Das
Thema Fachgesellschaften kam in diesem Blog immer wieder vor. Seit Jahren
stagniert die Mitgliederzahl der GI. Schuld seien die Praktiker. In einem
Kommentar zu einem früheren Blog-Beitrag schrieb Katharina
Zweig:
… als
Junior Fellow der GI kann ich Sie nur dazu auffordern, Kandidaten und
Kandidatinnen für ein Junior Fellowship, die nicht aus dem akademischen Feld
kommen, massenweise vorzuschlagen. Wir würden uns sehr freuen, diese in unseren
Kreis aufzunehmen!
In
etwas drastischerer Sprache ausgedrückt, lässt sich das Zitat wie folgt
verkürzen: Schmeißt Sie nur her, die Praktiker! Dem kann ich nur entgegnen: Wenn
es doch so einfach wäre! Um sich der
Problematik zu nähern, will ich auf einige frühere Erfahrungen kurz hinweisen.
Frühere
Erfahrungen und Hinweise
Die GI wurde bekanntlich in Bonn in den Räumen
des Forschungsministeriums gegründet. Anwesend waren diejenigen Professoren,
die ihre Universitäten im Förderprogramm des Bundes vertraten, also die
Empfänger von Fördergeldern. Erste Praktiker und Kollegen von Fachhochschulen
traten Monate später ein. Der kürzlich verstorbene Kollege Eike Jessen, der
damals für den Rechnerhersteller Telefunken arbeitete, schlug 1972 dem
GI-Präsidium vor, eine Zeitschrift für Mitglieder zu gründen. Diese könnten Praktiker, die nicht
während ihrer Arbeitszeit am Leben der GI (wie an ganztägigen Tagungen) teilnehmen können, außerhalb ihrer Arbeitszeit lesen. Daraus wurde das
Informatik-Spektrum.
Bald
danach wurde eine Zeitschrift gegründet, Informatik
– Forschung und Entwicklung (IFE) genannt, in der Forscher und Entwickler
in deutscher Sprache veröffentlichen sollten. Die Zeitschrift existiert noch (unter anderem Namen),
veröffentlicht aber nur noch in Englisch. Das Schicksal ist schnell erklärt:
Die akademischen Forscher, die ja vorwiegend in Zeitschriften publizierten, zogen weiterhin
englischsprachige Zeitschriften vor, weil nur diese auf der ganzen Welt gelesen
und zitiert werden. Entwickler publizieren nur das in Zeitschriften, was für
sie keinen Wert hat. Alles andere fließt in Produkte. Oft wird es auch publiziert,
und zwar vorwiegend in Form von Patentanträgen, weil dadurch das geistige
Eigentum geschützt ist. Alle Versuche, Entwickler dafür zu gewinnen in IFE zu
publizieren, schlugen fehl.
Seit
ich im Ruhestand bin, habe ich mehrere Versuche unternommen, auf das Vorhandensein
von Kollegen hinzuweisen, die nicht an Hochschulen tätig sind. Nur zwei
Aktionen möchte ich erwähnen. In diesem Blog gehören zwei Beiträge aus dem Sommer
2011 zu den absoluten Rennern. Es sind:
Die
Tatsache, dass diese Art von Information über Leitbilder aus der Praxis sehr begehrt
ist, hat mich darin bestärkt, diesen Blog fortzuführen. Im letzten Monat
erschien das Buch Menschen machen Informatik von Albert Endres und Rul Gunzenhäuser. Darin enthalten
sind 16 Interviews mit Wissenschaftlern und 11 Interviews mit Praktikern. Bei
den 15 Nachrufen ist das Verhältnis 4:11, so dass insgesamt ein Verhältnis 20:22
zu Gunsten der Praktiker herauskommt. Alle Interviews und die Nachrufe erschienen
vorher in diesem Blog. Zu meiner Überraschung erreicht das Buch Kolleginnen und
Kollegen, für die ein Blog Neuland ist. Der Blog enthält übrigens noch ein
halbes Dutzend Interviews, die es nicht in das Buch schafften. Sie stammen
vorwiegend von Praktikern.
Vorhandene
Attraktoren für Akademiker
Hier
fällt mir immer wieder die Analogie zur Feudalzeit ein. Junge Adelige wurden
angehalten, möglichst viel Zeit am Hofe eines übergeordneten Herrschers zu verbringen.
So gingen schon bayrische Prinzen an den Hof Karls des Großen. Kamen sie dann
selbst an die Macht, bestanden persönliche Kontakte, die hilfreich waren.
Professoren listen als ihre Schüler immer nur diejenigen, die auch bei ihnen
promoviert haben. Alle andern sind verlorene Söhne oder Töchter. Es besteht
kaum noch Kontakt zu ihnen.
Fachgesellschaften
unterstützen den gegenseitigen Kontakt von Akademikern, vorwiegend durch
mehrtägige Veranstaltungen. An die Stelle von Ritterspielen treten fachliche
Feste. Oft ist ein älterer Kollege der Anlassgeber (Jubiläen, Positionswechsel)
oder man wechselt einfach von Residenz zu Residenz, Verzeihung - ich meine von Hochschule
zu Hochschule. Außenstehende benutzen manchmal das böse Wort von Seilschaften.
Was früher primär familiäre Beziehungen waren, so wie zwischen Habsburg und dem
Haus Baden, sind heute fachliche Verwandtschaften. Man sagt auch Schulen dazu.
In der Informatik gibt es eine Münchner und Saarbrücker Schule – um nur die
bekanntesten zu nennen.
Die
nicht in die akademische Laufbahn gewechselten Schüler sind quasi Aussteiger. Oft
kommen diese in der rauen Wirklichkeit unter diverse Einflüsse und verraten
auch schon mal die reine Lehre. Kommen sie nur bei ihrer Alma mater vorbei um
Hallo zu sagen, ist das von geringer Bedeutung. Mit Geld dotierte
Kooperationsprojekte im Gepäck werden lieber gesehen.
Mögliche
Attraktoren für Praktiker
Was im
vorigen Abschnitt als recht natürlich klang, und historische Parallelen suggeriert, ist im Falle von Praktikern wesentlich
komplizierter. Eine Fachgesellschaft kann nicht mit Familienfesten allein locken.
Sie muss Angebote haben, die man vor Ort
und am Wochenende konsumieren kann. Eine Fachtagung ist fast immer
verlorene Zeit, es sei denn Studierende tragen vor, und man selbst stellt
gerade Absolventen ein. Leuten zuzuhören, die nur andere Akademiker
beeindrucken wollen, bringt meistens nichts. Der verbilligte Bezug von
Zeitschriften, auf die man sehr leicht verzichten kann, beeindruckt nicht. Da Verleger erkannt haben, dass viele Zeitschriften primär für Autoren interessant sind, und nicht für die Leser, bitten sie auch zunehmend die Autoren zur Kasse.
Gerade das Internet bietet enorme Chancen, auch für Fachgesellschaften, über die man nachdenken sollte.
Wer wissen will, was möglich ist, braucht nur über den Zaun zu schauen. Ich
meine natürlich den Ozean bzw. mein Terminal oder Lesegerät. ACM und IEEE
bombardieren mich jede Woche mit neuen (für mich kostenlosen) Angeboten, die
ich ähnlich wie einen MOOC im persönlichen Tempo nutzen kann. Jede dieser
beiden Fachgesellschaften hat niedrigere Mitgliedsbeiträge als die GI, und ein
wesentlich reichhaltigeres und attraktiveres Angebot.
Ehe ich
neue Arten von Angeboten selber erfinde und hier vortrage, höre ich lieber auf.
Ich verlasse mich auf die geballte Intelligenz der Leser. Zur Not verfasse ich irgendwann
selbst einen Nachtrag. Noch hat mich Ex-Kollege Gunter Dueck nicht davon überzeugt,
dass der Schwarm immer dumm macht.
Nachtrag vom 24.7.2015:
ehe ich unsere spannende Diskussion beende, hier noch ein Hinweis, der Ihnen hilft meine Aversion gegen das Mantra ‚Mehr Forschung braucht das Land‘ zu verstehen. Ich arbeitete die meiste Zeit meines Lebens in einer Umgebung, in der Investitionen in Forschung und Entwicklung oft in Konkurrenz zueinander standen. Damals galt:
Nachtrag vom 24.7.2015:
Alldieweil
ich auf eine Antwort warte, die vielleicht gar nicht kommt, hier meine Mail vom
23.7.2015 an Katharina Zweig:
ehe ich unsere spannende Diskussion beende, hier noch ein Hinweis, der Ihnen hilft meine Aversion gegen das Mantra ‚Mehr Forschung braucht das Land‘ zu verstehen. Ich arbeitete die meiste Zeit meines Lebens in einer Umgebung, in der Investitionen in Forschung und Entwicklung oft in Konkurrenz zueinander standen. Damals galt:
(a)
Forschung ist nicht da die Antwort, wo eigentlich Entwicklung nötig und möglich
ist.
(b)
Forschung ist nicht da erforderlich, wo Entwicklung niemals nötig oder je
möglich sein wird.
Ich
gebe zu, dass es auch andere Umgebungen gibt, z.B. solche, die man mit dem Satz
umschreiben kann ‚Schreibe Forschungsanträge oder stirb!‘ (in Abwandlung des
bekannteren Slogans ‚Publish or die!‘). Diese Art der Arbeitsumgebung blieb mir
zeitlebens erspart.
Soeben schrieb Hartmut Wedekind aus Darmstadt:
AntwortenLöschenSie sind ein Bösewicht und verschrecken die vielen kleinen Akademiker. Aber schön geschrieben. Sie machen "Bumbum" und treffen hoffentlich. Der Kern der Auseinandersetzung ist die Frage: Was ist ein Problem? Man bedenke: Das Wort Problem kommt aus dem Griechischen und heißt "Das uns Vorgeworfene". Lateinisch heißt das Vorgeworfene "obiectum", von iacere (werfen). Objekte der Lateiner sind Probleme der Griechen. Ein Objektorientierter der Informatik ist so gesehen ein Problemorientierter. Schön wär's .
Wir meinen, wenn wir von Problem sprechen, aber die griechische Version. Es gibt Probleme der Notwissenschaften, die sich um die Bewältigung des Lebens in mäßigem Wohlstand kümmern, und Probleme der Freien Wissenschaften. Freie Wissenschaften legen sich ihre Aufgaben (Probleme) selbst vor. Das ist ihr Stolz und ihre Ohnmacht. Freie Wissenschaften tun häufig so, als ob sie Notwissenschaften seien. Interessanterweise ist das Umgekehrte nie der Fall.
Der bekannte Frankfurter Mathematiker und Gruppentheoretiker Reinhold Baer wurde einmal nach seinem Vortrag gefragt: "Kann man das auch anwenden?". Seine Antwort "Hoffentlich nicht". Das war ein echter Freier Wissenschaftler mit Charakter.
Sie wollen doch nicht etwa alle Informatikerinnen und Informatiker, die sich ihre Probleme selbst stellen, als Geisteswissenschaftler bezeichnen?
LöschenGestern schrieb Gerhard Schimpf aus Pforzheim:
AntwortenLöschenDer Streit über Praxisferne vs. Praxisnähe ist ziemlich unfruchtbar, solange eine Wertigkeit unterstellt wird. Mir ist dazu ein Zitat von Wilhelm von Humboldt in die Hände gefallen: "Es schadet einem Professor nicht, wenn er einen Tisch schreinern kann, So wenig es einem Schreiner schadet, wenn er Altgriechisch kann."
Darauf erwiderte Calvin Arnason aus Portland, Oregon:
LöschenDas lobenswerte Zitat von Humboldt erinnert mich an die Geschichte von John Harrison (1693-1776) und seine wunderbare Entwicklungsarbeit um das Schaffen eines Chronometers. Harrison war Schreiner, Chormeister, und dann Uhrmacher - ohne akademische Ausbildung. Seine Leistung wurde zu seiner Lebzeit nicht anerkannt - die Royal Society [geleitet von Newton] konnte nicht akzeptieren, dass ein Schreiner dazu in der Lage sein konnte, wo doch hochgebildete Leute es nicht konnten.
I would like to share with you all a most interesting account of Prussia / Silesia from 1800 written by John Quincy Adams (a truly well educated man! ... like Humboldt from the same place and time) and available for direct access on Google Books:
https://archive.org/details/lettersonsilesi00adamgoog ...
he describes his travels by coach from one city to the next with stops and interviews. It is the most interesting snapshot of that time and place I have seen - religion, government, technology, law ... just fascinating - a real FIND.