Das Buch ‚Weltformeln‘
von Ian Stewart, das ich immer noch nicht gründlich gelesen habe, hat mich zumindest auf tolle Themen gebracht hat. War
es zuletzt das Selbstverständnis der Mathematik, so ist es jetzt die
Himmelsmechanik. Im Kapitel 4, in dem es eigentlich um Newton und die
Gravitation ging, deutet der Autor auf einige neuere Arbeiten hin. Insbesondere
der 1951 in Heidelberg geborene Edward Belbruno machte
mich neugierig. Ich las inzwischen alles, was ich über ihn finden konnte, unter
anderem sein Buch ‚Fly me to the Moon‘ von 2007.
Belbruno hat in New York Physik studiert und arbeitete von 1985 bis 1990 beim
weltberühmten Jet Propulsion Laboratory (JPL) der NASA in Pasadena. War mein
letzter Beitrag sehr allgemein und leicht provozierend, so werde ich jetzt auf sehr
detailliertes Wissen zurückgreifen und Dinge betonen, die für mich neu und
überraschend waren.
Grundbegriffe der Himmelsmechanik
Die Himmelsmechanik
versucht ein Verständnis für die Bewegung astronomischer oder himmlischer Körper
im Weltraum zu entwickeln. Sie fasziniert Menschen seit Jahrtausenden und hat
zu vielen Irrwegen geführt, auf die ich nicht eingehen will. Ein zentraler
Begriff ist die Schwerkraft oder Gravitation. Sie bezeichnet
das Phänomen der gegenseitigen Anziehung von Massen. Es handelt sich dabei
(nach Einsteins Vorstellung) nicht um eine Kraft im physikalischen Sinne,
sondern um eine geometrische Eigenschaft des Raumes. In der von Massen (und
Energieansammlungen) gekrümmten Raumzeit bewegen sich Körper, falls sie
unterschiedliche Potenziale besitzen. Man kann sich vorstellen, dass schwere
Massen eine Delle verursachen, in die leichtere Körper hineingleiten, sofern
kein Hindernis besteht, das sie aufhält. Dieser Effekt wirkt zeitlos.
Bild 1: Abstrakte und konkrete Bahnen von
Himmelskörpern
Durch die Bewegung von Körpern ändert sich die Geometrie des Raumes
laufend. Diese Änderungen pflanzen sich mit Lichtgeschwindigkeit fort. Als
Beispiel: Wenn immer die Sonne ihre Position oder ihre Masse ändert, macht die
Wirkung sich etwa 8 Minuten später auf der Erde bemerkbar. Zum Glück tut sie
dies zurzeit recht selten oder nur ganz minimal. Von regelmäßigen Bahnkurven
der Himmelskörper zu reden, ist lediglich eine Abstraktion. Die konkrete Bahn
wird bestimmt durch die Summe der in einem konkreten Moment der Geschichte
wirkenden Einflüsse. Es ist anzunehmen, dass keine zwei Augenblicke der Geschichte
vollkommen gleich sind, bestenfalls nur in einer gewissen Abstraktion, also
einer vergröbernden Draufsicht.
Allgegenwärtiges Mehrkörperproblem
Die Anziehung, mit der zwei Massen aufeinander wirken, ist nach Newton
umgekehrt proportional zum Quadrat ihrer Entfernung. Die gegenseitige Anziehung
zweier Körper konnten schon Leonhard Euler (1707-1783)
und Joseph-Louis Lagrange
(1736-1813) im 18. Jahrhundert berechnen. Wird die an jedem Ort wirkende Kraft
grafisch in Form von Äquipotenziallinien dargestellt, dann ergibt sich ein
charakteristisches Bild.
Bild 2: Lagrange-Punkte im Anziehungsfeld zweier
Körper
Es gibt fünf ausgezeichnete Punkte, an denen die Anziehungspotenziale
zweier Körper sich gegenseitig aufheben, die so genannten Lagrange-Punkte L1
bis L5. Sie haben für die Raumfahrt insofern Bedeutung, weil sich an ihnen ein
kleinerer dritter Körper aufhalten kann, ohne vom Umfeld beeinflusst zu werden.
Im Erde-Mond-Feld oder im Sonne-Mars-Feld lässt sich hier etwa eine Raumsonde
parken. Diese bewegt sich dann im jeweiligen Zwei-Körper-Umfeld mit, erscheint
aber aus Sicht der beiden Körper in stabiler Position zu verweilen.
Um den oben angedeuteten Gedanken weiterzuführen, muss man sagen, dass die
Darstellung einer Situation im Weltraum als Zwei-Körper-Problem meistens eine
Vereinfachung, also Abstraktion ist. In Wirklichkeit gibt es diese Situation
nie, sondern nur die verschiedensten N-Körper-Probleme (N > 2). Nur
Zwei-Körper-Probleme lassen sich mit einigem mathematischen Aufwand behandeln,
alle darüber hinausgehenden Probleme nicht. Hier helfen nur Simulationen und
Näherungsrechnungen. Schon Henri Pointcaré (1854-1912) stöhnte darüber, dass
unsere Vorstellungskraft nicht ausreicht, um uns die Welt vorzustellen, von
mathematischer Behandlung gar nicht zu reden.
Raumflug per Hohmann-Transfer
Am Anfang jeder Bewegung im Weltraum muss man dem Schwerefeld der Erde
entkommen. Hierfür ist eine Geschwindigkeit von 11,2 km pro Sekunde erforderlich.
Hat man eine Erdumlaufbahn (oder einen Laplace-Punkt) erreicht, will man in die
Nähe eines Zielkörpers (Mond, Planet, Komet) gelangen. Schon 1925 hat Walter Hohmann (1880-1945)
hierfür eine spezielle Ellipse vorgeschlagen.
Bild 3. Hohmann-Transfer
Fast alle bisher durchgeführten Raumflüge benutzten einen so genannten Hohmann-Transfer. Das
gilt für alle amerikanischen, russischen und chinesischen Raumflüge. Die elliptische
Kurve ist einfach zu berechnen und sehr stabil, d.h. sie muss nicht genau
eingehalten werden. Eine typische Erdumlaufbahn (engl. low earth orbit, Abk.
LEO) hat einen Radius von rund 200 km. Das Hauptproblem besteht im hohen Energieverbrauch.
Im Falle des Mondes als Ziel kommt das Raumschiff mit der fünffachen Geschwindigkeit
eines Düsenjets in die Mondbahn und muss abgebremst werden, um nicht vorbei zu
schießen. Der dafür benötigte Kraftstoff muss mitgeführt werden, gegebenenfalls auch der
Brennstoff für den Rückflug. Der in Bild 3 punktiert gezeichnete Teil der
Flugbahn wird für den Rückflug benutzt.
Ballistisches Einfangen
Während
seiner Zeit am JPL beschäftigte sich Belbruno mit Alternativen zum Hohmann-Transfer.
Durch Simulation versuchte er die Grenze zu finden, an der stabile Flugbahnen
in chaotische Trudelbewegungen übergehen (engl. weak stability boundary, Abk.
WSB). Innerhalb dieser WSBs suchte er dann Bahnen, die rein ballistisch, also
ohne Energiezufuhr in die Zielbahn führten. Es muss dort das Flugobjekt mit
einer hinreichend niedrigen Geschwindigkeit vor das Ziel gesetzt werden, so
dass es von diesem eingefangen wird (engl. ballistic capture). Je nach
Anwendung kann das Einfangen in einer Umlaufbahn enden oder auf dem Zielkörper
aufsetzen. Dabei wurde die Simulation teilweise mit rückwärts laufender Zeit
ausgeführt. Ausgehend von der erwünschten Zielposition und Zielgeschwindigkeit erhielt man einen
Startpunkt im Raum, von dem der energielose Flug erfolgen konnte. Komplexere
Flugbahnen konnten sich aus Teilstücken zusammensetzen, die von Lagrange-Punkt zu Lagrange-Punkt führten. Auch können Umwege geflogen werden,
um Beschleunigungen im Gavitationsfeld benachbarter Himmelskörper zu erfahren
(engl. gravitational assists).
Bild 4: Ballistisches Einfangen (Skizze Belbruno)
Beim ballistischen Einfangen richtet sich die Weglänge und die
Zeitdauer des Fluges nach der Menge an Treibstoff, die gegenüber einem
Hohmann-Transfer gespart werden soll. Entsprechend der Menge des eingesparten Treibstoffs
kann die Nutzlast vergrößert werden, und zwar je nach Art des Treibstoffs etwa
bis um das Doppelte.
Frühe, längst vergessene Erfolgsgeschichte
Als erster Raumflug mit ballistischem Einfangen fanden 1989 Besuche
mehrerer Jupiter-Monde im Rahmen des Unternehmen Galileo statt. Als
das Projekt beendet war, verließ Belbruno das JPL. Völlig unerwartet ergab sich
dann 1991 eine neue Chance, als das japanische Projekt Hiten in Schwierigkeiten
geriet.
Bild 5: Flugbahn der Sonde Hiten zum Mond (Skizze
Belbruno)
Hiten war der Name einer Raumsonde von der Größe eines Kühlschranks,
den Japan in eine Erdumlaufbahn geschossen hatte. Von ihr aus war eine zweite
Sonde (namens Hagoromo) von der Größe einer Pampelmuse auf einer Hohmann-Bahn
Richtung Mond geschickt worden. Als man den Funkkontakt verlor, wandte man sich
um Hilfe an das JPL. Da ursprünglich Messungen in der Mondumlaufbahn vorgesehen
waren, hätte man gerne stattdessen die noch aktive Sonde Hiten dorthin geschickt,
nur reichte der an Bord sich befindende Treibstoff dafür nicht aus. Obwohl
Belbruno das JPL bereits verlassen hatte, wurde er zu Berechnungen
hinzugezogen.
Mit einem Kollegen zusammen entwarf er eine ballistische Flugbahn
mit niedrigem Treibstoffbedarf. Die Bahn wurde durch Computer-Simulation ermittelt,
und zwar mit rückwärts laufender Zeit. Die errechnete Flugbahn führte die Sonde zuerst zu einem
Punkt (Punkt C in Bild 5) etwa eine Million Meilen von der Erde (Punkt A) entfernt, und von dort zum Mond (Punkt B). Hiten kam im
Oktober 1991 in der Mondumlaufbahn an und führte das für ihre Tochtersonde
geplante Messprogramm durch. Bevor sie auf der Mondoberfläche zum Zerschellen
gebracht wurde, besuchte Hiten noch die Lagrange-Punkte L4 und L5 im
Erde-Mond-Feld. Man vermutete dort nämlich kosmische Staubpartikel aus der
Frühzeit des Mondes zu finden. Diese Erwartung erfüllte sich jedoch nicht.
Spätere Erfolgsgeschichte und öffentliches Interesse
Es dauerte etwa zwölf Jahre, bis dass sich eine neue Anwendung für
Belbrunos Ideen ergab. Im Jahre 2004 startete die Europäische
Raumfahrtorganisation ESA von ihrem Raumbahnhof Kourou die Sonde SMART-1. Sie
sollte Messgeräte in die Nähe des Mond-Südpols bringen, die feststellen
sollten, ob sich unter dem dortigen Eis auch flüssiges Wasser befände.
Die Sonde benutzt einen Ionenantrieb. Gegenüber
chemischen Raketentriebwerken verfügt ein Ionentriebwerk nur über einen
minimalen Schub, etwa 30.000 mal kleiner. Da sich die Geschwindigkeit jedoch
stetig steigert, ist eine lange Flugzeit hier von Vorteil. Die Sonde SMART-1
wiegt etwa 400 Kilogramm und führte beim Start 84 kg Xenon als Treibstoff mit.
Für die Freisetzung der Ionen dient elektrischer Strom, der durch Sonnensegel
gewonnen wird. Für die Strecke zum Mond wurden 18 Monate benötigt. Sie flog auf
einer ballistischen Bahn.
Im letzten Jahr hat Belbruno zusammen mit einem Mailänder Mathematiker
eine ballistische Bahn für einen Flug zum Mars berechnet. Außerdem hat sich die
Firma Boeing interessiert gezeigt. Plötzlich ist Edward Belbruno in der Presse.
Der Scientific
American berichtete im Dezember über ihn, aber auch Spiegel Online.
Bemerkungen zum politisch-wirtschaftliches Umfeld
Die hier erzählte Geschichte wirft einige Lichter auf das Umfeld. Eine
neue Idee kämpft gegen altbewährte Prinzipien. Der Hohmann-Transfer ist eine
einfache und sichere, aber sehr teure Lösung (engl. brute force). Sie ist die
einzig akzeptable Lösung für bemannte Raumflüge. Für unbemannte Flüge, etwa
Materialtransporte, ist Belbrunos Lösung ökonomischer, sofern kein Zeitdruck
besteht. Eine weitere Voraussetzung ist der hohe Rechnerbedarf.
Bild 6: Belbrunos Gemälde mit Flugbahnen
Hier sucht mal wieder eine Lösung nach geeigneten Anwendungen ̶ was öfters vorkommt. In Zeiten knapper
werdender Raumfahrtmittel ist vielleicht sogar Platz für Speziallösungen. Dass
gerade die NASA äußerst vorsichtig agierte, ist nachvollziehbar. Durch
vergangene Erfolge (Apollo, Viking, Voyager) hat sie einen Ruf erworben, den
sie nicht aufs Spiel setzen möchte. Alle Ingenieure sind von Natur aus konservativ,
nicht nur Raumfahrt-Ingenieure. Was sich bewährt hat, hat Vorrang. Man ändert
nur aus gutem Grund. Jedes Bauteil, über das man nicht neu nachdenken muss, erspart
Zeit und Entwicklungskosten.
Politisch interessant ist, dass Belbruno sich Kritik anhören musste,
weil er amerikanisches Knowhow den Japanern zur Verfügung gestellt habe. Belbruno
ging, als er 1990 das JPL verließ, zunächst zum Pomona College im Süden Kaliforniens.
Später zog er in den Mittelwesten und machte sich selbständig. Er betätigt sich
auch als Maler, wobei er den Stil Vincent van Goghs nachempfindet.