Es sind
inzwischen fast 20 Jahre her, seit Samuel Huntington (1927-2008) die Welt
mit seiner These vom Kampf der Kulturen erschütterte. Das
Buch erschien 1996, nachdem er 1993 in einem Artikel in der Zeitschrift Foreign Affairs die These zum ersten Mal
vorgestellt hatte. Ich las dieser Tage das Buch, um zu sehen, wie es Leuten
ergeht, die versuchen, die Welt zu erklären. Außerdem gab es das Buch kostenlos
im Rahmen meines E-Book-Abos. Der Englische Originaltitel heißt bekanntlich Clash of civilizations. Die
Unterscheidung, die wir zwischen Zivilisation und Kultur machen, gibt es weder
im Englischen noch im Französischen. Der Übersetzer hatte daher einige
Probleme. Zur Erinnerung: Im Englischen ist Zivilisation eine Kultur im großem
Ausmaß. Der Begriff Kulturkreis kommt dem am nächsten. Im Deutschen ist
Zivilisation eine quasi mechanistische Voraussetzung von vielen Kulturen. Es
ist das, was primitiven Kulturen meistens fehlt.
Anlass und
Ziel des Buchs
Nach
dem Fall der Berliner Mauer behauptete Francis Fukuyama (*1952), dass jetzt
der ‚Westen‘ an allen Fronten gewonnen habe und daher der ewige Friede bevorstünde.
Huntington hat sehr viel historisches Wissen analysiert, um diese Behauptung zu
widerlegen. Während des Kalten Krieges sei der Westen lediglich die Speerspitze
im Kampf gegen die bolschewistische Weltherrschaft gewesen. Wie im Falle
Jugoslawiens brachen danach auf der ganzen Welt andere Konflikte wieder auf,
die längst vergessen zu sein schienen.
Die westliche
Kultur mag einmalig sein, sie sei aber nicht universell. Besonders in den USA war
lange Zeit die Meinung verbreitet, dass alle Völker sich für die westlichen Werte
entscheiden würden. Es sind dies: Demokratie, freie Märkte, Menschenrechte,
Rechtstaatlichkeit, Individualismus und die Trennung des Religiösen vom
Weltlichen. Es sei nicht zuletzt die Revitalisierung der Religionen, die kulturelle
Unterschiede verstärke.
Kulturkreise
und ihre Kernstaaten
Die
wichtigsten nicht-westlichen Kulturen sind die chinesische und islamische. Die
indische, japanische, russische und latein-amerikanische sind auch im Rennen,
aber weniger aggressiv. Er benutzt für die sieben Kulturkreise die Bezeichnungen:
sinisch, islamisch, westlich, hinduistisch, japanisch, östlich und lateinamerikanisch.
Diese sind von Natur aus langlebig. Alle verfügen über Kernstaaten, außer der
islamischen. Meist gruppieren sich mehrere Länder hinter der Führungsnation
einer Kultur.
China ist
eindeutig der Kernstaat und Magnet der sinischen Kultur. Nur bei seinem ersten
Besuch in Peking im Jahre 1976 bestand Lee Kuan Yew, der Premier von Singapur,
darauf mit Chinesen Englisch zu sprechen. Er hat es danach nie wieder getan. Seit
dem Untergang des osmanischen Reiches ist die Position eines Kernstaates für
den islamischen Kulturkreis nicht mehr besetzt worden. Arabien besteht heute
aus einer Ansammlung von Stämmen, nur verbunden mit der einheitlichen (schwarzen)
Flagge des Islams. Es gäbe keine führende Nation. Außerdem ist der Islam tief gespalten
zwischen Sunniten und Schiiten.
Neben
den großen Kulturkreisen gibt es auch einsame Länder. Beispiele sind Äthiopien,
Haiti und Japan. Zerrissen seien Länder wie Russland, Mexiko und die Türkei. Russland
stelle eine überalterte Gesellschaft dar, und sei keine Bedrohung für den Westen,
wenn man ihm sein Einflussgebiet lässt. Die Türkei wollte Atatürk verwestlichen
und modernisieren, ohne Rücksicht auf Verluste. Dass dies nicht ganz gelang,
erfahren wir Deutschen an den Millionen von türkisch stämmigen Einwandern, die
bei uns heimisch wurden. Russland, Japan und Indien pendeln im Grunde zwischen dem
Westen, dem Islam und China. Russlands Anrainer-Staaten haben noch weniger als
die Ukraine die Chance, einen eigenen Weg zu gehen. Weißrussland sei bis auf seinen
Namen ein Teil Russlands. Georgien habe keine Wahl, außer sich von Russland
helfen zu lassen.
Mehrfachidentität
und Multikulti
Fast
immer folge das kulturelle Selbstbewusstsein eines Landes seinem wirtschaftlichem
Erfolg. China ist auch hier das auffallendste Beispiel. Mit der kulturellen
Identität tritt die Frage in den Hintergrund: 'Auf wessen Seite stehst Du?'.
Die Frage, die an ihre Stelle tritt, heißt: 'Wer bist Du?'. Man definiert sich
selber, indem man differenziert.
Im
Grunde hat jeder Mensch mehrere Identitäten, die miteinander im Konflikt liegen
können. Der Idee des Multikulturismus gegenüber war Huntington extrem
ablehnend. Er befürchtete, dass dadurch der Individualismus innerhalb einer
Gesellschaft ersetzt würde durch Gruppendenken. Interkulturelle Partnerschaften,
etwa zwischen den USA und Russland, zu erwarten, sei eine Illusion. Das Wort
Kalter Krieg sei kein Begriff der Neuzeit. Das ganze Mittelalter über, also
1000 Jahre lang, bestand ein Verhältnis zwischen Christen und Muslimen, für das
die Bezeichnung Kalter Krieg (span. guerra fria) galt.
Konflikte
und ihre Wurzeln
Huntington
greift eine Klasse von Konflikten heraus, deren Wurzeln sich aus kulturellen
Unterschieden erklären lassen. Dies erklärt die Wurzeln einiger heutiger
Konflikte ganz gut. So sagt er (1996) zur Ukraine, dass das Land gespalten sei.
Es sei dies keine ethnische Spaltung, sondern es handle sich um zwei Kulturen. Auf
der Krim und im Donbass drängt die russische Mehrheit auf den Anschluss an
Russland. Sie wollen nicht Teil des ‚Westens‘ sein, wie er durch die ehemals
polnischen oder österreichischen Westler (unierte Christen) angestrebt wird.
Das Land ist nur vor dem Zerfall sicher, solange russlandfreundliche Politiker
das Sagen haben. ‚Der Osten und die Krim werden zu Russland kommen, den Westen
kann der Teufel holen,‘ so zitierte Huntington einen russischen General.
Über
Griechenland schrieb er: ‚Griechenland
ist nicht Teil des westlichen Kulturkreises. ... Es verfolgte immer eine
Wirtschaftspolitik, die den in Brüssel herrschenden Standards Hohn zu sprechen
schien.... In Zypern sind etwa 2000 Unternehmen in russischem Besitz...Nach dem
Kaltem Krieg entwickelt sich Griechenland zum Partner Russlands.‘ Manche Konflikte
der Zukunft würden durch die Arroganz des Westens verschuldet, andere durch
islamische Unduldsamkeit oder sinischem Auftrumpfen. Mit dieser Voraussage wird
Huntington Recht behalten.
Bruchlinienkriege
und Migrationsströme
Die
Welt ist voll von Bruchlinienkriegen. In Bosnien und Kroatien geht es gerade um
die Bruchlinie zwischen dem Islam und dem Westen, die schon den ersten
Weltkrieg auslöste. Während Huntington sein Buch schrieb, gaben die USA und
Saudi-Arabien militärische Hilfe an Bosnien, Russland an Serbien. Kroatien suchte
und bekam Hilfe aus Westeuropa. Die islamische Bedrohung drückte sich damals
wie heute in Terror aus. Es sei ein Quasikrieg. Es gäbe keinerlei Beweise, dass
Terror von Muslimen abgelehnt wird. Das Problem sei nicht der islamische Fundalismus,
sondern der Islam, meinte Huntington. Ein wichtiger Grund für Konflikte ergebe
sich aus dem Populationsdruck. China halte sich, was Bruchlinienkriege
betrifft, auffallend zurück. Es wurde immer wieder in eine Allianz mit den muslimischen
Hardlinern Iran und Pakistan gedrängt. Es beschränke sich jedoch auf Waffenlieferungen.
Migrationsströme
waren vor 20 Jahren im Vergleich zu heute, kleine Rinnsale. Geradezu
prophetisch klingt der Satz: Ein Migrationsstrom, der einmal in Gang gekommen,
unterhält sich selbst. Die ersten Umsiedler, die Fuß gefasst haben, ziehen unweigerlich
andere nach. Heute werden die Migrationsströme etwa aus Afrika und dem Balkan
noch von Flüchtlingsströmen etwa aus Syrien und Afghanistan überlagert. Nur bei
den Flüchtlingen besteht die Hoffnung, dass sie einmal in ihre Heimat zurückkehren.
Gibt es
die Weltkultur?
Für
manche politisch Gebildeten, besonders aus Entwicklungsländern, scheint es
gewisse minimale Gemeinsamkeiten zu geben. Huntington nennt dies die Davos-Kultur.
Er selbst hat einmal am Weltwirtschaftsforum teilgenommen. Sie
umfasse eine recht dünne Oberschicht. Es sei noch ein langer Weg, bis daraus
eine Weltkultur würde. Wenn damals (und auch heute) von der Weltgemeinschaft gesprochen
wird, ist dies meist ein euphemistischer Ersatz für die 'Freie Welt', ein
Begriff aus der Zeit des Kalten Krieges. Ob er heute andere Länder und Kulturen
umfasst als damals, darf bezweifelt werden.
Der
nicht greifbaren Weltkultur gegenüber stehen weltweit agierende Unternehmen und
Verbände, darunter auch Drogenkartelle und Verbrechersyndikate. Auch die Terrororganisationen
operieren weltweit. Ob die Welt in der Form wie sie heute ist, damit fertig
wird, wird sich zeigen müssen. Es ist dies auch heute eine der großen offenen
Fragen. Dass politische oder humanitäre Weltorganisationen in Huntingtons Buch überhaupt
nicht vorkommen, ist erstaunlich.
Diskussion
und Kritik
Huntingtons
These hatte natürlich auch Kritiker auf den Plan gerufen. So ist zum Beispiel
der in Indien geborene Ökonom und Nobelpreisträger Amartya Sen (*1933) der
Auffassung, dass Huntingtons Buch unter den vielen Aspekten, welche die
Identität eines Menschen ausmachen, der kulturellen Zugehörigkeit zu großes Gewicht
beimesse. Er kritisiert die Einschränkung des Menschen auf Religion und Kultur.
Bezüglich
langfristiger Trends scheint mir Huntington durchaus richtig zu liegen. Die USA
und Europa entwickeln sich immer stärker in die Richtung von gespaltenen Gesellschaften.
In den USA sind es Westler und Latinos, in Europa Westler und Muslime. Die USA
hispanisiert, die EU islamisiert. Der Trend der letzten 20 Jahre war sehr
eindeutig. Huntington warnt davor, Spalten zu übersehen. Er sagt nicht, was
Gesellschaften tun können, damit diese nicht zur Katastrophe werden. Er ist ein
Wissenschaftler, der nur diagnostiziert. Heilen. d.h. eine Therapie auswählen
und diese anwenden, das müssen andere.
Was
mich beim Lesen manchmal bewegte, waren Fragen der Art: Muss die Wissenschaft immer
so sehr abstrahieren, um überhaupt sinnvolle Aussagen machen zu können? Ist das
Weltgeschehen immer monokausal? Oder hört einfach niemand mehr zu, sobald man
differenziert? Auch ich sehe viele Konflikte, die nicht kulturell bedingt sind.