Wer
Geschichte nicht nur als Ansammlung von Daten, Namen und Schlachten sieht,
sollte nach Heinrich August
Winklers
zweibändigem Werk greifen, das bereits 2002 erschien. Es hat den Titel Der lange Weg nach
Westen
und umfasst zweimal je etwa 700 Seiten. Der erste Band beginnt mit dem nicht
untergegangenen römischen Reich, das im Jahre 800 ̶ nur was
seinen westlichen Teil betrifft ̶ von den Griechen in Konstantinopel zu den Deutschen
im Frankenreich übergegangen ist. Er endet mit der Errichtung des Dritten
Reiches im Jahre 1933. Der zweite Band behandelt die Zeit danach. Winkler
zeichnet ̶ wie er sagt
̶ keine Gesamtgeschichte, sondern
nur eine Problemgeschichte. Es ist ein Diskurs über eine doppelte Verspätung,
die Deutschland zu beklagen hatte ̶ die der Einheit und die der Freiheit. Winkler
beschränkt sich auf Gründe und Zusammenhänge. Er vertritt weder die Auffassung,
dass Geschichte ein rein zufälliges Geschehen ist, noch dass sie logischen oder
deterministischen Gesetzen unterliegt. Sie liegt irgendwo dazwischen. Der Länge
der Bücher wegen werde ich mich auf wenige Hauptthemen beschränken (wie Nationalbewusstsein
und Bürgerrechte).
Verspäteter
Weg zu Einheit und Freiheit
England
hat durch die Bill of Rights bereits im 17. Jahrhundert einen Grad an bürgerlicher
Freiheit erreicht, der einmalig in der Welt war. Frankreich verdankt seine
staatliche
Einheit der absoluten Monarchie, vor allem unter Ludwig XIV. In Deutschland
wurde die nationale Einheit in partieller Form 1871 erreicht, die so genannte kleindeutsche
Lösung, und zwar auf Bismarcks Betreiben. Sie wurde 1990 ein zweites Mal
erreicht. Dass der Weg zur Einheit so schwer war und so lange dauerte, führt
Winkler auf die das ganze Mittelalter beherrschende Idee des Heiligen Römischen
Reiches zurück. Der Begriff eines Reichs (lat. imperium; engl./frz. empire) überstieg
den einer Nation. Das galt nicht nur politisch, sondern auch emotional. Durch Luthers
Bruch mit Rom ging die Vielvölkeridee des christlichen Kaiserreiches über in
partikulares Denken einzelner deutscher Fürstenhäuser, ohne zuerst einen deutschen
Nationalstaat zu bilden.
Durch die
Französische Revolution von 1789 entstand zwar ein Sog, was die Idee der
Freiheit anbetraf, der das Volk und vor allem seine geistigen Führer (wie Wieland,
Herder, Görres und Forster) erfasste. Innerhalb von vier Jahren war die Begeisterung
jedoch weitgehend verflogen. Das Volk zog jetzt Reformen einer Revolution vor. Die
Fürsten waren ohnehin gegen Veränderungen. Anstelle einer breiten Bewegung, die
sich für Bürgerrechte und Freiheit einsetzte, kam es im Verlauf des 19.
Jahrhunderts in Deutschland zur Flucht aus der Öffentlichkeit. Die deutsche
Romantik brachte künstlerische und geistige Spitzenleistungen hervor, aber kein
Reifen des politischen Bewusstseins. Im Zweifelsfall konnte man auswandern. Eine
freiheitliche Demokratie gab es das erste Mal 1919 in den Nachwehen des Ersten
Weltkriegs. Auch sie bekam eine zweite Chance in Jahre 1949, allerdings nur in
Westdeutschland. Ostdeutschland ̶ oder genauer gesagt, Mitteldeutschland ̶
folgte erst 1989, also 40 Jahre später.
Nationalbewusstsein
und Einheitsgedanke
Der
Begriff der deutschen Nation entstand zu einer Zeit, als das Staatsgebilde des
Römischen Reiches am Boden lag, Es war die Zeit, in der Napoléon den Weltgeist
verkörperte und die deutsche Landkarte nach Belieben veränderte. Johann Gottlieb
Fichte
(1762-1814) trat 1808 mit seinen Reden an
die deutsche Nation als einer der Ersten mit einer Nationalidee hervor. Er
sah in Deutsch die Ursprache der Menschheit und in den Deutschen das Urvolk.
Martin Luther habe dem deutschen Mann die Augen geöffnet. Preußen sei der
eigentlich deutsche Staat. Noch seltsamer mutet uns Heutigen an, was Ernst Moritz Arndt (1769-1860) zu
Papier brachte. Der Nationalismus sei die höchste Religion. Das Vaterland sollte
man mehr lieben als Väter und Mütter, als Weiber und Kinder. Die Franzosen
müsse man hassen. und zwar für lange Zeit, ja für immer. Preußen solle für Deutschland
stehen, denn Österreich habe sich mit fremden Völkern beladen. Nach Arndts
Meinung ist deutsch, wer deutsch spricht. Zu bemerken ist, dass Einheit nicht
auch Einigkeit bedeuten muss, also eine Homogenität der Meinungen. [Diese
Unterscheidung fällt sogar heutigen Deutschen nicht immer leicht].
Die Paulskirche
strebte 1848 zuerst eine großdeutsche Lösung an. Diese scheiterte nicht an Preußen ̶ wie
meist angenommen wird ̶ sondern an Österreich. Da dies die Auflösung
des Habsburger Vielvölkerstaates zur Folge gehabt hätte, war Kaiser Franz Josef (1830-1916) vehement
dagegen, Oberhaupt eines Nationalstaates zu werden. Das Haus Habsburg sah es unter
anderem als seine Mission an, deutsche Kultur bis an die Donaumündung zu
verbreiten. Es blieb nur die kleindeutsche Lösung übrig. Es erfolgte das
Kaiserangebot an den preußischen König Friedrich Wilhelm
IV
(1795-1861). Dieser wollte statt eines Königs von Gottes Gnaden nicht ein
Kaiser von Volkes Gnaden werden ̶ und lehnte ab. Seine Sorge soll es gewesen
sein, dass er nicht mehr mit dem russischen Zar auf gleicher Ebene stehen würde.
Otto von Bismarck (1815-1898) setzte die
Einheit eindeutig über die Freiheit und setzte damit die preußische Staatsräson
über die öffentliche Meinung. Er tat nur das, was historisch möglich war, und
hatte Erfolg. Da Preußen wirtschaftlich dynamischer war als Österreich (und die
süddeutschen Staaten Baden, Bayern und Württemberg), kam es im Norden und Westen zum industriellen
Aufschwung trotz politischer Stagnation und Restauration. [Hier drängt sich ein
Vergleich mit der heutigen Rolle Chinas auf]. Da die Einheit immer dann als besonders
wichtig angesehen wird, wenn Bedrohungen durch externe Feinde bestehen oder
empfunden werden, war der Krieg 1870/71 mit Frankreich ein geschickter
Schachzug Bismarcks. Drei Zitate Bismarcks beleuchten dessen pragmatische wie undemokratische
Denkweise:
- Soll Revolution sein, so wollen wir sie lieber machen als erleiden
- Nicht durch Reden und Majoritätsbeschlüsse werden große Fragen der Zeit beantwortet, sondern durch Eisen und Blut
- Wir müssen mit Realitäten wirtschaften, nicht mit Fiktionen
Der
französische Schriftsteller und Historiker Ernest Renan (1823-1892) vertrat eine Meinung, die den Begriff Nation weder als biologischen
Begriff noch als sprachliche Gemeinschaft deutete. Er nahm schon 1882 auch die
Idee der Europäischen Gemeinschaft vorweg:
Die
Nation ist eine große Solidargemeinschaft, die durch das Gefühl für die Opfer
gebildet wird, die erbracht wurden und die man noch zu erbringen bereit ist. …Die
Existenz einer Nation ist ein tägliches Plebiszit, wie die Existenz des
Individuums eine ständige Bekräftigung des Lebens ist. … Die Nationen sind
nichts Ewiges. Sie haben einmal angefangen, sie werden enden. Die europäische
Konföderation wird sie wahrscheinlich ablösen.
Recht
und Freiheit für alle Bürger
Die beiden
Revolutionen von 1830 und 1848 in Paris lösten bekanntlich deutliche
Schockwellen im ganzen deutschen Sprachraum aus. Sie wurden allerdings eingedämmt
bzw. abgewehrt durch eine Gegenreaktion des Establishments, zuerst unter der
Führung des österreichischen Kanzlers Clemens von Metternich, später durch den
preußischen Kanzler Bismarck. Nur eine Entwicklung von der absolutistischen zu
einer konstitutionellen Herrschaft fand statt. Dabei gingen die süddeutschen
Länder Baden, Bayern und Württemberg als erste den Weg zu Verfassungsstaaten,
während Preußen und Österreich noch lange schwankten. Zwischenzeitlich
eingeführte Verfassungen wurden später wieder außer Kraft gesetzt.
Winkler
fasst das politische Denken Deutschlands vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs, also
die Ideen von 1914, wie folgt zusammen: Klare Absage an Liberalismus,
Individualismus, Demokratie und Menschenrechte; also der Werte des Westens,
d.h. Frankreichs, Englands und der USA. Für Deutschlands Gesellschaft wurden Pflicht,
Ordnung und Gerechtigkeit als bestimmend angesehen. Die Volksgemeinschaft hatte
Vorrang vor Klassen und Parteien. Er belegt dies mit einer Vielzahl von
Zitaten, Auch Kaiser Wilhelm II. verkündete im Grunde nichts Neues, als er im
August 1914 sagte: Ich kenne keine Parteien
mehr, ich kenne nur noch Deutsche.
Wurde
Frankreich als der Erbfeind angesehen, der unter Ludwig XIV. und Napoléon
Deutschland großen Schaden zugefügt hatte, so wurde der Krieg gegen England als
Krieg gegen den Kapitalismus herausgestellt, einer Wirtschafts- und
Gesellschaftsform, die dem deutschen Wesen zuwider sei. Selbst Thomas Mann (1875-1955) sah es damals lieber,
dass wir gegen Händler und Bourgois zu Felde zogen als gegen das uns
seelenverwandte Volk Dostojewskis. Dass deutsche Expansionsgelüste sich primär
gegen Osten richteten, wurde 1918 beim Frieden von
Brest-Litowsk
deutlich. Deutschland verlangte vom inzwischen kommunistischen Russland
Gebietsabtretungen (Finnland, Litauen, Kurland und Ukraine), die fast einer
Verdopplung der deutschen Landfläche entsprachen. Die Auflagen des Versailler
Friedensvertrags von 1919 erschienen, was die Flächenverluste Deutschlands anbetrifft, geradezu
bescheiden.
Sozialisten
und Ultramontane
Karl Marx (1818-1883) führte im
Prinzip Luthers Revolution fort. So sieht es Winkler. Für seine proletarische
Revolution war jedoch nicht Frankreich vorgesehen, sondern Deutschland. Bismarck
gelang es durch seine Sozialistengesetze das Aufblühen des Sozialismus in
Deutschland weitgehend zu verhindern. Er hatte damit nicht nur die
Konservativen auf seiner Seite, sondern auch die Religiösen und die Intelligenz,
d.h. alle, die etwas besaßen, das es zu beschützen galt. Sein Realitätssinn
sagte ihm: Der Staatssozialismus paukt
sich durch. Anders ausgedrückt; Dass der Staat sich sozial engagieren muss,
ist nicht aufzuhalten. Bismarck reagierte daher mit der Schaffung einer Sozialversicherung,
die einmalig in der Welt war. Schließlich widmete er sich der Förderung der Kolonien
als Teil der Sozialpolitik.
Da der
vor allem in Norddeutschland verbreitete Protestantismus sich von Natur aus
national gab, hatten die im Westen überwiegenden Katholiken eine andere Staatsauffassung.
Ihr Internationalismus war Bismarck ein Dorn im Auge. Deshalb wurden sie als Römlinge
oder Ultramontane diffamiert. Ihre Einrichtungen und Vertreter wurden im so
genannten Kulturkampf 1871-1878 mit
Staatsgewalt verfolgt. Erst nach der Wahl Leo XIII. zum Papst suchte Bismarck den
Ausgleich, da beide gegen Sozialisten und Liberale eingestellt waren. Übrig
blieb eine starke Politisierung der katholischen Bevölkerung in Form einer stabilen Zentrumspartei.
Weimarer
Demokratie
Dass
1919 zum ersten Mal eine Demokratie Fuß fassen konnte, hat Deutschland vor
allem dem SPD-Politiker Friedrich Ebert (1871-1925) zu verdanken.
Entgegen dem Drängen linker Parteimitglieder und der Kommunisten setzte er sich
für eine Koalition mit bürgerlichen Parteien ein (Zentrum und Liberale). Woodrow
Wilsons Plädoyer für Demokratie (engl. make
world safe for democracy) hatte ihn überzeugt. Die Regierungsform war zwar
sehr instabil, hielt jedoch 14 Jahre lang. Als parlamentarische Demokratie war
die Regierung von wechselnden Mehrheiten im Reichstag abhängig. Die nicht-demokratischen
Parteien an den Rändern wurden immer stärker. Dazu gehörten Deutsch-Nationale,
Nationalsozialisten und Kommunisten. Extreme Linke wie extreme Rechte trugen
ihre Kämpfe immer mehr auf der Straße aus. Da die Reparationslasten und die
Weltwirtschaftskrise die Lage in Deutschland zunehmend verschlechterten, suchte
man den Ausweg in einer präsidialen Regierungsform. Paul von Hindenburg, der
1925 Eberts Nachfolge als Reichspräsident antrat, griff zum Mittel der Notverordnungen,
um das zu regeln, wozu das Parlament nicht fähig war. Die parlamentarische
Demokratie geriet derart in Misskredit, dass ihre Gegner bald ein leichtes
Spiel hatten, sie abzuschaffen. Wer dies am lautstärksten forderte, und
schließlich auch schaffte, waren Hitler und die NSDAP.
Der
Philosoph Martin
Heidegger (1889-1976) bezeichnete die Weimarer Republik als eine Diktatur
des Man, also eine Herrschaft anonymer Mächte. Oswald Spengler (1880-1936)
meinte, wir bräuchten weder eine französische noch eine englische Demokratie. Wir
hätten eine eigene, nämlich den preußischen Sozialismus, der uns gegen Marxismus,
Kapitalismus und Liberalismus schütze. Die Unsicherheit, die das Rechtssystem
damals beherrschte, drückt sich in zwei Gerichtsurteilen an prominenten Zeitgenossen
aus. So verurteilte das Volksgericht München Adolf Hitler wegen seiner Teilnahme
an dem Münchner Aufstand von 1922 zu einer relativ kurzen Haftstrafe, da er ‚nach
bestem Wissen und Gewissen gehandelt‘ habe. [Als Angela Merkel neulich diese Entschuldigungsformel
im Zusammenhang mit der NSA-Affäre benutzte, dachte sie bestimmt nicht an
1922]. Ein Magdeburger Urteil von 1925 gegen Friedrich Ebert, also kurz vor
seinem Tode, lautete auf Landesverrat, weil er sich 1918 an einem Streik der
Munitionsarbeiter beteiligt habe.
Drittes
Reich
Nachdem
als Folge des verlorenen Ersten Weltkriegs die k.u.k. Monarchie aufgelöst und
Österreich auf sein deutschsprachiges Kernland reduziert wurde, war an sich der
Weg frei für eine Vereinigung im großdeutschen Rahmen. Dem schoben die Siegermächte
zunächst einen Riegel vor, indem sie Österreich zur Unabhängigkeit verpflichteten.
Das hinderte den österreichischen Kriegsheimkehrer und späteren Postkartenmaler
Adolf Hitler nicht daran, entsprechende Visionen zu entwickeln und zu
veröffentlichen. Er verlegte seinen Lebensmittelpunkt in das politisch aktive
München. Sein 1922 in der Landsberger Haft verfasstes Werk mit dem Titel ‚Mein Kampf‘ enthält bereits alle
wesentlichen Teile seiner Vision. Ihm schwebte ein germanisches Großreich vor,
welches das Römische Reich Karls des Großen bei Weitem übertraf. Es sah die
germanische Rasse (ein damals wissenschaftlich fundierter Begriff) in einer
Führungs-, ja Herrenrolle. Der dazwischen lebenden Einsprengsel wie Juden und
Zigeuner sollte sich das Leitvolk entledigen, wenn nötig mit Gewalt.
Im
Gegensatz zum Zweiten Reich, dem Bismarck-Reich von 1871, sollte das Dritte Reich ein großdeutsches Reich
sein. Mit dieser Bezeichnung stellten sich Hitler und seine Gesinnungsgenossen in
einen historischen Rahmen. Die Idee eines Reichs diente immer der Abwehr von
Gefahren aus dem Osten. Sobald er an der Macht war, begann Hitler damit, seine
Vision zielstrebig umzusetzen. Seine Anfangserfolge von 1933 bis 1938 waren
derart offensichtlich, dass jeder Widerstand an Gewicht verlor. Die
‚Heimholung‘ Österreichs und des Sudetenlandes wurden von der betroffenen
Bevölkerung mit Begeisterung aufgenommen und (daher) von den Siegermächten des
Ersten Weltkriegs toleriert. Erst die Annexion von Restböhmen löste erste
Alarmsirenen aus. Die mit Stalin vereinbarte und erzwungene (dritte) Aufteilung Polens führte dann
zur Kriegserklärung Englands und Frankreichs.
Noch
ehe es im Westen zu Kampfhandlungen kam, überrannte Hitler die germanischen
Bruderländer Dänemark und Norwegen. Hier erlitt Hitler seine erste Enttäuschung.
Anders als in Österreich und im Sudetenland wurden deutsche Truppen nicht mit
Begeisterung empfangen. Einzelne Personen, die sich für den Anschluss
aussprachen, wurden von der Mehrheit der Bevölkerung geächtet, wie z. B. der Norweger
Quisling. Frankreich wurde im Sommer 1940 innerhalb weniger Wochen niedergerungen,
worauf das Wort Blitzkrieg zur
internationalen Vokabel wurde.
Manchmal
passte Hitler seine Strategie flexibel an die aktuelle Situation an. So bekämpfte
er nicht die faschistische Bewegung Italiens, die ähnliche Ziele verfolgte wie
er, sondern verband sich mit ihr. Um Italien zu unterstützen, ließ sich Hitler
zum Eingreifen in Griechenland und Libyen verleiten. Seine erste militärische
Enttäuschung erlitt Hitler, als der Luftkrieg um England nicht den erwarteten
Erfolg hatte. Es war Winston Churchill (1875-1965), der das
britische Volk zum Durchhalten aufrief und die USA zum Eingreifen bewegte. Der
Angriff Japans auf den Flottenstützpunkt Pearl Harbor (auf Hawaii) im Dezember
1943 brachte den Meinungsumschwung der Amerikaner herbei. Der Gegenschlag der
Westmächte begann in Afrika und endete in Berlin. Dass Hitler seinen
Vertragspartner Russland 1941 direkt angriff, sah schon fast nach einer
Verzweiflungstat aus. Wie einst Napoléon vor Moskau, so endete sein Feldzug
1943 in Stalingrad, dem heutigen Wolgograd.
Hitler
sah sich nicht nur als der Retter an, der Deutschland dem Liberalismus und
Parlamentarismus entreißen musste, sondern auch dem (jüdischen) Marxismus. Sein
Ziel war ein nationaler Sozialismus und die Überwindung des Klassenkampfs durch
eine arische Volksgemeinschaft. Das erforderte die Eroberung von Lebensraum im
Osten und eine rücksichtslose Germanisierung. Erst der Feldzug gegen die Sowjetunion
sollte die Endlösung der Judenfrage bringen. Ihre Tötung erwies sich als einfacher
als ihre Deportation. Ihm schwebte sogar vor, das Christentum zu überwinden. Es
war ihm zu sehr von Juden und jüdischer Denkweise durchsetzt (vom Apostel
Paulus bis zu Karl Marx). Er wusste jedoch, dass er dem Volke diesen Bruch mit
der abendländischen Tradition erst nach dem Endsieg zumuten konnte.
Zusammenbruch
und Neuanfang
Erst
seit dem totalen Zusammenbruch von 1945 gewann die Orientierung an westlichen
Werten die Oberhand. Der Widerstand gegen Hitler, der zum Attentat im Juli 1944 führte, hatte noch
traditionelle Ziele. Man dachte christlich, humanistisch, kantisch oder
preußisch, aber nicht demokratisch und liberal. Es waren die Überlebenden von
Weimar (wie Adenauer und Heuss), auf deren Erfahrungen das Grundgesetz (GG) der
Bundesrepublik basiert. Es brachte eine Kompetenzverschiebung weg von der
Zentrale hin zu den Ländern, eine repräsentative statt einer plebiszitären Verwirklichung
des Wählerwillens, keine Exekutivgewalt für den Präsidenten, nur konstruktives
Misstrauen, usw.
Waren
in Weimar die rechten Parteien national und die linken international ausgerichtet,
so verkehrten sich jetzt die Seiten. Die CDU und FDP betrieben die Westorientierung.
Sie führten den konservativen Teil Deutschlands in die Demokratie. Die SPD versöhnte
die Arbeiter mit einem sozial gebändigten Kapitalismus, blieb aber eher national.
Als Adenauer 1949 dem Ruhrstatut zustimmte, das den Weg zur Montanunion vorbereitete,
beschimpfte Kurt Schumacher (1895-1952) ihn mit
dem Ausdruck ‚Kanzler der Alliierten‘.
Martin Niemöller (1892-1984) verstieg
sich sogar zu der Aussage, der jetzige Staat sei in Rom und Washington geboren.
Erst mit Willy Brandt, dessen politischer Reifeprozess in der Emigration und im
Nachkriegs Berlin abgelaufen war, kam ein prowestlicher Sozialist an die Macht.
Gespaltene
Nation
Durch
den 1961 erfolgten Mauerbau in Berlin wurde die Trennung der beiden Landesteile
anschaulich demonstriert. Nach der 68er Phase wurde die Bundesrepublik noch ein
Stück westlicher. In dem Maße, wie sich der Ostblock absonderte, sank die
Hoffnung auf die Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten. Für viele
Linke, so den späteren SPD-Vorsitzenden Oskar Lafontaine (* 1943), war die Wiederherstellung
des Nationalstaates kein Ziel der Politik mehr. Man kümmerte sich eventuell
noch um eine Verbesserung der Lebensverhältnisse im Osten. Auch Willy Brandts
vielgerühmte Ostpolitik widmete sich primär humanitären Zielen. Seinem Wirken
wurde durch eine von Ostberlin verursache Spionage-Affäre ein jähes Ende
bereitet. Obwohl es offensichtlich war, dass unsere ostdeutschen Mitbürger nie
die Gelegenheit hatten, sich frei für ihren Staat auszusprechen, verlangten
Lafontaines Anhänger, dass man aufhören sollte von einer Nation zu reden. Wir
sollten die deutsche Zweistaatlichkeit als Strafe für Auschwitz ansehen und
akzeptieren.
Während
die DDR ihre Handelsbilanz durch Menschenhandel (genauer gesagt Freilassung von
Häftlingen) aufbesserte, förderte sie im Westen die so genannte Friedensbewegung,
die gegen den NATO-Doppelbeschluss (Aufstellung von Pershings II bei
gleichzeitigen Verhandlungen) zu Felde zog.
Wiedervereinigung
als Geschenk
Für die
deutsche Wiedervereinigung haben zwei ausländische Politiker entscheidend beigetragen.
Michail Gorbatschow (* 1931) lockerte
Russlands Druck auf die Randstaaten, was in Ungarn und Polen zum Strukturwandel
und in Ungarn zur Öffnung der Grenze führte. Ostberlin widersetzte sich, bis
der Druck aus dem Volk das Regime in Schwierigkeiten brachte. Russland
verhinderte die Gewaltanwendung, selbst als es zum Mauerfall kam. US-Präsident George Bush (* 1924) gab Helmut
Kohl Rückendeckung, bis dass im Rahmen der Zwei-Plus-Vier-Gespräche
diplomatisch ein Rahmenvertrag ausgehandelt war.
Mit
seinem 10-Punkte-Plan brachte Helmut Kohl im Dezember 1989 die Konföderation
der beiden deutschen Staaten ins Gespräch, ohne sich mit England und Frankreich
abzustimmen. Lafontaine verlor seine Zustimmung im Osten gänzlich, als er
forderte, dass man Ostdeutschen den Zugriff auf unsere Sozialsysteme verwehren
müsse. Brandt äußerte sich versöhnlicher, als er sagte, es solle zusammenwachsen,
was zusammengehört. Erst im Dezember 1989 rückte die staatliche Vereinigung in
Kohls Visier, als Dresdener Demonstranten vom ‚Einig Vaterland' sprachen. Kohl
schlug den Anschluss nach Artikel
23 GG vor, weil er Angst hatte, dass für ein komplizierteres Verfahren
möglicherweise die Zeit fehlte. Die Zwei-Plus-Vier-Verhandlungen wurden im Mai
1990 abgeschlossen. Es folgte die Anerkennung der Ostgrenzen im Vertrag mit
Polen im November 1990. Im Vergleich zum Bismarck-Reich verzichtete die
Bundesrepublik auf die ehemals deutschen Gebiete in Schlesien und Preußen.
Resümee
und Ausblick
Die
deutsche Geschichte als eine Geschichte der versäumten Revolutionen darzustellen,
ist zu einseitig. Jede ersparte Revolution, die wir einem aufgeklärten Absolutismus
zu verdanken hatten, hat vielen Menschen das Leben gerettet und wirtschaftlichen
Schaden verhindert. Revolutionen sind ̶ das sei vor allem der Jugend gesagt ̶ nicht
die einzige Methode, wie sich Meinungen von Minderheiten Gehör verschaffen können.
Andere Wege können ein paar Jahre länger dauern.
Deutschland
benötigt sowohl eine starke Westbindung als auch ein gutes Verhältnis zu unsern
östlichen und anderen Nachbarn. Deutschlands antiwestlicher Sonderweg endete 1945. Ob wir uns
seit 1990 in einer postnationalen Entwicklung befinden, die sich in einem
europäischen Superstaat vollendet, darf bezweifelt werden. Aus Katastrophen wie
Auschwitz sollte keine Rechtfertigung für einen neuen deutschen Sonderweg abgeleitet
werden. Die deutsche Politik der letzten Jahrzehnte musste sich dieser Frage
stellen, sei es im Kosovo, in Afghanistan oder in Libyen.
Die Begriffe Nation und Nationalität sind in der Diskussion und werden sich weiterentwickeln. Ob sie soweit aufgelockert werden, wie dies Ernest Renan schon im 19. Jahrhundert vorschwebte,
wird sich zeigen. Es ist keine Frage, dass Menschen ein Zusammengehörigkeitsgefühl
benötigen und entwickeln. Das erfordert meist mehrere Generationen, setzt aber (ein
gewisses Maß) an Freiwilligkeit voraus. Elsass-Lothringen, Österreich und Luxemburg
haben diese Schwelle überschritten. Das Saarland entschied sich zweimal für
Deutschland. Angesichts der Beweglichkeit moderner Menschen stoßen jetzt schon
häufig Rechtsprinzipien, wie das der Abstammung (des Blutes) und das des
Geburtsortes (des Bodens) aufeinander, so dass eine gewisse Wahlfreiheit entsteht.
Das Ergebnis ist [wie im Falle eines unserer Kinder] die mehrfache Nationalität.
In seiner Rede am 8.5.2015 vor dem Deutschen Bundestag meinte Winkler, dass es eine Lehre gäbe, die man unbedingt aus der deutschen Geschichte ziehen müsste: ‚..nie wieder dürfen Polen und die baltischen Republiken den Eindruck gewinnen, als werde zwischen Berlin und Moskau irgendetwas über ihre Köpfe hinweg und auf ihre Kosten entschieden.‘ Dass er sich u. a. auf den letzten SPD-Bundeskanzler bezog, war für jeden Zuhörer zu erahnen.
AntwortenLöschenWie vom Ernest Renan gefordert, sind die meisten Nationen Solidargemeinschaften. Eine bekannte Ausnahme sind die USA, wo der Bund nicht für die Schulden einzelner Staaten haftet. Die Bundesrepublik Deutschland erfüllt diese Eigenschaft nur zum Teil. Es gibt einen Länderfinanzausgleich, der aber Länder wie Bremen, Saarland und Berlin nicht dazu zwingt, ihre Haushalte selbst auszugleichen.
AntwortenLöschenDer Maastrichter Vertrag verbietet den Finanzausgleich (engl. bail out) zwischen Staaten. Dem setzt sich die derzeitige griechische Regierung unter Alexis Tzipras vehement entgegen. Die fordert Solidarität ein. Sein Fehler, der zu Missverständnissen führt, besteht darin, dass er eine Abweichung von bestehenden Verträgen fordert und nicht ihre (nicht rückwirkend geltende) Änderung.