Samstag, 29. August 2015

Nochmals: Quantentheorie für Anfänger

Während wir auf den Übertragungsbeginn eines Playoff-Spiels der Europa League warteten, tauschten Hans Diel und ich uns über sein Doppelschlitzpapier [1] aus. Wegen des Spaßes, den ich dabei hatte, schrieb ich meine Fragen auf. Hans Diel war freundlicherweise bereit, sie auch schriftlich zu beantworten. Damit hatten wir unseren nächsten Blog-Eintrag zum Thema Quantentheorie (QT). Da ich reiner Laie bin, vermeide ich das Wort Fachgespräch. Es läßt sich eher als freundschaftliches Palaver bezeichnen. Wir setzen damit unsere Diskussionen fort, die im März 2011 begannen.

Begriffsstutziger Dummy (BD): Die Kernaussage Ihres jüngsten Papiers möchte ich wie folgt paraphrasieren: Feynman sagt: Wenn immer feststellbar ist, welchen Weg die Photonen nach der Schlitzwand nehmen, dann ist der Spuk vorbei. Diel sagt: Wird festgestellt, welchen Weg.… Worin liegt der Unterschied dieser Aussagen? Ist die eine Vorbedingung rein hypothetisch, im Sinne von ‚es existiert ein Verfahren, das feststellen kann…‘, die andere dagegen auf konkrete Fälle bezogen, also auf eine reale Situation beschränkt?

Hans Diel (HD): Wie Sie wissen, war der Auslöser für meine Kritik an Feynmans Regel mein Versuch ein Computermodell zu erstellen, welches u. a. das Doppelschlitz-Experiment simulieren können sollte. Mein Computermodell muss also an einer Stelle entscheiden, soll das Interferenzbild gebaut werden oder nicht. Ein Entscheidungskriterium wie  „wenn immer feststellbar ist, welchen Weg die Photonen nach der Schlitzwand nehmen“ hilft mir dabei überhaupt nicht, es sei denn es wird irgendwo genau definiert wie bei Experimenten der Quantenphysik generell entschieden werden kann, ob „feststellbar ist, welchen ….. „. Eine derartige Definition oder Erklärung gibt es jedoch in der gesamten (Literatur zur) Quantenphysik nicht; aus dem einfachen Grund, weil man dabei schnell bei einem anderen Problemgebiet der Quantenphysik, dem Messproblem der Quantenphysik landet (siehe auch unten). Ich wollte nicht den Eindruck erwecken, dass die Formulierung „Wird festgestellt, welchen Weg … „ ein letztlich besseres Entscheidungskriterium liefert. Mein Vorschlag für ein „faktbezogenes“ Entscheidungskriterium wird gegen Ende meines Artikels geliefert.

Ich muss noch hinzufügen, dass ich zu der Überzeugung gelangt bin, dass die von mir kritisierte Feynman-Regel nicht nur ein Problem für die Entwickler von Computermodellen darstellt, sondern dass hier m.E. eine generelle Schwachstelle der Quantenphysik vorliegt.

BD: Verstehe ich Sie richtig, dass in der QT Messgerät und Messobjekt immer Information austauschen? Ich kann mir nicht vorstellen, dass zwei Steine, die kollidieren, Information austauschen? Sie merken sich doch nichts. Anders die Meeresschnecke (Aplysia). Rannte sie gegen einen Stein (selbst im Schneckentempo), dann merkt sie sich das. Sie speichert etwas in ihrem Gedächtnis. Aber doch nicht die Steine? Nur ein (intelligenter) Beobachter kann feststellen, dass sie jetzt anders liegen als vorher.

HD: Sie haben in unserer Diskussion einmal die Formulierung „Spuren hinterlassen“ benutzt. Wenn Sie also anstatt „Information austauschen“ sagen „Spuren hinterlassen“ trifft es das, was ich sagen wollte, erspart uns aber eine Diskussion zum Thema „Information“.  Allerdings möchte ich im Zusammenhang mit dem Thema „Messen“ doch lieber den Begriff  „Information“ oder „Information hinterlassen“ verwenden.  Ich sage also „Bei einem Messvorgang hinterlässt das Messobjekt Information im Messgerät“. (Die Formulierung „Informationsaustausch“ ist etwas weniger glücklich, weil das nach genereller Symmetrie klingt. Bei „Information  hinterlassen“  wird eher deutlich, dass dies nur auf der Seite des Messgeräts passieren kann.)
Zu „Meeresschnecke“ und „Stein“: Wenn Sie darauf bestehen, dass Information nur bei einem (intelligenten) Beobachter hinterlassen werden kann, kann ich nicht  mehr weiter argumentieren. Dann müssten wir gemeinsam nach einer Alternativformulierung suchen, die Ihrem Informationsverständnis gerecht wird.

BD: Ich wiederholte den Begriff ‚Spuren‘ deshalb nicht, weil man bei einem Stein sofort an gut sichtbare Schrammen denkt. Diese können auch nach Jahrhunderten noch von einem informationsverarbeitenden Wesen oder Gerät als Information interpretiert werden. Nicht jeder Kontakt oder jede Kollision hinterlässt sichtbare Spuren. Aber lassen wir dieses Thema. Muss jedes Objekt, das unter den Einfluss eines Kraftfelds gerät, wissen, was mit ihm geschieht? Muss es die Kommunikation, die stattfindet, interpretieren können?

HD: Begriffe wie „Wissen“ und „Kommunikation interpretieren“ sind für die Physik Fremdworte. Wenn Sie fragen wollen, ob ein Kraftfeld an einem Objekt, auf das es einwirkt, Spuren (=Information) hinterlässt, macht das für die Physik schon mehr Sinn. Meine Antwort: Meistens verändert das Kraftfeld nur die Bahn des Objekts auf welches es einwirkt. Beispiel für Änderungen am Objekt selbst: Ebbe und Flut.

BD: Dass viele Dinge, die es gibt, für Physiker Fremdworte sind, ist bekannt. Deshalb sollten Physiker vorsichtig sein, wenn sie behaupten, sie könnten alles erklären. Sehr zentral ist für Sie der Begriff Interaktion. Findet Interaktion (Attraktion oder Abstoßung) statt, befinden sich beide Objekte doch (meist) in einem gemeinsamen Kraftfeld. So etwa Mond, Erde und Sonne, oder zwei Steine, die denselben Hang herunterkullern. Ist Interaktion möglich, wenn zwei Objekte sich nicht in einem gemeinsamen Kraftfeld befinden? Wer oder was verursacht bzw. betreibt dann die Interaktion?

HD: Ihre Fragen haben (wieder einmal) viel mit Begriffsdefinition neben Physikverständnis zu tun. Ich will versuchen die zwei Aspekte zu trennen. Interaktion (verursacht durch die Kollision zweier Objekte) hat nicht unbedingt etwas mit Kraftfeldern zu tun. Wenn irgendwo im Universum zwei Kometen aufeinander treffen, dann gibt es eine gewisse (kleine) Wahrscheinlichkeit, dass dies in einem Gebiet geschieht in dem die Wirkung von Kraftfeldern gegen Null geht. Die Interaktion (im Zusammenhang mit einer Kollision) ist einfach die Folge davon, dass sich die Bahnen der beiden an einem gemeinsamen Raumzeitpunkt treffen. Wenn es  Ihnen gelänge, plötzlich alle Kraftfelder im Sonnensystem auf Null zu setzen, gäbe es vermutlich eher mehr als weniger Interaktionen.

Interaktion hat eher etwas mit Energie (anstatt Kraft und Kraftfeld) zu tun. Man könnte sagen, damit eine Interaktion im Sinne von Informationsaustausch (oder Spuren hinterlassen) stattfinden kann, muss ein Minimum an gemeinsamer Energie im Spiel sein. (diese Formulierung setzt ein bestimmtes Verständnis von einer Reihe von Begriffen voraus.) 

BD: Kann in der QT Interaktion stattfinden, ohne dass Kommunikation erfolgt?

HD: Auf der Ebene der Quantenfeldtheorie kann eine Interaktion/Kollision zweier Partikel eine Vielfalt von möglichen Resultaten (=hinterlassene Spuren) mit unterschiedlichen Wahrscheinlichkeiten haben, einschließlich der, dass keine Spuren hinterlassen werden. Es kann Sie niemand daran hindern in dem Fall, wenn keine Spuren hinterlassen werden, zu sagen „es hat keine Interaktion stattgefunden“.

BD: Meine Vorstellung von Messung ist die folgende: Man legt zwei Dinge, die an sich nichts miteinander zu tun haben (und auch nicht interagieren), neben einander und sagt, ich halte die für gleich oder nicht gleich. Das kann die Länge betreffen, das Gewicht (Erdanziehung), den Geruch, die elektro-magnetische Strahlung, usw. Kann es sein, dass Quantenphysiker anders messen? Werden hier Messgeräte beim Messen verändert?

HD: Die Quantenphysiker messen andere Sachen, z.B. im CERN die  Art von Teilchen die entstehen, wenn zwei Protonen mit hoher Energie aufeinander treffen, oder die Temperatur bei der bestimmte Stoffe supraleitfähig werden. Das unterschiedliche Verständnis, welches die Quantenphysiker und die Vermesser klassischer Größen vom Messen haben, kommt jedoch daher, dass in der Quantenphysik der Messvorgang eine ganz spezielle Rolle spielt, die außerhalb der Gesetzmäßigkeiten der „normalen“ Quantenphysik, und erst recht außerhalb der klassischen Physik liegt. Die „normale“ Quantenphysik beschreibt die Entwicklung von Wahrscheinlichkeiten (genauer Wahrscheinlichkeitsamplituden). Durch den Messvorgang werden aus den Wahrscheinlichkeiten tatsächliche Fakten. Eine zufrieden stellende Erklärung für die dabei auftretenden Phänomene konnte bisher noch nicht gefunden werden (Messproblem der Quantenphysik).

BD: Festzustellen, ob es Partikel einer unbestimmten Art gibt, mit Messen zu bezeichnen, trägt m. E. nicht zu klarer Sprache bei. Beeinflussen unsere Augen die gesehenen Objekte? Wird ein Lichtstrahl, der über Millionen von Spiegeln weitergeleitet wird, nicht verändert? Bleibt er immer gleich hell oder gleich polarisiert?

HD: Unsere Augen beeinflussen Objekte, die ihnen die Information überbringen. Die Photonen, die die Information übermitteln, werden vernichtet. (Eine Messung besteht in der Regel aus einer Kette von Informationsaustauschen.) Ein einzelnes Photon, welches durch Millionen von Spiegeln weitergeleitet wird, verändert sich theoretisch nicht, außer, dass sich seine Bewegungsrichtung ändert. Ein Lichtstrahl besteht aus vielen Photonen. Die Gesamtheit der Photonen kann sich schon eher ändern, z.B., wenn die Spiegel nur zu 99,9 % reflektieren (was in der Quantenwelt normal wäre).

Auch Peter Hiemann (PH) aus Grasse kommentierte das Doppelschlitzpapier. Hans Diels Anworten sind eingefügt:

PH: Wenn ich recht verstehe, gilt nach wie vor für Physiker die Arbeitshypothese, dass alle Naturphänomene letztlich mittels vier absolut geltenden physikalischen Grundkräften und einer Reihe von Naturkonstanten erklärt werden können. Lee Smolin und Robert Laughlin versuchen derzeit, ein paar neue Aspekte in der theoretischen Physik zu berücksichtigen: Smolin den Aspekt der Zeit, Laughlin den Aspekt der Emergenz. Die letzten beiden Physiker weisen also darauf hin, dass beim Verständnis der Prozesse und der Geschichte physikalischer Systeme zusätzlich evolutionäre Prinzipien eine Rolle spielen könnten.

HD: Die Arbeitshypothese, nach der es die vier Grundkräfte gibt, besteht und wird auch von Smolin und Laughlin nicht in Zweifel gezogen, wenn diese über Emergenz, Zeit, und Evolution schreiben. Smolin hat übrigens auch Überlegungen zu evolutionären Entwicklungen bei der Entstehung von Universen  (Plural!) in seinem Buch „The Life of the Cosmos“ beschrieben. Bei den Themen Evolution und Emergenz fühle ich mich zu wenig kompetent, um beurteilen zu können, ob Smolin und Laughlin hier mehr als physikphilosophische Spekulationen publizieren. Ich beobachte nur ganz allgemein, dass je mehr die Leute von einem speziellen Beispiel dazu übergehen allgemeine Prinzipien zu formulieren, umso verschwommener interpretieren sie diese Prinzipien. Dies gilt für renommierte Wissenschaftler (Smolin, Laughlin, Penrose, etc. , weil sie meinen, dass die Leute von ihnen (oder zumindest ihren Büchern) die Entdeckung neuer allgemeiner Prinzipien erwarten)  genauso wie für Amateurphysiker (wie mich, weil sie ihren Kenntnisstand überschätzen. 

PH: Das Paper enthält einen Hinweis, dass auch Sie überlegen, eventuell evolutionäre Aspekte in Ihrer Arbeit zu berücksichtigen: „A functional interpretation (or functional description) specifies the dynamic evolution of the system in terms of state transitions and explicit actions and events.” 

HD: Wenn ich in meinen Papers das Wort „Evolution“ benutze, meine ich dabei immer die allgemeine (zeitliche) Weiterentwicklung eines physikalischen Systems, nicht die spezielle Art von Weiterentwicklung, die man in der Biologie mit dem Begriff „Evolution“ verbindet. Da meine Veröffentlichungen alle in Englisch sind, glaube ich, ist dies korrekt. Nur, wenn man es nach Deutsch übersetzt, wird es zweideutig.

PH: Das Paper könnte viel gewinnen, wenn Sie explizit beschreiben könnten, welche Interaktionen zwischen Elektronen und Photonen in der Zeit entsprechend Ihrer Arbeitshypothese in dem gewählten Experiment Sie sich vorstellen und wie sich die „state of transition“ (der Quantenzustand?) des Gesamtsystems dynamisch verändert.

HD: Dies ist recht ausführlich adressiert in drei meiner Veröffentlichungen, am ausführlichsten in [2].

PH: Ich verfolge übrigens Ihre Arbeit mit großem Interesse, weil ich vermute, dass Ihr physikalischer Ansatz über die Wirkung von vier physikalischen Grundkräften hinausgeht. Ihre Überlegungen interpretiere ich als einen Ansatz, die Entstehung, Erhaltung und Veränderung physikalische Strukturen (auch kosmologischer) nicht (allein) auf der Basis physikalischer Kräfte sondern mittels Interaktionen zwischen physikalischen Elementarteilchen erklären zu können. Meines Erachtens beschreiben die Graphen der Feynmanschen QED keine Wechselwirkungen zwischen Elementarteilchen, sondern Ereignisse des Zusammentreffens einiger Elementarteilchen. Die physikalisch wirksamen Interaktionen scheinen sich auf dem Niveau der Quarks abzuspielen.

HD: Ich bemühe mich sehr, die Erkenntnisse der modernen Physik nicht in Frage zu stellen, sondern konzentriere mich darauf beim Stopfen von vermeintlichen Löchern in der Theorie vielleicht einen Beitrag leisten zu können. Dabei meine ich jedoch (in aller Unbescheidenheit) einige bisher nicht benannte Löcher entdeckt zu haben. Interaktionen auf der Ebene der Quantenfeldtheorie sind tatsächlich ein zentrales Thema meiner Arbeiten. Feynman hat hier die Quantenfeldtheorie enorm vorangebracht. Trotzdem gibt es auch da noch gewisse „Löcher“ (wie Feynman selbst gesteht). „Interaktionen zwischen Elementarteilchen“ sind das gleiche wie  „Zusammentreffen von Elementarteilchen“, wenn man bedenkt, dass ein Teilchen immer auch eine (räumlich ausgedehnte) Welle ist. Die physikalisch wirksamen Interaktionen können sich auf der Ebene der zusammengesetzten Objekte (Atome, Atomkerne, Hadronen (z.B. Protonen)) abspielen oder auch (wenn hinreichend Energie im Spiel ist) auf der Ebene der elementaren Teilchen (z.B. Elektronen, Photonen, Quarks) abspielen.

PH: Übrigens erinnert mich Ihre Situation an die Geschichte der Formulierung biologischer Arbeitshypothesen. Noch im 18. Jahrhundert postulierten Biologen, dass  'vitale Kräfte' für die Entstehung biologischer Strukturen ursächlich seien. Heute werden alle biologischen Phänomene letztlich auf molekularbiologische Interaktionen zurückgeführt. Bei biologischen Interaktionen geht es übrigens nicht um den Austausch von Information. Vielmehr erklären fortlaufende vielfältige Interaktionen zwischen vielfältigen biologisch aktiven Molekülen, die nach dem  Prinzip 'Schlüssel-Schloss' wechselwirken, die Entstehung, Erhaltung und Veränderung biologischer Zustände und Strukturen. In der Geschichte neu auftauchende biologische Strukturen sind das Resultat evolutionär programmatisch wirksamer Veränderungen in einem Gesamtsystem (einer Art).

HD: Nach meinem Verständnis von „Information“, das sicher umstritten ist, findet bei einer Interaktion immer auch ein Austausch von Information statt. Eine weniger kontroverse Formulierung ist: Eine Interaktion hinterlässt (fast) immer Spuren bei mindestens einem der Beteiligten (siehe oben).

Referenzen

1.  Diel, H.D.: An improved "interference collapse rule" of quantum mechanics. http://arXiv 1405:6099v2.
2, Diel, H.D.: A Lagrangian-driven Cellular Automaton supporting Quantum Field Theory. http://arxiv.org/abs/1507.08277.

Mittwoch, 19. August 2015

Neues vom Publizieren und Lesen in der Internet-Galaxie

Hilmar Schmundt heißt ein Redakteur des SPIEGEL, der sich hin und wieder zum Thema Elektronisches Publizieren äußert. Unter anderem erhielt er dafür den Publizistenpreis 2015 des Deutschen Bibliotheksverbands (dbv). Gerade hat er seine Beiträge der letzten Jahre in einen eBuch zusammengefasst. Es heißt Gutenbergs neue Galaxie. Der Titel wurde in Abwandlung von Marshall McLuhans Gutenberg-Galaxis von 1962 gewählt, seinem zweitberühmtesten Werk. Wer nur ein Buch von McLuhan kennt, kennt ‚Das Medium ist die Botschaft‘ (engl.: The medium is the message). Da Schmundts Buch nur etwa 100 Seiten umfasst, erspare ich mir die Inhaltsangabe. Außerdem konnte man ja schon alles im SPIEGEL online oder auf Papier lesen. Ich hebe nur einige Themen hervor und kommentiere sie. Ich werde dabei Schmundts Einsichten um einige persönliche Erfahrungen und Einschätzungen ergänzen. Ob der Autor meine Kommentare zu Gesicht bekommt, wird sich herausstellen. Verweisen möchte ich auf frühere Blog-Beiträge zu verwandten Themen, so im Februar 2011 über meine Umgebung als Leser und im Februar 2012 über meine Erfahrungen als Autor.
 
Literarischer Bezug 

Schon 1941 hatte der Argentinier Jorge Luis Borges (1899-1986) in seinem Essay Die Bibliothek von Babylon die Vision einer unendlichen Bibliothek beschrieben. In ihr gab es Bücher, deren Zeichen man zwar lesen konnte, die aus ihnen gebildeten Worte und Texte aber nicht verstand. Es müsste sich wohl um eine Sprache handeln, deren die Bibliothekare nicht mächtig waren. Manche Bücher enthielten nur wenige Zeichen, die aber immer wiederholt wurden. Auch das versetzte die Bibliothekare in Erstaunen. Überhaupt waren die Bibliothekare ziemlich überfordert. Sie wussten nicht, ob sie gegen das unverständliche System ankämpfen sollten, ober ob sie es als göttlich verehren sollten. Was Borges nur als Fiktion beschrieb, ist heute zum Teil Realität. Auch heute, gut 70 Jahre nach Borges, reagieren manche Bibliothekare noch reichlich verwirrt, wenn sie mit neuen Technologien konfrontiert werden.
 
Was die moderne Publikationswelt noch mit Gutenberg zu tun hat, ist mir ein Rätsel. Wir befänden uns in einem ‚digitalen Spiralarm der Gutenberg-Galaxis‘. So wird der Titel begründet. Dies kann bestenfalls als Reverenz dem Alten und den Ahnen gegenüber aufgefasst werden. Klarer wäre es, man würde eingestehen, dass es auch im Publikationswesen mehr als nur eine einzige Galaxie gibt. Diese Art der kopernikanischen Wende scheint noch vielen Zeitgenossen gedankliche Schwierigkeiten zu bereiten. Sie klammern sich nicht nur an ihrer Galaxie fest, sondern an ihrem Stück eines Planeten. Dass es so lange dauern würde, bis in dieser Branche das Raumfahrtzeitalter ausbricht, hatte ich nicht gedacht. 
 
Versuch einer Sprachbereinigung
 
Schon seit etwa 20 Jahren ist die elektronische oder digitale Publikation der Normalfall. Dem gegenüber steht die analoge oder papierne Publikation. Es ist die alte, die historische Form. Außer beim mündlichen Gespräch oder Vortrag ist sie immer zusätzlich. Sie kann auch adhoc oder nach Bedarf nachgeliefert werden. Das meiste, was ich an Informationen konsumiere, erreicht meine Augen und Ohren über digitale Medien. Es wird in meiner Nähe, also im Abstand von einigen Dezimetern in analoge Bild- oder Tonfolgen umgewandelt. Von Publikation (oder Veröffentlichung) ist dann die Rede, wenn ein Ton-, Text- oder Bilddokument für andere Menschen als den Urheber zugänglich gemacht wird. Text-basierte Publikationen lassen sich je nach Umfang eines Dokuments in drei Klassen aufteilen: 

- Briefe, Nachrichten, Zeitungstexte, kleiner als 3-5 Seiten
- Artikel, Essays, Zeitschriftbeiträge, kleiner als 20-50 Seiten
- Bücher, Berichte, Buchbeiträge, größer als 50-70 Seiten 

Soll das Medium hervorgehoben werden, benutze ich im Folgenden die Schreibweise mit entsprechendem Präfix, also eBrief (engl. eMail), eArtikel (engl. ePaper), eBuch (engl. eBook) für digitale Medien. Das kleine ‚e‘ steht für elektronisch oder digital. Entsprechendes gilt für analoge Medien. Das angefügte ‚a‘ steht dann für analog oder papieren.
 
Alles, was ich von mir gebe, entsteht heute digital, jeder Buchstabe, den ich tippe, jedes Wort, das ich diktiere, jeder Ton, den ich ins Telefon oder auf ein Tonmedium spreche, jedes Foto oder jedes Video, das ich aufnehme. Das meiste bleibt es auch für den Rest seiner Existenz, es wird in Bits gespeichert und aufbewahrt. Gesprochene Rede, Bilder, Musik und Video sollen hier nicht näher betrachtet werden. Über sie wird wesentlich emotionsloser diskutiert.  

Digitales Publizieren 

Wie in dem Blog-Beitrag von 2012 erläutert, wurde ich durch persönliche Erfahrungen davon abgebracht, weiterhin fachliche Themen analog zu publizieren. Ich bin nicht mehr bereit, die dort anfallenden Wartezeiten zu tolerieren. Nach Abschluss der Begutachtung volle 12 Monate bis zur Veröffentlichung zu warten, ist in meinem Alter unzumutbar. Seit Anfang 2011 betreibe ich diesen Blog (Bertals Blog), sowie zwei weitere. Ein Blog ist wie eine eigene Zeitschrift. Die Zeit von der Fertigstellung des Textes bis zu seiner Veröffentlichung ist meist weniger als ein Tag. Bertals Blog hatte bisher über 400 deutschsprachige Beiträge und über 175.000 Besucher. Die Verteilung der Besuche auf die Beiträge hat die für das Internet typische Form eines langen Schwanzes (engl. long tail). Einige Beiträge hatten über 2000 Besucher, der Durchschnitt liegt über 400, der Median über  200.  

Die Leser wissen sehr wohl, bei welcher Art Beiträge meines Blogs es sich lohnt, die Zeit zum Lesen zu investieren. Es sind die, wo ich eine fachliche oder persönliche Beziehung zum Thema habe, wo man bei mir Auskünfte findet, die nicht auch anderswo zu finden sind. Für mich besonders faszinierend ist die geografische Verteilung der Leser. Sie kommen aus der ganzen Welt, mit einem Schwerpunkt im deutschsprachigen Raum. Beim Schreiben denke ich stets an Leser in Chile, Vietnam und Tadschikistan, die in meinen Statistiken erschienen. Ich nehme an, dass sie an meinen Texten ihre Deutschkenntnisse testen. Natürlich freute ich mich z. B. über die Kommentare eines Lesers aus Chennai in Indien, dem früheren Madras.  

Manchmal muss ich das erzeugte Material in analoge Form umwandeln, dann nämlich, wenn einige ältere Herrschaften es lesen sollen, für die neue Medien ein Gräuel sind. Diese Adressaten werden jedoch immer weniger. Das Alter hat eine ausdünnende Wirkung. Ähnlich motivierter Nachwuchs ist nicht in Sicht. 

Analoge Publikationen 

Meine analogen Veröffentlichungen beziehen sich heute hauptsächlich auf heimatkundliche Themen. Die erwarteten Leser entstammen vorwiegend meiner Altersgruppe (über 70 Jahre alt) und leben in einer ländlichen Umgebung. Auch meine letzte eigene fachliche Veröffentlichung ist ein Beitrag in einer Historiker-Zeitschrift (IEEE Annals of the History of Computing).  

Im Juni diesen Jahres erschienen 40 ausgesuchte Beiträge dieses Blogs in Form eines aBuchs. Dass das Projekt sehr lange dauerte und der Weg so mühsam war, hat alle Beteiligten überrascht. Wir gingen von bereits vorhandenen Internet-Veröffentlichungen aus. Jeder Blog-Beitrag hatte im Schnitt 4-5 Verweise (engl. links) zu andern elektronischen Veröffentlichungen, d.h., dass etwa 200 Verweise eliminiert werden mussten. Dennoch wird das aBuch als Mehrwert angesehen, da es früher als verstreut wirkende Beiträge in physikalischer Nähe präsentiert. Dass die Nachveröffentlichung etwa neun Monate in Anspruch nahm und bei Verlagsmitarbeitern und Autoren viel Detailarbeit auslöste, wird alsbald vergessen sein. Typisch war, dass die erste Auflage einen Monat nach Erscheinen vergriffen war. Bis dass ein Nachdruck vorlag, war des aBuch bei Amazon und allen andern Buchhändlern als nicht lieferbar vermerkt. 

Digitales Lesen 

Die Goldene Zeit des Lesens sei angebrochen, schreibt Schmundt. Dem kann ich nur beipflichten. Anstatt seinen Rucksack mit schweren Büchern zu beladen, kann man heute überall auf Touren und Reisen so viel lesen, wie man will. Man kann Musik oder Hörbücher beim Jogging oder Bergwandern konsumieren. Die Vorrausetzung ist natürlich, dass einem der Strom nicht ausgeht. Dafür können Akku Packs oder solargetriebene Ladegeräte hilfreich sein. 

Mein stärkster Beweggrund für digitales Lesen ist die schnelle Verfügbarkeit. Sehe ich irgendwo einen Hinweis auf einen interessanten Artikel oder ein neues Buch, habe ich das Opus innerhalb von 10 Minuten auf meinem iPad. Dabei spielt es zunächst keine Rolle, ob das Dokument kostenlos oder kostenpflichtig ist. Bei einem Buch kann ich stets die ersten 30-50 Seiten lesen, ehe ich mich entscheiden muss, ob ich zahle oder nicht. Der zweite Grund ist das Gewicht. Ich kann das iPad Air in einer Hand halten, auch wenn ich in einem Buch lese, das über 1000 Seiten hat. Der dritte Grund sind Schriftgröße und Beleuchtung. Ich passe die Schriftgröße an, so wie es mir gefällt und kann im Dämmerlicht weiterlesen, wo ich gerade bin. Für mich ist stundenlanges Lesen jetzt überhaupt erst möglich geworden, insbesondere wenn ich rücklings auf dem Sofa liege. Dass Lesen dadurch weniger sinnlich sei, und dass man flüchtiger lese, kann ich überhaupt nicht nachvollziehen. Bei mir ist eher das Gegenteil der Fall. 

Ich habe in den letzten 3-4 Jahren monatlich 2-3 eBücher gelesen, aber kein einziges aBuch. Das gleiche gilt für längere Fachartikel. Kurze zwei- bis vierseitige Zeitungsartikel lese ich fast täglich, und zwar aus diversen eZeitungen (FAZ, Süddeutsche, Welt). Aktuelle Nachrichten erscheinen automatisch auf dem Display meines iPhone. Dasselbe gilt für eBriefe (engl. eMails). Dazu lese ich jedes Wochenende den SPIEGEL in elektronischer Form von vorne bis hinten. Fast regelmäßig lese ich Blog-Beiträge eines amerikanischen Kollegen, die in wöchentlichem Rhythmus erscheinen. 

Als eine Überraschung meinerseits möchte ich die vielen Videos im SPIEGEL hervorheben. Sie illustrieren nicht nur die Textberichte, besonders in den Kriegsgebieten, sie können auch zu ganz unerwarteten Erfahrungen führen. Dies geschah z. B. beim Verweis auf einen Blog, der von Ethnologen im Amazonasgebiet betrieben wird. In ihm wurden mehrere ursprüngliche Kontakte mit unentdeckten Ureinwohnern filmisch dokumentiert. Auf zwei Nebeneffekte möchte ich ebenfalls hinweisen. Unser spezieller Mülleimer für Papier, der früher jede Woche randvoll war, bleibt inzwischen leer. Meine Schrankwände und Regale, die mit Büchern und Zeitschriften vollgestopft sind, können schon lange keine Neuerwerbungen mehr aufnehmen. Bei meinen Versuchen, die jetzigen Inhalte zu verschenken, hatte ich ein einziges Mal Erfolg. Eine Fachhochschule aus der Nähe fand sich bereit, die zwei Meter einer Fachzeitschrift zu übernehmen, wo der Bestand die Jahre 1963 bis 2013 vollständig umfasste. Alle anderen Versuche, aBücher oder aZeitschriften zu verschenken, schlugen fehl. 

Dass man endlich den Begrenzungen der Gutenberg-Galaxie entronnen ist, wird klar, wenn man eine Referenz zu einem Artikel oder Buch anklickt. Man bekommt nicht nur einen vagen Hinweis auf eine andere Publikation, die man erst im Regal einer Bibliothek suchen muss, aus der man, wenn es möglich ist, den Artikel oder Abschnitt kopieren kann, auf den Bezug genommen wird. In der Post-Gutenberg-Welt, die ich mit Internet-Galaxie bezeichnen möchte, klickt man und hat direkt den Artikel, das Buch, das Bild oder das Video, von dem die Rede ist. Das ist ein Sprung wie von der Pferdekutsche zur Raumsonde. Zur Illustration: Eine Bachelor-Arbeit, die in diesem Monat an einer süddeutschen Hochschule eingereicht wurde, enthielt 14 Referenzen, acht davon führten in die Internet-Welt, sechs in die Gutenberg-Galaxie. Nur in diesen sechs Fällen musste man sich physikalisch in Bewegung versetzen, um an das Material zu kommen. 

Angebote an digitalen Zeitungen, Zeitschriften und Büchern 

Das Angebot an digitalen Medien ist in den letzten fünf Jahren ständig gewachsen. Zuerst waren es freie, alte Texte, wie sie etwa vom Projekt Gutenberg angeboten werden. Die 877 Seiten von Kants Kritik der reinen Vernunft habe ich nur deshalb gelesen, weil sie digital und kostenlos waren. Die meisten Bücher lese ich zurzeit auf der Basis des Skoobe-Angebots. Die monatliche Flatrate von 9,99 Euro erschließt inzwischen ein Angebot von über 10.000 eBüchern. Auch Schmundts Büchlein ist Teil des Skoobe-Abos. Übrigens wird darin der Kunstname Skoobe erklärt. Er entsteht, wenn man das Wort eBooks rückwärts liest. Außerhalb der durch die Flatrate verfügbaren eBücher kaufe ich weitere nach Bedarf. Ich benutze dafür meist iBook, einen Dienst der Firma Apple. Da die Abrechnung über iTunes erfolgt, ist die Sicherheit und Nutzerfreundlichkeit kein Problem. Die Abwicklung ist völlig automatisch. Ich brauche mich nicht darum zu kümmern.

Heute machen eBücher angeblich 8% des Umsatzes deutscher Verlage aus. In den USA seien es 22%. In einer Vorhersage für 2018, die Schmundt zitiert, erreichen in den USA und in England aBücher und eBücher gleichhohe Umsätze. Für Deutschland, Italien und China wird ein Verhältnis von 90:10 zu Gunsten von aBüchern vorhergesagt. Japan liegt dazwischen mit 70:30. Obwohl ich von solchen Zahlen nicht allzu viel halte, frage ich mich, woher die Unterschiede kommen. Vermutlich ist in den genannten Ländern eine unterschiedliche Anhänglichkeit an Gutenbergs Welt vorhanden. Man klammert sich stärker an Altes und verbreitet Angst, wenn es um Neuland geht. Die Aktivitäten einiger deutscher Verleger scheinen dies zu bestätigen. Die lang erhoffte Wende im Zeitungswesen scheint sich endlich anzudeuten. So hat die NY Times soeben verkündet, dass sie die Schwelle von einer Million zahlender Online-Nutzer überschritten hat. 

Zur Digitalisierung von Bibliothekbeständen 

Schmundt beschreibt ausführlich die Fortschritte, die in den letzten 40 Jahren erzielt wurden, im Hinblick auf die Bereitstellung von eBüchern. Er erinnert an Michael Hart, einen Mathematiker der Universität von Illinois, der 1971 das Projekt Gutenberg startete, das inzwischen 46.000 Texte von Klassikern digitalisiert hat, darunter etwa 700 deutsche Titel. Während dieses Projekt uneingeschränkte Zustimmung erhält, hatte es die Firma Google erheblich schwerer. Google Books begann 2005 mit einer Spende an die Library of Congress, um seltene und einmalige Dokumente zu digitalisieren. Später arbeitete Google mit fast allen großen Bibliotheken der Welt zusammen, um Bücher einzuscannen, deren Nutzung frei war. Ein Beispiel war die Bayrische Staatsbibliothek in München. Bis Anfang 2011 hatte Google über 20 Millionen Bücher digitalisiert. Als man anschließend versuchte mit Autoren und Verlagen auf der ganzen Welt Verträge zu schließen, die Goggle die Rechte an urheberrechtlich geschützten Werken einräumen sollten, wurde die Konkurrenz nervös. Sie fanden ein Gericht, dass Google zwang das Projekt zu beenden. Unter den 30 Millionen Büchern, die Google digitalisiert hat, fand auch ich bereits einige Perlen, so einen Baedecker-Reiseführer für den Mittelrhein von 1835. Der ursprüngliche Plan von Google sah vor, bis Ende 2019 etwa 130 Millionen Bücher zu digitalisieren. 

Im Jahre 2010 rief Googles Initiative Robert Darton auf den Plan, den Bibliothekar der Harvard University. In seiner Digital Public Library of America (
DPLA) will er die Arbeit von Google fortführen und verbessern, allerdings ohne Industriebeteiligung. Ähnliche Aktivitäten werden seit Jahrzehnten in Europa mit öffentlichen Mitteln finanziert. Auf Betreiben Frankreichs kam es zu einem Zusammengehen in der Europeana, einer länderübergreifenden digitalen Bibliothek von Kulturgütern. Auch einzelne Verlage wurden aktiv. So wirbt Springer in diesem Jahr mit einer Mathematics Collection, die mehr als 7000 digitalisierte Aufsätze aus der Zeit von 1929 bis 2004 enthält.  

Es ist keine Frage mehr, dass heute annähernd 100 Millionen eBücher von jedem Ort der Welt aus zugreifbar sind. Ihre Zahl ist rasant im Wachsen begriffen, wobei Neuerscheinungen eine immer größere Rolle spielen werden. Ähnliches gilt für Bilder, Hörbücher, Musikstücke und Videos. Betrachtet man ‚unendlich‘ als Synonym für den Grenzwert einer großen Zahl, so ist auch dieser Aspekt in der Vision von Jorge Luis Borges längst Realität geworden.
 

Ungereimtheiten und Merkwürdigkeiten 

Es steht außer Zweifel, dass der Online-Publikationsmarkt noch deutliche Zeichen der Unreife zeigt. Das Problem der Raubkopien, das die Musikbranche fast in den Ruin trieb, verursacht immer noch eine Art von Angststarre. Formate und Sicherheitsmethoden können für Verwirrung sorgen. Stichwort: Digital Rights Management (DRM). Als Folge davon ist eine Fernleihe zwischen Bibliotheken für aBücher zwar Gang und Gäbe, für eBücher jedoch ausgeschlossen. Es ist dies eine Perversion, die keinem normal denkenden Menschen einfallen kann. So wie bei Software erhält der Käufer eines eBuchs nur Nutzungsrechte. Er kann das Produkt weder verkaufen, verschenken noch vererben. Im Hinblick auf die Probleme, die ich habe, um mich von aBüchern zu trennen, sehe ich dies allerdings nicht nur als Nachteil an. 

Mich stört es, dass eBücher in der Regel als Nur-Lese-Dokumente behandelt werden. Sehr gerne würde ich persönliche Kommentare einfügen oder Zitate kopieren. Dass auch andere Nutzer dies als Manko erkannt haben, beweist Sascha Lobo. Sein Vorschlag, Social Books genannt, will dieses Problem zusammen mit deutschen Verlegern angehen. Ich hoffe, dass er Erfolg hat.
Manche Verlage blockieren Skoobe. Sie weigern sich eBücher ausleihen zu lassen, etwas was für aBücher undenkbar ist. Es gilt für eBücher dieselbe Form der Preisbindung wie für aBücher. Die Produkte gelten jedoch nicht als Kulturgüter, die einen ermäßigten Mehrwertsteuersatz genießen. Wo Verleger noch keine klare Strategie bezüglich digitaler Produkte besitzen, können dies Bibliothekare und Buchhändler kaum ausgleichen. Leider ist dieser Zustand nicht neu. Etwa 30 Jahre gingen ins Land, seit ich mich zum ersten Mal als Außenstehender mit  Problemen des Verlagswesens befassen durfte. Der Berg an Problemen scheint nicht wirklich kleiner geworden zu sein.

Nachtrag vom 21.8.2015

Meine Erfahrungen in der Software-Industrie veranlassen mich, auf folgende ökonomischen Überlegungen hinzuweisen. Ähnlich wie bei Software ist es auch bei eBüchern zweckmäßig zwischen der Anbietung als Produkt oder als Dienstleistung (engl. service) zu unterscheiden. Man kann ein Produkt von ähnlichen oder gleichen Gütern abtrennen und reproduzieren. Ein Produkt kann man verkaufen, d.h. jemandem das Besitzrecht übertragen. Man hat fixe oder einmalige Kosten für die Ersterstellung, auch Entwicklung genannt, und variable Kosten für die Reproduktion, Vertrieb, Verteilung und Wartung. Eine Dienstleistung ist meist einmalig und zentral, es sei denn sie wird aus Effizienzgründen repliziert, etwa um Kommunikationskosten zu sparen. Es wird kein Eigentumsrecht übertragen, sondern nur der Zugriff ermöglicht. Es wird ein Nutzungsrecht eingeräumt. Es gibt fixe Kosten für die Entwicklung und Installation und laufende Kosten für Vertrieb, Betrieb und Wartung.
Obwohl Bibliothekare meist als Dienstleister denken (Beispiel Fernleihe), sind Verlage und Buchhändler von aBüchern her das Produktdenken gewohnt. Sie bemühen sich daher eBücher in dieses Korsett zu zwängen. Dies führt dann zu solch skurrilen Formen wie speziellen Lesegeräten nur für eBücher eines einzigen Lieferanten. Die natürlichste Form, sowohl für Software wie eBücher, ist das zentrale Vorhalten einer einzigen Kopie als Dienstleistung im Netz, wobei die Kosten über den Verkauf von Zugriffsrechten abgedeckt werden. Sich stattdessen mit Netz- bzw. Gerätepauschalen oder Werbeeinnahmen über Wasser zu halten, ist ein Ausweichen, wo und wann immer der Wert des eigentlichen Dienstes (noch) nicht als signifikant genug anerkannt wird.

Donnerstag, 13. August 2015

Mythen der Deutschen frei nach Herfried Münkler

Herfried Münkler (*1951) ist Politologe. Er studierte in Frankfurt am Main und promovierte über Machiavelli. Seit 1992 ist er Professor an der Humboldt-Universität in Berlin. Seine Vorlesungen und Veröffentlichungen werden in einem von Studenten betriebenen Blog namens Münkler-Watch kommentiert. Er nimmt sich nämlich die Freiheit, auch Meinungen zu vertreten, die vom Zeitgeist abweichen. Das nehmen Berliner Studenten nicht ohne weiteres hin. Heinrich August Winkler, der vor Wochen in diesem Blog zu Wort kam, legt in seinen Arbeiten großen Wert darauf zu zeigen, dass Geschichte zumindest teilweise ein rationales Geschehen ist. Münkler zu lesen, ist eine Art von (sommerlichem) Kontrastprogramm. In seinem 2009 erschienenen Buch Die Deutschen und ihre Mythen, erklärt Münkler einige Aspekte deutscher Geschichte, bei denen Irrationalität eine bedeutende Rolle spielte.
 
Das Wort Mythos bezeichnet ursprünglich eine Erzählung, mit der Menschen und Kulturen ihr Welt- und Selbstverständnis zum Ausdruck bringen. Mythen erheben den Anspruch auf Wahrheit. In einem weiteren Sinn bezeichnet Mythos auch Personen, Dinge oder Ereignisse von hoher Symbolkraft. Ich bringe zunächst einige von Münklers Beispielen, um dann die Rolle von Mythen näher zu beleuchten.
 
Aus dem Mittelalter stammende nationale Mythen
 
An den Beispielen Barbarossa, Nibelungen und Faust lassen sich Eigenschaften von Mythen erläutern. Alle drei Stoffe stammen aus dem Mittelalter. Ihre eigentliche Rolle spielten sie aber erst im 19. Jahrhundert, insbesondere während und nach der napoleonischen Zeit. Germanisten und Historiker wetteiferten, wer mehr täte, um das Volk für nationale Mythen wie diese empfänglich zu machen.
 
Mit Barbarossa und der Kyffhäusersage wurde damals die Botschaft vermittelt, dass es jetzt eine Zeit des Abwartens sei, ehe das Deutsche Reich wieder zur vollen Blüte erwachen würde. Durch die Reichsgründung von 1871 erfüllte sich diese Hoffnung, wenn auch in anderer Gestalt als zu Barbarossas Zeiten. Ursprünglich galt Friedrich II, Barbarossas Enkel, als der mythisch entrückte Kaiser. Die Hohenzollern liebten es, sich als die Nachfahren der benachbarten Hohenstaufer anzusehen. Deshalb sah sich Wilhelm II. auch in der Tradition Friedrichs II., als er 1898 friedlich in Jerusalem einzog. Es war Barbarossas Gegenspieler Heinrich der Löwe, der dem Staufer vorwarf, mit deutschen Soldaten anstatt nach Osten nach Süden zu ziehen. Auch Hitlers Blick ging schon früh nach Osten. Dass er dafür aber den Projektnamen Barbarossa verwendete, sei eine absichtliche Täuschung gewesen (meint Münkler).
 
In der Nibelungensage kämen zwei verschiedene Seiten des deutschen Nationalcharakters zum Ausdruck. Siegfried sei der tumbe Held, der sich sein Schwert selbst schmiedete, sich durch seine Geschwätzigkeit jedoch in Schwierigkeiten brachte. Siegfried starb durch einen hinterhältigen Speerwurf. Dass daraus eine Dolchstoßlegende wurde, zeugt von dichterischer Freiheit. Hagen von Tronje verkörpere die berühmte Nibelungentreue. Er kämpfte auch dann weiter, als es aussichtslos war. Deutschland stand vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs in Nibelungentreue an Österreichs Seite. Hitler sah sie in Stalingrad am Werk, ebenso noch in Bunker in Berlin, wo er und Göbbels 1945 Selbstmord begingen.
 
Beim Faust geht es einerseits um den schwäbischen Grübler, andererseits um den modernen Forscher und Welteroberer. Goethe hat an dem Stoff ein Leben lang gearbeitet, genauer von 1775 bis 1831. Der Begriff ‚das Faustische‘ im Menschen stehe für das titanisch-promethische Element im Menschen. Es sei das urtümlich deutsche Wesen, das zu Kompromissen nicht fähig sei und zur Weltgeltung drängte, ein Muster des deutschen Sonderwegs. Manche sähen in ihm auch einen Ausbund von Hochmut und von Selbstüberschätzung. Das Faustische im deutschen Menschen sei im Ersten Weltkrieg verloren gegangen. In der DDR galt Faust als Klassenkämpfer. Wir heutigen Menschen verbinden mit Faust die Sorge, dass wir uns mit Kräften einlassen, denen wir nicht gewachsen sind.
 
Eigenschaften von Mythen
 
Mythen seien meisternde Erzählungen, schreibt Münkler. Sie schaffen Orientierung und Zuversicht. Mythen müssen Komplexität reduzieren und Schrecken der Offenheit von Lebenserfahrungen (Kontingenz) wegerzählen. Sie müssen volkspädagogisch sein und von der breiten Masse der Bevölkerung nachempfunden werden, d. h. kollektiv anschlussfähig sein. Sie können konservative oder revolutionäre Effekte haben. Sie sind oft stark ideologisch besetzt.
 
Die Erzählung, das Narrative, überwiegt bei fast allen Mythen. Die Literatur, vor allem die klassische, lebt davon. Was bliebe von Goethe oder Richard Wagner übrig ohne Stoffe aus den Mythen? Ohne Faust, ohne Nibelungen, ohne den Sängerkrieg? Das Narrativ, die Erzählung, kann sich im Laufe der Zeit ändern. Sie passt sich den Bedürfnissen der Zeit an. Neben dem Narrativen gibt es plakative (oder ikonische) Formen der Mythen. Das sind Bilder und Denkmäler. Diese ändern sich nicht; außer durch Sprengstoff oder Erdbeben. Während die Italiener ihre Denkmäler in der Stadt Rom konzentrierten, sind deutsche Denkmäler weit in der Landschaft verstreut. Beispiele sind das Hermannsdenkmal bei Detmold, der Kyffhäuser im Südharz und die Walhalla bei Kehlheim an der Donau. Das Bildhafte gewinnt meistens gegenüber dem Narrativem – nicht erst dank moderner Medien. Es ist leichter zu konsumieren und prägt sich besser ein.
 
Zielrichtungen politischer, insbesondere preußischer Mythen

Nicht nur der bekannte Roman von Felix Dahn (1834-1912) handelte vom Kampf um Rom. Mit über einer Million verkaufter Exemplare brach das Buch zur Zeit meiner Großeltern alle Rekorde. Die Gegenüberstellung von Germanentum und Römertum bewog schon Tacitus, als er uns Hermann, genannt Arminius, ans Herz legte. Germanen waren so, wie Römer sein sollten, sittsam und treu. Der Römer wurde zum Bürger erzogen, der Germane zum Krieger. Deutsch war das, was sich gegen die Romanisierung behauptete. Es war die agrarische gegen die urbane Lebensform. Die Idee der Freiheit entstamme den Wäldern Germaniens, schrieb einst Charles de Montesquieu. Das Gegenteil sei Machiavelli und die Staatsräson. Nicht nur der Katholizismus kam aus Rom, sondern auch das römische Recht, das dem fallbasiertes germanischen Recht gegenüberstand. Hermannn, der Cherusker, verkörperte den Kampf gegen Rom, genau wie Alarich, der Westgote, und Martin Luther dies taten. Rom konnte auch im spanischen oder französischen Gewand auftreten. Der Hass gegen alles Welsche wurde systematisch geschürt.
 
Dass der Mythos Preußen vor allem die Sekundärtugenden Disziplin, Sparsamkeit, Tüchtigkeit und Zähigkeit hervorhebt, hat diesen Mythos mit Recht desavouiert. Dieselben Tugenden wurden bekanntlich auch bei KZ-Wächtern und KZ-Ärzten nachgewiesen. Dass Korruptionsresistenz ebenso dazu gehörte, wird allerdings oft vergessen (z. B. von Griechenlandkritikern). Jedenfalls erhielten die Preußen die Schuld für alles, was in Deutschland schief lief: die völlige Orientierung auf den Staat sowie die fehlende Zivilgesellschaft. Dabei gab es in Preußen Reformen (von Stein, Hardenberg), die den Bürger an den Staat heranführen führen sollten. Und es gab eine preußische Variante der Aufklärung (Kant, Friedrich II). Schließlich hatte Preußen eine Königin Luise, die sich trotzt ihres frühen Todes mit 34 Jahren bei ihrem Volk einprägte, und darüber hinaus.
 
Mythen der Nazis und der DDR
 
Der Begriff Mythos begegnete mir zum ersten Mal vor 1945, als Alfred Rosenbergs ‚Mythus des 20. Jahrhunderts‘ in meiner Familienumgebung heftig kritisiert wurde. Rosenberg hatte Römer und Griechen einfach zu Ariern erklärt. Besaßen sie schlechte Eigenschaften, kam das daher, dass sie sich mit andern Rassen vermischt hatten. Am wenigsten taten dies die Spartaner. Leonidas, der an den Thermopylen den Persern widerstand, wurde einfach zum Arier erklärt.
 
Göbbels hatte ein Faible für mythenpoetisch geprägte Inszenierungen in der Politik. Sein Meisterstück war 1933 der Tag von Potsdam. Hier hatte er es darauf abgesehen, die preußische Aristokratie für Hitler zu vereinnahmen. Erst durch das missglückte Attentat von 1944 wollte man sich wieder reinwaschen. Dass Staufenberg selbst kein Preuße war, war Teil eines Ablenkungsmanövers. Hitler wollte den von Preußen inszenierten Kulturkamp gegen Rom nicht fortführen. Es kam zum Konkordat Hitlers mit dem Papst, und nach anfänglichem Misstrauen, zu einem Bündnis mit Mussolini. Auch die DDR hielt es für angebracht, der Bevölkerung Mythen amtlich zu verordnen. Dass da die Bauernkriege und kommunistische Heroen im Mittelpunkt standen, versteht sich.
 
Mythische Orte
 
Flüsse seien wahre Mythensammler, schreibt Münkler. Der Rhein, der von den Franzosen begehrt wurde, war die Heimat besonders vieler Mythen. Wagners Rheingold ist dort verborgen, bewacht von der Loreley. In Speyer sollte das deutsche St. Denis entstehen, die Grablege aller Kaiser des Mittelalters. Die Wartburg verbindet den Sängerstreit, Luther und die Burschenschaften. In Nürnberg war Albrecht Dürer tätig, die Stadt zog aber auch Hitler an. Das Dresden Augusts des Starken ist für Mythen geeignet, aber auch Heidelberg und Weimar.
 
Mythenlose Gegenwart?
 
Nach dem Zweiten Weltkrieg waren alle Mythen über ein deutsches Reich endgültig ausgeträumt. Die Westdeutschen verwarfen alle Mythen, die gegen Rom im Umlauf gewesen waren und fuhren in Urlaub nach Italien oder Spanien. An die Stelle von Gründungsmythen, wie sie sich die DDR schuf, trat eine reine Betonung des Konsums. Münkler und viele andere sehen darin eine geistige Verflachung. Der Volkswagen und der Mercedes wurden die Maskottchen. In politischer Hinsicht seien es die Westbindung und die Europäische Integration, die Teil unseres Selbstverständnisses wurden. Dem sakralen Element, das Mythen in die Beziehung zwischen Bürger und ihren Staat zu bringen pflegen, steht reine Profanität gegenüber. 

Kann das gut gehen? So fragen sich viele. Vielleicht ist alles nur eine Frage der Zeit. Mit Adenauer, Brandt, Schmidt und Kohl hätten wir immerhin vier Kanzler, die in Zukunft für eine mythische Überhöhung in Frage kämen, meint Münkler. Aber auch die Währungsreform, das danach folgende Wirtschaftswunder sowie das Wunder von Bern hätten bereits mythenhaften Charakter angenommen. Ähnliches gilt für das Epochenjahr 1968, in dem eine neue Linke (Grüne genannt) entstand, insbesondere aber das Wiedervereinigungsjahr 1989, als Menschen, die zuvor in der DDR lebten, ums Brandenburger Tor tanzten.


Was Münkler nicht sagte
 
Heute lebt Deutschland in einer politischen Situation, die weder einen Siegfried noch einen Faust benötigt, von Barbarossa ganz zu schweigen. Wir wollen aber auch nicht nur Zuschauer am Rande sein. Es kommt darauf an, die neuen Gefahren im Innern und Außen zu erkennen, und auf sie zu reagieren. Dabei müssen und dürfen wir nicht allein handeln. Wir Deutsche sind nämlich schon seit Längerem Teil einer Gruppe von Staaten. Ein deutscher Sonderweg ist keine Lösung. Wer seine politische Aufgabe so oder ähnlich versteht, dem helfen keine Mythen.

Dass unsere politische Linke immer noch gewisse Probleme mit dem Bezug zum Hier und Heute hat, belegte Gregor Gysi in einem Interview vor einigen Tagen (am sommerlichen Werbellin-See). Gefragt, ob der demokratische Sozialismus, für den er stünde, nicht reine Utopie sei, sondern realisierbare politische Praxis, nannte er als Gegenbeweis drei Beispiele: die
Pariser Kommune von 1871, der Prager Frühling von 1968 und das Regime des Salvador Allende 1970 bis 1973 in Chile. Mein Urteil mag zwar durch meine Beschäftigung mit Münklers Buch gefärbt sein. Aber verzeihen Sie  ̶  für mich klang das stark nach Mythen, also nach für demagogische Zwecke verdichteten und verbrämten Erzählungen. Man fragt sich, wo Gysi dies bloß gelernt haben mag.

Sonntag, 9. August 2015

Raumfahrtgeschichte von Voyager bis New Horizons

Gestern zeigte Arte mal wieder den Film über die Voyager-Missionen. Neben der Apollo-Mission, die 1968 zur ersten Mondlandung führte, ist Voyager eines der wenigen vergleichbar erfolgreichen Projekte der NASA. Beide Raumsonden, Voyager 1 und Voyager 2,  funktionieren auch heute noch einwandfrei, fast 40 Jahre nach ihrem Start. Einige der damaligen Ingenieurinnen und Ingenieure der NASA und des Jet Propulsion Laboratory (JPL) haben heute Enkel. Diese dürfen stolz auf ihre Großmütter oder Großväter sein.
 
Die Grundlagen für das Voyager-Programm wurden Mitte der 1960er Jahre von dem Mathematiker Michael Minovich vom JPL gelegt. Er erkannte als Erster die Möglichkeit, die starke Gravitation des Jupiters zu nutzen, um Raumsonden zu beschleunigen („Swing-by“-Effekt). Ohne diesen Effekt wären die Möglichkeiten der Menschheit durch den Treibstoff beschränkt gewesen, den Raumsonden von der Erde aus mitführen können.
 
Einige Jahre später berechnete der Ingenieur Gary Flando, ebenfalls beim JPL, einige Flugbahnen für Sonden, die die günstigen Stellungen der äußeren Planeten Ende der 1970er Jahre ausnutzen sollten. Jupiter sollte als „Sprungbrett“ dienen, um die Planeten Saturn, Uranus, Neptun und Pluto in akzeptabler Zeit zu erreichen. Es ergaben sich Möglichkeiten zu Routen („Planetary Grand Tour“) in der Zeit zwischen 1976 und 1978, und zwar: Jupiter–Saturn–Uranus–Neptun, Jupiter–Saturn–Pluto sowie Jupiter–Uranus–Neptun. Diese Chancen ergaben sich, da alle Planeten sich auf derselben Seite der Sonne aufhielten. Eine ähnlich günstige Konstellation von Planeten wird sich erst in 176 Jahren wiederholen. Hier der Begleittext des Films:  

Im Spätsommer 1977 starteten auf Cape Canaveral im amerikanischen Bundesstaat Florida in kurzem Abstand die beiden identischen „Voyager“-Schwesternsonden. Sie wurden auf unterschiedliche Umlaufbahnen gebracht, um sich ergänzende Forschungsergebnisse aus dem äußeren Planetensystem und dem interstellaren Raum zur Erde zu senden. Der Betrieb von „Voyager 1“ und „Voyager 2“ hat seitdem die Erwartungen aller Wissenschaftler übertroffen, sowohl was die Qualität der Ergebnisse als auch die Langlebigkeit der Instrumente betrifft.
 
1979 schickten die Sonden Bilder vom Jupiter, ein Jahr später vom Saturn, 1986 vom Uranus und 1989 vom Neptun. 1990 konnten sich die Forscher erstmals anhand von 67.000 Bildern einen Gesamtüberblick über die Sonne und sechs ihrer Planeten verschaffen. Weitere einmalige Entdeckungen der Schwestersonden sind die Vulkantätigkeit auf Io, die Ringe des Jupiters und die Oberfläche seines Mondes Europa, die Atmosphäre des Saturn-Mondes Titan, die Unregelmäßigkeit der Ringe des Saturns, das Magnetfeld von Uranus, das Zyklonsystem auf Neptun, die Geysire des Neptun-Mondes Triton sowie die Entdeckung von 23 neuen Monden. Damit gelten die „Voyager“-Missionen als die erfolgreichsten in der Geschichte der Raumfahrt.
 
Beide Schwestersonden sollten ursprünglich fünf Jahre lang arbeiten, doch wider Erwarten funktionieren sie, von einigen Instrumenten abgesehen, auch heute noch. Sie führen die Datenplatte „Voyager Golden Record“ mit, auf der Bild- und Toninformationen über die Menschheit gespeichert sind. Dem letzten Stand zufolge sind die Sonden derzeit so weit entfernt, dass ihre Signale - in Lichtgeschwindigkeit gemessenen - mehrere Stunden brauchen, bis sie die Erde erreichen. Es wird vermutlich 40.000 Jahre dauern, bis sich die Sonden erneut einem Stern nähern. Die NASA-Ingenieure gehen davon aus, dass der Kontakt dank der vorhandenen Energiereserven der Sonden bis ins Jahr 2020 oder gar 2025 gehalten werden kann.
 
Ein anderes Projekt der NASA mit dem Namen ‚New Horizons‘ machte erst in diesem Sommer von sich reden. Es ist die Expedition zum Pluto. Es wird dasselbe Prinzip der ‚Swing-by‘-Beschleunigung benutzt wie bei Voyager. Eine ausführliche Dokumentation des Pluto-Vorbeiflugs wurde dankenswerterweise von Lothar Monshausen aus Bitburg vorgenommen. Seine Datei finden Sie hier.

Montag, 3. August 2015

Studiengebiete und Berufe im Umfeld der Informatik

Sowohl das Berufsbild der Informatiker/innen wie das Studium der Informatik waren immer wieder Themen in diesem Blog. Auch so genannte Bindestrichfächer wurden behandelt, insbesondere die Medien- und die Wirtschaftsinformatik. Das Kunstwort Informatik und die Berufsbezeichnung Informatiker haben im deutschen Sprachraum erstaunlich schnell allgemeine Anerkennung erfahren. Dabei gab es geringe zeitliche Differenzen zwischen der Bundesrepublik, der DDR, Österreich und der Schweiz. Im Umfeld der Informatik haben sich eine ganze Reihe anderer Bezeichnungen gehalten. Oft bezeichnen sie Teilgebiete der Informatik. Teilweise wurden sie in den letzten Jahren neugeschaffen oder erhielten einen neuen Inhalt. In meinem letzten Kommentar zum Blogeintrag vom 7.7.2015 schrieb ich an die Kollegin Katharina Zweig:

Aus Ihrem letzten Kommentar entnehme ich, dass Sie sich mit der Berufsbezeichnung ‚Data Scientist‘ befassen. Sie ist - wie mir scheint - im Gefolge von Big Data entstanden und in aller Munde. …. Syntaktisch gebildet wurde die Berufsbezeichnung aus der Juxtaposition zweier harmlos erscheinender Begriffe. Bildet man das kartesische Produkt der beiden Mengen (Computer, Data, Information, Knowledge, Software) und (Engineer, Scientist) so erhält man 10 Berufsbezeichnungen, die alle Relevanz für unser Arbeitsgebiet haben. … Wie gut, dass wir im Deutschen das Kunstwort Informatik haben, das sowohl an Mathematik wie an Automatik erinnert.

Heute möchte ich diese Diskussion ergänzen und vertiefen. Beschränken möchte ich mich auf Studiengebiete und Berufe, deren Bezeichnungen durch Juxtaposition zweier elementarer Begriffe gebildet wurden. Der Fachausdruck dafür heißt Doppelwort oder Kompositum, im Plural Komposita. Diese Ausarbeitung richtet sich vor allem an Berufsfremde. 

Komponenten und Komposita

Wie im obigen Zitat angedeutet, können die Komponenten zur Bildung der Komposita aus den folgenden zwei Mengen genommen werden: 

A = {Computer, Daten, Information, Software, System, Wissen} 

B = {Suche, Technik, Theorie, Verarbeitung, Verwaltung, Wissenschaft} 

Die in Frage kommenden Komposita ergeben die Menge C, gebildet aus dem kartesischen Produkt der Mengen A und B.

C = A X B

Die Menge C hat maximal 6 x 6 = 36 Elemente. Grammatikalisch ist die Komposition die häufigste Form für neue Begriffsbildungen. Ein Besonderheit des Deutschen ist, dass Komposita aus Gründen der Sprachökonomie immer als ein Wort zusammengeschrieben werden. Der zweite Stamm, also das Rechtsglied der Komposition, legt die grammatischen Merkmale des Ganzen fest, so auch das Geschlecht (Genus). Komponenten können Fremdwörter sein. Das Genitiv-S entfällt dann.  

Obwohl manche Kolleginnen und Kollegen (angeblich) Schwierigkeiten dabei haben, sich deutscher Begriffe zu bedienen, will ich immer von den deutschen Bezeichnungen ausgehen. Zwecks Klarstellung füge ich die englischen Äquivalente in Klammern hinzu. Die folgende Auflistung ist nach den sechs Linksgliedern der Komposition gegliedert. Nicht in jeder Gruppe kommen alle sechs Rechtsglieder vor. Bei den typischen Berufen ist nur die männliche Bezeichnung angegeben. 

Linksglied Computer

Computertechnik (engl. computer engineering): Synonym: Rechentechnik. Ein technisches Fachgebiet, das sich mit dem Entwurf und dem Bau von Computern befasst. Unterthemen sind Systemarchitektur, Prozessorarchitektur, Speichertechnologien und die Mensch-Maschine-Schnittstelle. Berufe: Computertechniker, Computeringenieur. 

Computerwissenschaft (engl. computer science): Heute vor allem in der Schweiz noch übliche Bezeichnung für die Informatik. Der Begriff Informatik ist nicht nur umfassender. Er hat auch nicht den Nachteil, dass eine Wissenschaft über ein bestimmtes Gerät definiert wird. Eine Analogie wäre, die Astronomie als Teleskopwissenschaft zu bezeichnen. Berufe: Computerwissenschaftler, Informatiker. 

Linksglied Daten


Datentechnik (engl. data engineering): Ein Fachgebiet, das heute als Teil der Automatisierungstechnik gesehen wird. Vor Jahrzehnten verstand man darunter eine einfachere Ausprägung der Computertechnik. Oft handelte es sich um elektromechanische Geräte. Besonders prominent war in Deutschland die Mittlere Datentechnik (MDT). Ihr bekanntester Vertreter war die Firma Kienzle aus Mühlheim an der Ruhr. Berufe: Datentechniker.  

Datenverarbeitung (engl. data processing): Als maschinelle Datenverarbeitung ein Synonym für die Lochkartentechnik, als elektronische Datenverarbeitung (EDV) der Vorläuferbegriff für Informationsverarbeitung. Berufe: DV-Spezialist. 

Datenverwaltung (engl. data administration, data management): Das Fachgebiet, das sich mit der elektronischen Speicherung, der Organisation und der Pflege von Datenbeständen befasst. Es ist die zentrale Aufgabe der betriebswirtschaftlichen Datenverarbeitung. Beim wissenschaftlichem Rechnen spielt die Datenverwaltung oft nur eine untergeordnete Rolle. Berufe: Datenadministrator. 

Datenwissenschaft (engl. data science): Die Wissenschaft von der Anwendung vor allem aus der Statistik stammender Verfahren und Werkzeuge zur Analyse großer Datenmengen. Sie erstellt und überprüft Hypothesen, die dem Management als Entscheidungshilfen dienen können. Der Begriff ist eng verknüpft mit dem Thema Big Data. Berufe: Datenanalytiker. 

Linksglied Information 

Informationssuche (engl. information retrieval, Abk. IR). Fachgebiet, das sich mit dem computergestützten Suchen nach Bildern, Fachartikeln und Büchern befasst. Es benutzt dabei unter anderem Methoden der Computerlinguistik. Ein typisches Produkt sind Suchmaschinen. Komplexere Verfahren werden als Data Mining oder Text Mining bezeichnet. Berufe: IR-Spezialist. 

Informationstechnik (engl: information technology, information engineering): Im Allgemeinen eines der Fachgebiete, aus denen die Informatik hervorging. Manchmal wird darin auch ein stärkere Praxisorientierung als in der Informatik gesehen, oder aber die Nachfolgerin der Nachrichtentechnik. Der englische Begriff deckt unsere Wirtschaftsinformatik ab. Abkürzung: IT (gesprochen Ei-Ti). Berufe: Informationstechniker, IT-Spezialist. 

Informationstheorie (engl. information theory): Die auf Claude Shannon zurückgehende, auf der Wahrscheinlichkeitsrechnung basierende Theorie, die Begriffe wie Entropie, Kanalkapazität, Kodierung und Information verbindet. Ihre Bedeutung liegt in der Nachrichtentechnik, für die Informatik ist sie wenig hilfreich. Berufe: keine. 

Informationsverarbeitung (engl. information processing): Der Prozess, der die menschliche Wahrnehmung und Mustererkennung (Kognition) ermöglicht. Euphemistische Steigerung des Begriffs Datenverarbeitung. Berufe: Informatiker. 

Informationsverwaltung (engl. information management): Das Planen, Gestalten, Überwachen und Steuern von Informationen und Informationsflüssen zur Erreichung strategischer Ziele. Es ist eine Führungsaufgabe in Unternehmen und Organisationen, die vor allem von Seiten der Wirtschaftsinformatik betont wird. Berufe: Organisator, Chief information officer (CIO). 

Informationswissenschaft (engl. information science): Wissenschaft, die das Suchen, Vermitteln und Auswerten von Information untersucht. Sie bewertet die Ergebnisse von Suchanfragen nach ihrer Relevanz für ein Thema. Berufe: Bibliothekar. 

Linksglied Software 

Softwaretechnik (engl. software engineering): Entwicklung von Software und der zugehörigen Datenstrukturen sowie Betrieb, Pflege und Bewertung von Softwaresystemen. Dabei kommen Prinzipien, Methoden und Werkzeuge für die arbeitsteilige, ingenieurmäßige Entwicklung zur Anwendung. Berufe: Programmierer, Softwaretechniker, Softwareingenieur. 

Softwarewissenschaft (engl. software science): Die von Maurice Halstead vorgestellten Metriken zur Bestimmung des Entwicklungsaufwands von Programmen. Berufe: keine.

Linksglied System
 

Systemtechnik (engl. systems engineering): Fachrichtung innerhalb der Ingenieurwissenschaften. Heute wird der Begriff meist in Verbindung mit der Mikrosystemtechnik benutzt. Er bedeutet dann die Verbindung verschiedener einzelner Module zu einem System. Er kontrastiert von den Komponenten und deren Technologien. Früher wurde er auf den Entwurf und die Betreuung aller komplexen Systeme verwandt, z.B. auch Großrechenanlagen. Berufe: Systemtechniker, Systemingenieur, Systemanalytiker, Systemberater. 

Systemtheorie (engl. systems theory): Eine Betrachtungsweise von Systemen, die versucht grundlegende Aspekte und übergeordnete Prinzipien herauszuarbeiten. Ihr Gegenstandsbereich kann das Sonnensystem, biologische Zellen, der Mensch, ein Familie, oder ein Staat sein. Ein Beispiel ist Niklaus Luhmanns Theorie sozialer Systeme. Berufe: keine. 

Systemverwaltung (engl. system administration, system management): Fachkompetenz, die erforderlich ist, um ein IT-System für eine Anwendungsumgebung zu planen, zu installieren, zu konfigurieren und zu pflegen. Berufe: Systemadministrator, Operateur. 

Linksglied Wissen 

Wissenstechnik (engl. knowledge engineering): Abbildung von Wissen in wissensbasierte Systeme. Es muss explizites und implizites Wissen erfasst und formalisiert werden. Berufe: Wissensingenieur. 

Wissensverarbeitung (engl. knowledge processing). Darstellung und Verarbeitung von Wissen mittels Expertensystemen und ähnlichen Systemen (Prolog, Deduktionslogik). Berufe: Informatiker. 

Wissensverwaltung (engl. knowledge management): Methodische Einflussnahme auf die Wissensbasis eines Unternehmens oder der eigenen Person. Dazu gehören alle Informationen, alles Wissen und alle Fähigkeiten, die eine Organisation oder eine  Person zur Lösung ihrer Aufgaben benötigt. Berufe: Normale Aufgabe der Führungskräfte, Instruktor, Bibliothekar. 

Abschließende Bemerkungen 

Auf viele dieser 20 Komposita stößt mancher Informatiker immer wieder. Weitere mögliche Linksglieder wie Signal, Automation, Kommunikation, Medien und Nachrichten habe ich weggelassen, obwohl auch sie die Informatik berühren. Das als Rechtsglied oft verwandte Wort Technologie habe ich mir erspart. Es deckt sich bedeutungsmäßig weitgehend mit dem Wort Technik. Oft ist es auch nur eine ungenaue Übersetzung aus dem Englischen. Ebenfalls weggelassen sind alle Komposita aus mehr als zwei Stammwörtern, so z. B. der Datenbankadministrator.  

Bei den Berufen fällt das Paar Techniker und Ingenieur ins Auge. Es drücken sich darin in der Regel Qualifizierungsstufen aus, so wie zwischen Bautechniker und Bauingenieur. Auch die Übersetzung des englischen Worts ‚engineering‘ mit Ingenieurwesen fand in der Informatik keine Zustimmung. Sowohl Bau- wie Chemieingenieure haben da weniger Skrupel. Der Begriff Softwareingenieurwesen sei altbacken wurde mir gesagt, als ich meinem Lehrstuhl an der TU München diesen Namen geben wollte. ‚Software Engineering‘ klänge doch viel moderner. 

Einige der Begriffe sind vorwiegend historisch zu sehen, andere lokal. Am interessantesten sind die Begriffe, die in den letzten zwei oder drei Jahrzehnten in den Vordergrund rückten, wie Wissenstechnik und Datenwissenschaft. In beiden Fällen haben sich die damit einhergehenden Berufsbezeichnungen noch nicht stabilisiert.