stellen für Wissenschaftliche Bedienstete umgewidmet – eine denkbar schlechte Situation für den Aufbau einer neuen Fachrichtung. Entsprechend gab es heftigen Widerstand und Misstrauen von allen Seiten, besonders von der Mathematik und der Elektrotechnik.  

Gerettet hat uns Frau Traudl Herrhausen, damals Mitglied des Landtags und Sprecherin für Hochschulfragen der CDU-Fraktion. Irgendwie muss sie das nordhessische Elend so gerührt haben, dass sie das Land, genauer Roland Koch, und die Industrie, z.B. Georg Ludwig Braun von B. Braun Melsungen und Hermann-Josef Lamberti von der Deutschen Bank, später auch Sponsoren wie Heinz-Nixdorf- und die Hertie-Stiftung, Stifterverband für die Deutsche Wirtschaft, der Sparkassenverband Hessen und andere, an einen lecker gedeckten Tisch zusammenbrachte. Das waren am Ende von privater Seite Zusagen in Höhe von über 7 Mio. € – keine schlechte Basis für einen Start jenes neuen Studiengangs. 

KK: Diese Einbeziehung der Wirtschaft und das Mit-in-die-Pflicht-Nehmen ab Studiengangsbeginn waren ja durchaus außergewöhnlich. Ees gibt nicht sehr viele ähnliche Fälle im deutschen Hochschulwesen. Wie ging das weiter in jenem Kontext Universitätsstudiengang/Wirtschaft? 

LW:  Erstens sind die zugesagten Gelder überpünktlich (und nicht als Sachleistungen mit dubioser Wertansetzung) in drei Stiftungsprofessuren geflossen. Du hast Recht, das war nicht immer so. Man denke an das Debakel mit dem Multimedia-Campus in Kiel und dem Stifter Gerhard Schmid von der MobilCom AG, der Zusagen über 10 Mio. DM gemacht hatte. Zweitens würde ich hervorheben, dass die Wirtschaft keinen Einfluss genommen hat auf die Besetzung und den Betrieb der Stiftungsprofessuren. Das finde ich hoch anständig und das hat am Ende zu hervorragenden Berufungen geführt. Drittens ist die regionale Wirtschaft gut mit dem Fachbereich vernetzt und froh, vor Ort ein Angebot an Absolventen zu haben. 

KK: Du hattest 2002 einen Ruf an einen Ort wo, wie man sagt, „andere Leute Urlaub machen“, wo aber sicher an der Universität auch erfolgreich gearbeitet wird: Bozen. Du hast den Ruf abgelehnt. War’s auf Messers Schneide hinsichtlich der Annahme oder Ablehnung? 

LW:  Ich wollte an die Freie Universität Bozen, wo die Unterrichtssprache Englisch ist, auch weil Kassel mich mitten in der Einwerbung der Stiftungsprofessuren mit der Wegnahme einer Mitarbeiterstelle aus meiner Berufungszusage geärgert hatte. Gescheitert ist es an der Nichtübertragbarkeit der Beamtenversorgung. Die Ironie ist, dass gerade dieses Jahr (2014) die Länder die gesetzliche Voraussetzung dafür geschaffen haben, Pensionsansprüche auch anteilig mitzunehmen, wenn ein Beamter oder eine Beamtin in die Wirtschaft oder das Ausland wechselt. Das kommt für mich zwölf Jahre zu spät. Eine Beurlaubung wurde damals abgelehnt, wie zuvor schon mal an der FH Fulda, als ich einen Ruf an die Universität von Hawaii hatte. Andererseits, wer weiß, was dort auf mich zugekommen wäre, es ist auch nicht alles eitel Sonnenschein.  

KK: Kassel hat, wie das gesamte deutsche Hochschulwesen, in den letzten Jahren von den Diplom- auf Bachelor- und Masterstudiengänge umgestellt. Diese Thematik der damit verbundenen Vor- und Nachteile wird immer noch deutschlandweit stark diskutiert. Ich selbst würdigte in diesem Blog durchaus auch die Vorteile. Es gibt aber natürlich auch sehr ablehnende Meinungen zu jenem Komplex. Wie siehst du es mit deiner Erfahrung von Ausland und Wirtschaft? 

LW:  Der Witz ist ja, Kassel hatte bis vor kurzem die sog. gestuften Studiengänge mit Diplom I und II, also das heutige Bachelor/Master-Modell. Das war schwer extern zu vermitteln und hat niemandem was gebracht. Meinetwegen hätte man nicht generell in Europa auf Bachelor/Master umstellen müssen. Anders als im angelsächsischen Raum haben wir Kultus- und Wissenschaftsministerien. Akkreditierungen, um Mindeststandards zu garantieren, bräuchten wir nicht. Die Planungsabteilung der Uni hat den direkten Draht zum zuständigen Referenten im Ministerium, das war auch immer frei von Bevormundung, so wie ich es erlebt habe. Auch die Diskussion um die Autonomie der Universitäten halte ich somit eher für überflüssig. Jetzt haben alle umgestellt und die Wirtschaft hat sich darauf eingerichtet, dann soll man das so lassen. In Schlachten, die ich nicht gewinnen kann, ziehe ich nicht (mehr).  

KK:  Vielleicht zum Schluss noch ein paar Bemerkungen zum Thema deutsche Universitätslandschaft und Wertung von deiner Seite? 

LW: Zur Universitätslandschaft wird in letzter Zeit viel gelästert, etwa über Gefälligkeitspromotionen und Schlampereien beim Zitieren. Die gibt es, habe ich sogar mit eigenen Augen als Mitglied einer Jury für einen Promotionspreis gesehen. Aber diese Schleimer-Arbeiten wurden abserviert. Wir waren ein paar Mal wechselseitig als Zweitgutachter tätig. Ich denke, du stimmst mir zu, in der Regel wird gründlich gelesen und objektiv benotet. Gleiches gilt für das deutsche Peer-System bei Berufungen und ich habe viele Kommissionen geleitet. Auch wenn prominente Köpfe gestöhnt haben wegen der Belastung, die erbetenen Gutachten kamen und waren fundiert. The system is not broken! 

Volker Claus (ehemals Universität Stuttgart) hat einmal bemerkt, die deutsche Wissenschaft maximiere den Durchschnitt der Leistungen in Forschung und Lehre, Amerika nur die Spitzenleistung. D.h., ich kann der Software in der elektronischen Fahrzeugsteuerung eines Absolventen aus Kassel, Jena, Siegen genau so trauen, wie wenn der Herr oder die Dame von einer so genannten Exzellenzuniversität kommt. Das dürfte der deutschen Wirtschaft, die ja der De-Industrialisierung Gott sei Dank widerstanden hat, auf lange Sicht mehr nützen, als wenn ein Mark Zuckerberg in Harvard Facebook erfindet – und sein Studium schmeißt. Das musste mal zur Rettung unserer Universitätsehre gesagt werden. ;-) 

KK: Lutz, herzlichen Dank für das anregende und spannende Interview. Ich denke, es liefert auch Inhalte und Anlass für Kommentare dazu hier im Blog und vielleicht darüber hinaus.

2 Kommentare:

  1. Ich neige dazu Volker Claus' Beobachtung als Sarkasmus zu interpretieren.

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  2. Heute schrieb Hartmut Wedekind aus Darmstadt:

    Eine ungerechtfertigte und falsche Unterscheidung von Theorie und Praxis führt in Politik und Wirtschaft zu seltsamen Blüten, u.a. auch zur hilflosen Unterscheidung von FH's und Uni's. Nun hat der Kant in seiner Schrift "Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht in der Praxis" wunderbar dargelegt, dass Theorie aus Regelwerken besteht, und dass gutes praktisches Handeln (eigentlich ein Pleonasmus, weil "praxis" ja Handeln heißt) dadurch zustande kommt, dass man den praktischen Fall unter die Regeln bringt. Man nennt das eine Subsumtion.

    Was nutzt eine Theorie als leere Idealität und was nutzt ein theoriefreies, praktisches Herumwursteln. Mit anderen Worten: Die Begriffe Theorie und Praxis helfen nicht bei der üblichen leichtfertigen Unterscheidung von FH's und Uni's. Da muss mehr Gehirnschmalz verbraten werden. Die Kultuspolitik bringt das nicht fertig. Wer bringt das fertig? Ich glaube, man muss schon Ingenieur sein, um das herauszuarbeiten. [BD: Wedekind meint doch nicht etwa mich!] Denn: Die FH's sind durch Akademisierung aus den Ingenieurschulen entstanden und Ingenieurfächer sind immer noch der Kern der FH's.

    http://www.zeno.org/Philosophie/M/Kant,+Immanuel/%C3%9Cber+den+Gemeinspruch%3A+Das+mag+in+der+Theorie+richtig+sein,+taugt+aber+nicht+f%C3%BCr+die+Praxis

    Ich befürchte aber, da kommt einer von den Uni's und sagt, die FH's kapieren Differential und Integral nicht und in Sachen Algebra haben die auch nichts am Hut. Und die FH's erwidern im Sinne Kants: Das ist nur leere Idealität. Eine solche Debatte hat keinen Zweck, weil sie zu global ist. So einfach ist das nicht. Also bitte: Gehirnschmalz muss her. [BD: Dieser Blog darf als Pfanne benutzt werden]

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