Lutz Wegner ist seit 1987 Professor
und Fachgebietsleiter für Praktische Informatik/Datenbanken am Fachbereich
Elektrotechnik/Informatik der Universität Kassel. In den Jahren 2000 und 2001
engagierte sich Wegner mit Kollegen vor Ort erfolgreich für den Aufbau eines
Informatikstudiengangs (Hauptfach), was am Ende zu drei Stiftungsprofessuren
und weiteren Neuberufungen führte. Die Wirtschaft wurde hierbei als Förderer
des neuen Studiengangs erfolgreich „aktiviert“ und von Beginn an stark
miteinbezogen. Wegner hatte vorher eine Professur an der FH Fulda, und zwar
seit 1984. Auch ein mehrmonatiger Forschungsaufenthalt am Wissenschaftlichen
Zentrum der IBM in Heidelberg (1986) fiel in diesen Zeitraum. Dort arbeitete er
am Datenbankprojekt AIM-P (Advanced Information Management – Prototype) mit. Von
Kassel aus hatte er verschiedene enge Fachkooperationen mit IBM und SAP.
Jeweils mehrmonatige Auslandsaufenthalte im Forschungsfreisemester führten ihn
zudem wiederholt nach Australien bzw. Kalifornien.
Wegner studierte Wirtschaftsingenieurwesen an der Universität Karlsruhe (TH) – heute KIT – mit Schwerpunkten in Informatik und Operations Research. Nach dem Diplom 1974 verbrachte er zwei Jahre als Visiting PhD Student an der University of British Columbia in Vancouver, Kanada. Die Promotion erfolgte, wieder zurück in Karlsruhe, 1977 bei Hermann Maurer und Thomas Ottmann. 1982 habilitierte Wegner sich, ebenfalls in Karlsruhe, mit einer Arbeit auf dem Gebiet der Komplexitätsbetrachtungen von Algorithmen und Datenstrukturen.
Klaus Küspert (KK): Lutz, Du warst in deinem Werdegang
immer auch sehr international „aufgestellt“ und präsent. Das fing sogar schon
zu Schulzeiten an (Highschool-Abschluss in den USA zusätzlich zum deutschen
Abitur), später in der Promotionsphase und in vielen weiteren Lehr- und Forschungsaufenthalten in den
folgenden Jahrzehnten. Wie kam’s zustande? Welche wohl erfreuliche Unruhe trieb
dich dabei an mit welchen Resultaten? Gibt’s daraus Tipps fürs Nachmachen etwa
für heutige Studierende und Nachwuchswissenschaftler?
Lutz Wegner (LW): Das Jahr mit High-School-Abschluss
war ein Austauschprogramm unserer Schule. Ich bin dort auch schon mit
Informatik in Berührung gekommen in Form eines FORTRAN-Lehrgangs an der University
of Massachusetts in Amherst. Das hat dann wieder geholfen, ins sehr selektive
Werkstudentenprogramm der IBM aufgenommen zu werden. Vom IBM System/360 gab es
das Sparmodell 20 mit 16-Bit-Registern. Dessen Assemblerprogramme wurden von
uns von Hand auf System/370 mit 32 Bit umgestellt. Wer nicht den BALR-Befehl
kennt, weiß nichts vom Leben.
Kanada kam zustande, weil Maurer in
Karlsruhe schon zehn Doktoranden hatte und mich zu Peck, einem der Ko-Autoren
des Algol 68 Reports, an die University of British Columbia nach Vancouver
„abgeschoben“ hat. Es gab das Graduiertenprogramm damals, 800 DM im Monat. Im
Kleingedruckten stand, man dürfe sich auch im Ausland an einer Uni aufhalten,
solange man in Deutschland eingeschrieben ist. Das war einfach, einmal im
Semester hat mein Vater 30 DM nach Karlsruhe überwiesen.
In Kanada hatte ich, ganz wie
Hans-Peter Kriegel (damals auch Karlsruhe, jetzt LMU München), meine Frau
gefunden. Das war dann natürlich in den Jahren danach ein weiterer Anreiz, den
internationalen Kontakt zu suchen. Insofern: Auslandsaufenthalt unbedingt, im
Studium, nach dem Studium, nach der Promotion, mit oder ohne Eheanbahnung, wie
es passt.
KK: Die Karlsruher Jahre – im Studium und
nachher weiter in der Promotions- und Habilitationsphase – waren sicher, nun
wieder national gesprochen, ebenfalls mit prägend in deinem Werdegang. Etwa
durch Hermann Maurer, der in Karlsruhe viel anschob, bevor er 1978 an die
Universität Graz wechselte. Wie kann man das Leben und Arbeiten in solch bewegten
und kreativen Phasen der Informatik- und Wirtschaftsinformatikentwicklung in
Karlsruhe damals umreißen, was blieb persönlich hängen?
LW: Maurer war (und ist immer noch?) ein
Antreiber und – im positiven Sinn – ein
Getriebener und Visionär. Er hat z.B. Donald Knuth nach Karlsruhe und zu sich
nach Hause eingeladen, so habe ich ihn persönlich kennengelernt, Salomaa war
häufiger Gast. Maurer war einer der ersten, der mit Videolektionen angefangen
hat und COSTOC war ein ambitioniertes E-Learning-Programm, das er ins Leben
rief, damals noch auf der Basis von Bildschirmtext. Er hat nach dem Weggang aus
Karlsruhe 1977/78 dann die Informatik an der TU Graz aus dem Nichts zu einer
der führenden Informatiken in Österreich aufgebaut.
Er war immer ein großzügiger
Gastgeber. Von ihm habe ich das Geben-und-Nehmen (do ut des) gelernt, á la ich korrigiere deine Klausur und du
schreibst mir ein Gutachten für ein Stipendium. Hermann und ich sind gute
Freunde geworden. Thomas Ottmann war mein „Habilvater“,
auch Zweitgutachter meiner Promotionsschrift. Er ist mit mir jeden Beweis und
jede Formel penibel durchgegangen. Vor dieser kompromisslosen Genauigkeit habe
ich bis heute die größte Hochachtung und versuche, das auch in meinen
Begutachtungen nachzuleben. Jan van Leeuwen aus Utrecht, derzeit Sprecher von
Informatics Europe, war externer Gutachter im Habilitationsverfahren, auch er beeindruckend
in seiner fachlichen Souveränität und gleichzeitigen Herzlichkeit. Du siehst,
die Vaterfiguren prägen sich ein.
KK: Du bist zwei Jahre nach der Habilitation erst
mal für drei Jahre auf eine FH-Professur in Fulda gewechselt. War es ein
Paradigmenwechsel? Ich erinnere mich aus früheren Gesprächen, dass du schmunzelnd
leicht „revolutionäre Stimmung“ zu jener Zeit dort an der FH erwähnt hattest.
LW:
Das ist einfach erzählt. Noch vor meiner Habilitation gab es eine Option,
ins IBM Labor nach Yorktown Heights zu gehen und am parallelisierenden
FORTRAN-Compiler mitzuarbeiten. Das hat sich in letzter Sekunde wegen
angeblicher Visa-Probleme zerschlagen. Nach 1982 folgten Lehr- und Wanderjahre
mit Lehrstuhlvertretungen. Ich hatte eine befristete C1-Stelle und drei Kinder.
Ich habe mich auf alles beworben, was in DIE ZEIT stand, hätte sogar nach
Luxemburg zur EU gehen können. Eine Zeit lang gab es nur kuriose Aussichten,
z.B. ein dritter Listenplatz auf C3 in Hildesheim (of all places), aequo loco mit meinem Freund Jürgen
Albert, der vor kurzem in Würzburg als Lehrstuhlinhaber ausgeschieden ist.
Hessen hatte die Besonderheit, dass
die Habilitation die sonst notwendigen Industriejahre für eine FH-Professur
aufwog. Fulda bot mir C3 (entspricht in etwa W2 heute) von Anfang an. Das war
schon mal was. Ich kann auch nur Gutes über meine Kollegen dort und die
Studenten sagen, natürlich anstrengend durch die hohe Lehrbelastung. Ich würde
auch jedem Studenten, der sich mit den z.T. sehr theorielastigen Vorlesungen
mancher Fakultäten schwer tut, raten, sich mal eine Fachhochschule (heute
Hochschule bzw. University of Applied Sciences) oder eine Berufsakademie anzuschauen.
Revolutionär? OK, die FH war rot-grün,
die Stadt tiefschwarz mit Bischof Dyba voran. Als der Reaktor in Tschernobyl im
April 1986 explodierte, wollten der Asta und Kollegen des ökologischen
Fachbereichs meine morgendliche Einführungsveranstaltung in Informatik
sprengen. Ich habe sie rausgeschmissen und weitergemacht. Es hieß später, sie
hätten Angst gehabt, ich würde einen Herzkasper kriegen, so wütend sei ich über
die Störung gewesen. Ehrlich – wegen so ein bisschen Kernschmelze die Behandlung
von Nassi-Shneiderman-Diagrammen abbrechen, niemals. ;-)
KK: In der Zeit an der FH gab’s auch einen
Abschnitt mit Wirtschaftsnähe – das waren die Monate am Wissenschaftlichen Zentrum
der IBM in Heidelberg, also am WZH. Kannst Du aus jener Periode ein paar
Eindrücke dem Leser vermitteln? Es war ja ein sehr international aufgestelltes
Team damals dort, dem du dich angeschlossen hattest.
LW:
Ja, das WZH unter der Leitung von Albrecht Blaser im Sommer 1986 war phantastisch.
Man nennt das wohl genius loci. Die
anderen Gäste, an die ich mich aus jener Zeit und darum herum erinnere, waren
Jukka Teuhola, Rita Scalas, Henk Blanken, Flemming Andersen, Gunter Saake,
Ullrich Kessler. Dann die Angestellten resp. Doktoranden im AIM-Team: Du, Dadam
als Leiter der Abteilung, Pistor, Linnemann, Südkamp, Günauer, Erbe, Walch, Herrmann.
Und Heidelberg im Sommer hat auch seine Reize – meine Tochter und ihr Mann leben seit einigen
Jahren dort und arbeiten bei SAP, ich kann verstehen, dass man da nicht weg
will und ggf. lieber zum Wochenendpendler wird .;-)
Ich habe am
WZH in jener fachlich frühen Phase der erweiterten relationalen Datenbankmodelle
in sehr kurzer Zeit sehr viele Impulse bekommen. Für einen eher theoretisch
arbeitenden Menschen kann die Praxis sehr befruchtend sein, auch ein interdisziplinäres
Projekt bringt neue Ideen. Daraus sind rasch einige Publikationen entstanden,
auch mit Dir als Koautor und mit Jukka zwei Arbeiten in den CACM und IEEE TSE,
die sind bis heute meine Glanzlichter.
KK: Stichwort SAP: Da hattest du neben
IBM auch nachher noch eine Kooperation. Wie war sie entstanden? Was waren die
Highlights und Erfahrungen?
LW:
Ja, IBM hat mir einen gebrauchten PC überlassen, ich war ja dabei, einen
visuellen Editor für NF2-Tabellen („nested relations“) zu schreiben, Turbo
Pascal war die damals angesagte Technik. Der Rechner war das PS/2 Modell 60,
ein etwas unglückliches Modell, ein Intel 80286 Prozessor (16-Bit-Register) an
einem 32-Bit Microchannel. IBM und 16-Bit-Register, hatten wir da nicht gerade
was? Er hat mir jedenfalls jahrelang gute Dienste geleistet. Auf dem Flohmarkt
habe ich später mal eine Microchannel-Steckkarte für einen Joystick (!!) gefunden,
dann konnte man zur Entspannung MS Flugsimulator spielen.
Die
Kooperation mit SAP kam aus einem Fachgespräch der GI-Datenbankgruppe zum Thema
„Visuelle Interaktion mit Datenbanken“ in Kassel zustande. Die Fachtagung 1993
war mit über 100 Teilnehmern die damals größte, die die Datenbankgruppe je
veranstaltet hatte. Ich hatte Gerhard Rodé von SAP, einen ABAP-Vater und damals
hohen SAP-Manager, als eingeladenen Redner gewonnen und habe ihm von unserer
Arbeit mit komplexen Objekten erzählt. Da bot er mir eine Kooperation an, ein
sehr schönes Industrieprojekt mit sehr unkomplizierter Abrechnung. Später habe
ich mal auf dem ABAP-Jahrestreffen 1995 einen Mitarbeitervortrag über das bis
heute wenig verstandene „Pointer Swizzling“ gehalten, was ja auch die
Technikgrundlage der IBM AS/400 und Nachfolger ist. Vielleicht saßen da die
Leute drin, die heute die In-Memory-Techniken pushen. Die Wege des Herrn sind
verschlungen …
KK: Wir wollen jetzt auf den Aspekt der
Interview-Überschrift eingehen, also den neuen Studiengang Informatik in
Kassel. Ich weiß, du hast darüber ja sogar ein Buch geschrieben als sehr nett
verpackter Erfahrungs- und wohl auch Leidensbericht. Kann man das dem Leser
hier im Blog kompakt vermitteln?
LW:
Au weia, das ist fast unmöglich. Ich wurde 1987 an die damalige
Gesamthochschule Kassel für den Aufbau einer Informatik berufen. Das war glatt
gelogen, es ging erst mal nichts weiter in Sachen Aufbau. Nun gab es natürlich
auch schlechte Zeiten für die Informatik. Der Ministerpräsident Schröder wollte
in Niedersachsen 1994 die Informatik in Hildesheim (schon wieder Hildesheim)
dicht machen.
Jahre später,
um 2000, gab es dann aber die Internetblase. Da sah es auf einmal besser aus.
Wer die Zeit nachempfinden will, sollte sich den Film „Weltmarktführer“ von
Klaus Stern (aus Kassel) über Tan Siekmann und die Biodata AG (aus der Nähe von
Kassel) anschauen, gibt es als DVD im Handel. Ein gewisser Herr Middelhoff von
Bertelsmann trat auf der GI-Jahrestagung 1999 in Paderborn als eingeladener
Redner auf und versprach allen notleidenden Informatiken Unterstützung. Ich
habe ihn angeschrieben und fast hätten wir in Kassel etwas von seinen Stiftungsmitteln
abbekommen. Das Geld ging dann aber nach Hannover.
Die Uni
Kassel war 2000 gerade dabei, sich von einer Gesamthochschule ohne Mittelbau in
eine normale Universität (mit Mitgliedschaft in der DFG) zu wandeln. Es wurden
hierfür massiv Professorenstellen in Stellen für Wissenschaftliche Bedienstete
umgewidmet – eine denkbar schlechte Situation für den Aufbau einer neuen
Fachrichtung. Entsprechend gab es heftigen Widerstand und Misstrauen von allen
Seiten, besonders von der Mathematik und der Elektrotechnik.
Gerettet hat
uns Frau Traudl Herrhausen, damals Mitglied des Landtags und Sprecherin für
Hochschulfragen der CDU-Fraktion. Irgendwie muss sie das nordhessische Elend so
gerührt haben, dass sie das Land, genauer Roland Koch, und die Industrie, z.B.
Georg Ludwig Braun von B. Braun Melsungen und Hermann-Josef Lamberti von der
Deutschen Bank, später auch Sponsoren wie Heinz-Nixdorf- und die
Hertie-Stiftung, Stifterverband für die Deutsche Wirtschaft, der
Sparkassenverband Hessen und andere, an einen lecker gedeckten Tisch
zusammenbrachte. Das waren am Ende von privater Seite Zusagen in Höhe von über
7 Mio. € – keine schlechte Basis für einen Start jenes neuen Studiengangs.
KK: Diese Einbeziehung der Wirtschaft und
das Mit-in-die-Pflicht-Nehmen ab Studiengangsbeginn waren ja durchaus
außergewöhnlich. Ees gibt nicht sehr viele ähnliche Fälle im deutschen Hochschulwesen.
Wie ging das weiter in jenem Kontext Universitätsstudiengang/Wirtschaft?
LW:
Erstens sind die zugesagten Gelder überpünktlich (und nicht als
Sachleistungen mit dubioser Wertansetzung) in drei Stiftungsprofessuren
geflossen. Du hast Recht, das war nicht immer so. Man denke an das Debakel mit
dem Multimedia-Campus in Kiel und dem Stifter Gerhard Schmid von der MobilCom
AG, der Zusagen über 10 Mio. DM gemacht hatte. Zweitens würde ich hervorheben,
dass die Wirtschaft keinen Einfluss genommen hat auf die Besetzung und den
Betrieb der Stiftungsprofessuren. Das finde ich hoch anständig und das hat am
Ende zu hervorragenden Berufungen geführt. Drittens ist die regionale
Wirtschaft gut mit dem Fachbereich vernetzt und froh, vor Ort ein Angebot an
Absolventen zu haben.
KK: Du hattest 2002 einen Ruf an einen Ort
wo, wie man sagt, „andere Leute Urlaub machen“, wo aber sicher an der
Universität auch erfolgreich gearbeitet wird: Bozen. Du hast den Ruf abgelehnt.
War’s auf Messers Schneide hinsichtlich der Annahme oder Ablehnung?
LW:
Ich wollte an die Freie Universität Bozen, wo die Unterrichtssprache
Englisch ist, auch weil Kassel mich mitten in der Einwerbung der
Stiftungsprofessuren mit der Wegnahme einer Mitarbeiterstelle aus meiner
Berufungszusage geärgert hatte. Gescheitert ist es an der Nichtübertragbarkeit
der Beamtenversorgung. Die Ironie ist, dass gerade dieses Jahr (2014) die
Länder die gesetzliche Voraussetzung dafür geschaffen haben, Pensionsansprüche
auch anteilig mitzunehmen, wenn ein Beamter oder eine Beamtin in die Wirtschaft
oder das Ausland wechselt. Das kommt für mich zwölf Jahre zu spät. Eine
Beurlaubung wurde damals abgelehnt, wie zuvor schon mal an der FH Fulda, als
ich einen Ruf an die Universität von Hawaii hatte. Andererseits, wer weiß, was
dort auf mich zugekommen wäre, es ist auch nicht alles eitel Sonnenschein.
KK: Kassel hat, wie das gesamte deutsche
Hochschulwesen, in den letzten Jahren von den Diplom- auf Bachelor- und
Masterstudiengänge umgestellt. Diese Thematik der damit verbundenen Vor- und
Nachteile wird immer noch deutschlandweit stark diskutiert. Ich selbst würdigte
in diesem
Blog durchaus auch die Vorteile. Es gibt aber natürlich auch sehr
ablehnende Meinungen zu jenem Komplex. Wie siehst du es mit deiner Erfahrung
von Ausland und Wirtschaft?
LW:
Der Witz ist ja, Kassel hatte bis vor kurzem die sog. gestuften
Studiengänge mit Diplom I und II, also das heutige Bachelor/Master-Modell. Das
war schwer extern zu vermitteln und hat niemandem was gebracht. Meinetwegen
hätte man nicht generell in Europa auf Bachelor/Master umstellen müssen. Anders
als im angelsächsischen Raum haben wir Kultus- und Wissenschaftsministerien.
Akkreditierungen, um Mindeststandards zu garantieren, bräuchten wir nicht. Die
Planungsabteilung der Uni hat den direkten Draht zum zuständigen Referenten im
Ministerium, das war auch immer frei von Bevormundung, so wie ich es erlebt
habe. Auch die Diskussion um die Autonomie der Universitäten halte ich somit eher
für überflüssig. Jetzt haben alle umgestellt und die Wirtschaft hat sich darauf
eingerichtet, dann soll man das so lassen. In Schlachten, die ich nicht
gewinnen kann, ziehe ich nicht (mehr).
KK:
Vielleicht zum Schluss noch ein paar Bemerkungen zum Thema deutsche Universitätslandschaft
und Wertung von deiner Seite?
LW: Zur Universitätslandschaft wird in
letzter Zeit viel gelästert, etwa über Gefälligkeitspromotionen und
Schlampereien beim Zitieren. Die gibt es, habe ich sogar mit eigenen Augen als
Mitglied einer Jury für einen Promotionspreis gesehen. Aber diese
Schleimer-Arbeiten wurden abserviert. Wir waren ein paar Mal wechselseitig als
Zweitgutachter tätig. Ich denke, du stimmst mir zu, in der Regel wird gründlich
gelesen und objektiv benotet. Gleiches gilt für das deutsche Peer-System bei
Berufungen und ich habe viele Kommissionen geleitet. Auch wenn prominente Köpfe
gestöhnt haben wegen der Belastung, die erbetenen Gutachten kamen und waren
fundiert. The system is not broken!
Volker Claus
(ehemals Universität Stuttgart) hat einmal bemerkt, die deutsche Wissenschaft
maximiere den Durchschnitt der Leistungen in Forschung und Lehre, Amerika nur
die Spitzenleistung. D.h., ich kann der Software in der elektronischen Fahrzeugsteuerung
eines Absolventen aus Kassel, Jena, Siegen genau so trauen, wie wenn der Herr
oder die Dame von einer so genannten Exzellenzuniversität kommt. Das dürfte
der deutschen Wirtschaft, die ja der De-Industrialisierung Gott sei Dank
widerstanden hat, auf lange Sicht mehr nützen, als wenn ein Mark Zuckerberg in
Harvard Facebook erfindet – und sein Studium schmeißt. Das musste mal zur
Rettung unserer Universitätsehre gesagt werden. ;-)
KK: Lutz, herzlichen Dank für das
anregende und spannende Interview. Ich denke, es liefert auch Inhalte und
Anlass für Kommentare dazu hier im Blog und vielleicht darüber hinaus.
Ich neige dazu Volker Claus' Beobachtung als Sarkasmus zu interpretieren.
AntwortenLöschenHeute schrieb Hartmut Wedekind aus Darmstadt:
AntwortenLöschenEine ungerechtfertigte und falsche Unterscheidung von Theorie und Praxis führt in Politik und Wirtschaft zu seltsamen Blüten, u.a. auch zur hilflosen Unterscheidung von FH's und Uni's. Nun hat der Kant in seiner Schrift "Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht in der Praxis" wunderbar dargelegt, dass Theorie aus Regelwerken besteht, und dass gutes praktisches Handeln (eigentlich ein Pleonasmus, weil "praxis" ja Handeln heißt) dadurch zustande kommt, dass man den praktischen Fall unter die Regeln bringt. Man nennt das eine Subsumtion.
Was nutzt eine Theorie als leere Idealität und was nutzt ein theoriefreies, praktisches Herumwursteln. Mit anderen Worten: Die Begriffe Theorie und Praxis helfen nicht bei der üblichen leichtfertigen Unterscheidung von FH's und Uni's. Da muss mehr Gehirnschmalz verbraten werden. Die Kultuspolitik bringt das nicht fertig. Wer bringt das fertig? Ich glaube, man muss schon Ingenieur sein, um das herauszuarbeiten. [BD: Wedekind meint doch nicht etwa mich!] Denn: Die FH's sind durch Akademisierung aus den Ingenieurschulen entstanden und Ingenieurfächer sind immer noch der Kern der FH's.
http://www.zeno.org/Philosophie/M/Kant,+Immanuel/%C3%9Cber+den+Gemeinspruch%3A+Das+mag+in+der+Theorie+richtig+sein,+taugt+aber+nicht+f%C3%BCr+die+Praxis
Ich befürchte aber, da kommt einer von den Uni's und sagt, die FH's kapieren Differential und Integral nicht und in Sachen Algebra haben die auch nichts am Hut. Und die FH's erwidern im Sinne Kants: Das ist nur leere Idealität. Eine solche Debatte hat keinen Zweck, weil sie zu global ist. So einfach ist das nicht. Also bitte: Gehirnschmalz muss her. [BD: Dieser Blog darf als Pfanne benutzt werden]