Mögest
Du in interessanten Zeiten leben – so heißt ein altchinesischer Fluch. Umgekehrt
folgt daraus, dass es besser ist in langweiligen Zeiten zu leben. Schon lange
habe ich Nachrichten nicht mehr im stündlichen Rhythmus verfolgt. Während der
letzten vier Wochen lohnte es sich. Ich selbst kommentierte nur etwa jede
zehnte Nachricht, die ich las. Ich spekulierte darüber, wie es wohl weitergehen
könnte. Einige meiner E-Mail-Partner genossen dies. Die Ergänzungen zu meinem letzten
Blog-Eintrag, der Griechenland betraf, hatte ich nach dem 13. Kommentar
beendet. Gestern schickte mir mein Freund Peter Hiemann aus Grasse eine längere
Mail, in der er über die heutige politische Situation reflektiert. Diese Ideen
möchte ich meinen Lesern nicht vorenthalten. Am Tag vorher hatte Peter Hiemann mir
geschrieben:
Die Ereignisse in Griechenland könnten beispielhaft auf weitere politische und gesellschaftliche Veränderungen in Europa hindeuten. Ich sehe nämlich Beispiele, wie Eliten, die existierende politische und ökonomische Systeme 'verteidigen', in die Defensive geraten sind. Insbesondere die ältere Generation der Sozialdemokratie.
Dazu
hatte ich bemerkt: Wo in Europa (oder
anderswo) sehen Sie junge Idealisten, die wir beide unterstützen müssen? Seine
Antwort:
Ich
kenne niemanden. Ihre Frage hat mich jedoch angeregt, ein paar meiner Gedanken
offenzulegen: Ich
kenne niemanden, der derzeit behaupten kann, er habe eine klare Vorstellung
davon, wie und warum die zahlreichen gegenwärtigen Krisensituationen entstanden
sind und wie sie überwunden werden könnten. Ich kenne einige, die mit
derzeitigen ökonomischen und politischen Verhältnisse unzufrieden sind und der
Ansicht sind, dass derzeitige Ökonomen und Politiker nicht mehr glaubwürdig
sind, wenn sie behaupten, Krisensituationen unter Kontrolle zu haben oder gar
zukünftig vermeiden zu können. Ich weiß aus Presseberichten von
Bevölkerungsgruppen (Tendenz steigend), die persönlich unter Not und
Perspektivlosigkeit leiden und die Hoffnung auf Besserung ihrer Lage verlieren.
Frustrationen
sind vielfältig, ob Schuldenkrise in Griechenland, Flüchtlingsdramen am
Mittelmeer, Krieg in der Ukraine oder Terrorregime im Nahen Osten und Afrika.
Die von Krieg und Terror direkt Betroffenen sind frustriert, weil sie sich
nicht schützen können. Die von ökonomischer Not Betroffenen sind frustriert,
weil sie hilflos sind, um ihre ökonomische Situation und Perspektive zu beeinflussen.
Ein
alter Herr sitzt in seinem komfortablen Glashaus [Hiemann meint sich selbst] und ist nachdenklich, weil er
sich im weiteren Sinn für die gegenwärtigen gesellschaftlichen Zustände
mitverantwortlich sieht, seinen Kindern und Enkeln aber keine Weisheiten
hinterlassen kann, wie unter heutigen Bedingungen Ungerechtigkeiten und
Unfrieden, wenn schon nicht vermieden werden können, so doch wenigstens für
Betroffene nicht zu lebensbedrohlichen Situationen führen. Der alte Herr kann
lediglich ein paar Gedanken formulieren, die ihm durch den Kopf gehen. Wenn er
Glück hat, findet er ab und zu jemanden, der daran interessiert ist, ein paar
seiner Überlegungen nachzuvollziehen. Er rät Leuten, die im Glashaus sitzen,
übrigens dringend davon ab, aufkommenden Frust mit Steinewerfen abzureagieren.
Er ist
überzeugt, dass weiterführende gesellschaftliche Vorstellungen nur auf der
Basis weiterführender ökonomischer Einsichten gewonnen werden können. Es geht
um Erkenntnisse, welche positiven und negativen Einflüsse ökonomische
Strategien und Verhaltensweisen auf Gesellschaftsverhältnisse besitzen und wie
sie Gesellschaftsverhältnisse verändern. Neue Einsichten können gewonnen werden,
wenn sowohl neues Wissens erarbeitet wird als auch Fähigkeiten zur
Kommunikation verbessert werden. Letzteres betrifft vor allem auch die
emotionale Bewertung anderer und fremder Vorstellungen (erfordert
emotionale Intelligenz).
Die
Vorstellung, dass heute existierende ökonomische Unternehmen ausgleichende
Eigenschaften sich selbst organisierender Systeme besitzen, ist eine Legende.
Es ist erwiesen, dass Unternehmen die Tendenz besitzen, sich zu 'Monstern' zu
entwickeln. Es ist auch erwiesen, dass ökonomische 'Monster' der Gesellschaft
schaden. Derzeit werden solche 'Monster' im Krisenfall mit gesellschaftlichen
Mitteln am Leben erhalten. Es wird behauptet ( 'too big to fail'), dass deren
Erhaltung weniger gesellschaftlichen Schaden anrichten würde als deren
Tod (Insolvenz). Bei der Theorie 'too big to fail' könnte es sich um eine
Legende handeln, die von Ökonomen verbreitet wird, aus welchen Gründen auch
immer.
Vorstellungen,
die sich mit weniger 'big' und wesentlich weniger Risiko 'to fail' befassen,
besitzen das Potential, durch mehr autonome Handlungsweisen in kleinen und
mittleren Unternehmen interessante Arbeitsplätze und Lebensqualität zu
ermöglichen. Es ist eine zynische ökonomische Strategie, durch notleidende
Arbeitskräfte im Ausland Kunden im Inland zufriedenzustellen. Einige
Unternehmensbereiche scheinen sich bereits auf lokale
Produktionsmöglichkeiten umzuorientieren, z.B. lokale Energiegewinnung bzw.
Energieumwandlungen, lokal produzierte Lebensmittel. Oft werden schädliche
Einflüsse großer Konzerne und Handelsketten unterschätzt. Es ist äußerst
wichtig, dass relativ arme Bevölkerungen, die von einfachen lokalen
Produktionsmöglichkeiten abhängen, nicht durch Subventionen oder
Handelsverträge relativ reicher Staaten in ihren Handlungsmöglichkeiten
eingeschrânkt oder durch aggressive Preisgestaltung gar behindert werden.
Ganz
allgemein geht es darum, neue Erkenntnissen hinsichtlich der Vor- und Nachteile
ökonomischer und politischer Strategien zu gewinnen und zu beachten, z.B.
hinsichtlich lokaler vs. globaler Unternehmensstrategien, wirtschaftsdienlichen
vs. investigativen, spekulativen Finanztransaktionen und natürlich auch Vor-
und Nachteilen internationaler Handelsvereinbarungen (auch einer Währungsunion).
Karl Polanyi (The Great Transformation) hat überzeugend die Vorstellungen
verworfen, dass Arbeitskraft und Geld
wie Waren gehandelt werden sollen. Diese Vorstellungen gehören auf den Müll der
Geschichte.
Der
alte Herr gibt zu bedenken, dass zwar viele
gesellschaftlichen Vorteile auf technologischem Wissen beruhen, jedoch nicht
alles, was technisch möglich ist, auch gesellschaftlich verträglich ist. Das
bedeutet letztlich immer zu versuchen, Innovation und Praxis unter einen Hut zu
bringen. Pure philosophische Denkweisen, die praktische empirische Erfahrungen
außer Acht lassen, können zu gesellschaftlichen Analysen und möglichen
Veränderungen nichts Wesentliches mehr beitragen. Es ist unrealistisch, von
jungen Idealisten zu erwarten, dass sie zukunftsfähige und langfristig
tragfähige gesellschaftlichen Perspektiven entwickeln und durchzusetzen können,
indem sie sich zu spontanen Bewegungen verabreden. Wohl aber können
Protestbewegungen bewirken, dass Eliten sich ihrer Verantwortung bewusst
werden, langfristig tragfähige wissenschaftliche, ökonomische und politische
Vorstellungen zu entwickeln, für die sich junge Leute begeistern und einsetzen
können und wollen. Insofern scheinen mir "Occupy Wall Street" oder
"Podemos" durchaus sinnvoll. Dagegen halte ich "Pegida" für
reaktionär.
Die
derzeitige Schuldenkrise in Griechenland wird gesellschaftliche Auswirkungen
nicht nur in Griechenland haben. Die geballten ökonomischen und politischen
Kräfte von anderen Eurostaaten haben es nur vermocht, den Austritt
Griechenlands aus der Eurozone vorübergehend zu vermeiden. Instabile
ökonomische Verhältnisse werden jedoch weiterhin finanziell exponierte EU
Staaten 'plagen', nicht nur Griechenland. Die nächste Krise kommt bestimmt.
Welche Auswirkungen zukünftige Krisen auf zukünftige gesellschaftliche
Veränderungen in Europa haben werden, lässt sich nicht vorhersehen. Auf jeden
Fall erzeugen Krisenzeiten einen 'intellektuellen' Druck, ein paar grundlegende
Funktionen gesellschaftlicher Institutionen zu überdenken, und vielleicht sogar
ein paar notwendige Veränderungen zu veranlassen. Dazu braucht es Eliten, die
auf Krisensituationen vorbereitet sind. Es soll vorgekommen, dass sich
selbsternannte Führer berufen fühlen, eine Massenbewegung zu organisieren und
für persönliche Interessen zu missbrauchen.
Die
oben angesprochenen Überlegungen betreffen auch die oft gehörte Vorstellung
„small is beautyful“. Ein paar ausführliche Überlegungen dazu hat der mir
bisher unbekannte Ökonomen Ernst Friedrich
Schumacher
(1911-1977) angestellt: Die Ideen Schumachers dürften einigen Ökonomen nicht unbekannt
sein: „Es war Schumacher, der Anfang der 1940er Jahre den Alternativvorschlag
von John Maynard Keynes zum letztlich eingesetzten Bretton-Woods-System der
US-Amerikaner ausgearbeitet hatte. Man könnte Schumacher damit sogar als einen
der Väter der Europäischen Währungseinheit bzw. des Euro
bezeichnen.“(Wikipedia). Was an Schumachers Vorstellungen heute noch oder
wieder aktuell sein könnte, muss ich noch herausfinden.
Gesellschaften,
die mehr oder weniger mittels ideologischen oder/und nationalen Argumenten
autoritär regiert werden, benutzen mehr oder weniger die gleichen Technologien
und unterliegen mehr oder weniger den gleichen ökonomischen Prinzipien wie
demokratisch orientierte Gesellschaften. An die Stelle der Freiheitsargumente
des vergangenen 'Kalten Kriegs' treten heute Argumente, ob demokratisch
orientierte Gesellschaften bessere gesellschaftliche Voraussetzungen für
kreative und harmonische Verhältnisse bieten als autoritär regierte
Gesellschaften, die restriktive normative Verhaltensweisen befolgen.
Anstatt
Peter Hiemanns Ausführungen zu vertiefen, will ich davon ablenken, indem ich kurz
die Geschichte eines meiner Ahnen einfüge. Sie soll die Meinung relativieren,
dass nur wir in interessanten Zeiten leben.
Peter
W., der Urgroßvater meines Großvaters (kurz Ahn Peter genannt) lebte von
1768-1842. Er kam in seinem Leben nie aus seinem Eifeldorf heraus. Seine Jugend
verbrachte er in den Österreichischen Niederlanden, genauer im Großherzogtum
Luxemburg. Sein oberster Landesherr war Kaiser Josef II. Der war von 1765 bis
1790 Kaiser des Heiligen Römischen Reiches, danach Leopold II. und
Franz II.. Ahn Peter hatte 1793 geheiratet. Im August 1794 kamen französische Sansculotten
(auf Deutsch: Hosenlose) und plünderten Klöster. Schlösser und Kirchen. Sie vertrieben
den Baron, den Pfarrer und alle Ordensleute. Sie errichteten einen Freiheitsbaum,
sangen die Marseillaise und kassierten Naturalien und jede Menge Geld. Ein
Volksaufstand der Eifler (Klöppelkrieg genannt) wurde 1796 blutig niedergeschlagen.
Im
Jahre 1801 kam der Weltgeist Napoléon persönlich nach Trier. Bald darauf
mussten Söhne und Knechte mit Napoléon nach Spanien und Russland. Nachdem
Blücher die Franzosen vertrieben hatte, wurde Ahn Peter 1815 Untertan des
preußischen Königs Friedrich Wilhelm III. Seine Kinder waren recht aufmüpfig
geworden und stritten mit dem Vater um das Erbe. Man teilte den Grundbesitz des
Hofes in acht Flächenlose auf. Wem das zu wenig war, wanderte nach Amerika aus.
Ahn Peter behielt ein Flächenlos und das Hofgebäude. Wegen der beweglichen
Anteile (Vieh, Gerätschaften, Bargeld) prozessierte man vor preußischen
Gerichten nach französischem Recht, oft in drei Instanzen. Drei Kinder bauten
sich Häuser im Dorf und bewirtschafteten ihr Erbteil. Deren Söhne zogen für die
Preußen gegen Dänemark und Österreich in den Krieg.
Das
griechische Drama geht bestimmt noch eine Weile weiter. Heute Nacht hat das
Athener Parlament die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass andere Parlamente
die Aufnahme von Verhandlungen über ein drittes Hilfsprogramm beschließen können.
Soeben schrieb Otto Buchegger aus Tübingen:
AntwortenLöschenBAD - Broken As Designed, so fasse ich die Situation in Europa zusammen.
Eines hat der heutige Tag im Deutschen Bundestag klargestellt. Wer das Wort Grexit in den Mund nimmt, wird von der Mehrheit des Hauses als Totengräber Europas gebrandmarkt. Hierin sind sich alle drei Linksparteien einig. In der Union hat sich die Zahl derer, die dies noch als Option gelten lassen, seit der letzten Griechenland-Abstimmung verdoppelt. Außerdem hat sich Ex-Kanzlerkandidat Steinbrück diesem Lager angeschlossen.
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