In einem Beitrag im September 2013
hatte ich meinen Ex-Kollegen und Freund Peter
Hiemann vorgestellt. Ich hatte ihn und seine Gattin Geneviève im Sommer
2010 in Grasse besucht. Von ihm, meinem örtlichen Freund Hans Diel und dem in
Darmstadt ansässigen Kollegen Hartmut Wedekind stammen fast alle Gastbeiträge
dieses Blogs. Sehr oft sind diese drei Kollegen Partner von Diskussionen oder
Autoren von Kommentaren. Peter Hiemann hat gerade ein Essay verfasst, das er
mit dem Wort Vorstellungen
überschrieb. Da ich mir wünsche, dass es einen sehr großen Leserkreis findet, stelle ich es schon mal meinen Blog-Lesern vor.
Zeitliche und thematische Spannweite
Wissenschaftler, die im Essay vorkommen,
umfassen die Zeit von Heraklit (geboren 520 vor Chr.), einem Vertreter des
griechischen Altertums, bis zu James Watson (geboren 1928), einem Vertreter der
modernen Biologie. Als Seitenhieb wird vermerkt, dass Aristoteles, ein anderer
Vertreter des griechischen Altertums, den heutigen Maßstäben an Wissenschaftler
nicht ganz gerecht wird, da er seine Schlussfolgerungen auf
Apriori-Überzeugungen basierte, die nicht durch wissenschaftliche Methoden
erworben worden waren. Das ist dieselbe Einschränkung, die man 2000 Jahre später
auch bei Immanuel Kant machen muss.
Es wird versucht, dieselben Aspekte in
vier sehr unterschiedlichen Teilbereichen der Wissenschaft zu untersuchen,
nämlich in der Physik, in der Biologie auf der Ebene der Organismen und der
Zellen, und in der Gesellschaft. Es ist eine Besonderheit von Hiemanns
Denken, dass er gerne nach Analogien sucht, insbesondere zwischen Biologie und
Gesellschaft.
Angesprochene Aspekte
Die Aspekte, die von Hiemann untersucht
werden, verraten etwas über seinen fachlichen Hintergrund. Er war als
Mathematiker ausgebildet und war als Praktiker in der Computerbranche tätig.
Der größte Teil des Wissens in Biologie und Soziologie hat er sich nebenher
oder im Ruhestand angeeignet.
Strukturen und Felder sind für ihn ein
Ausdruck von Ordnungsprinzipien. Mechanismen und Algorithmen dienen der gesteuerten
Veränderung. Sie können der Selbstorganisation dienen oder gar Reparaturen
bewerkstelligen. Das geschieht allerdings nur, wenn es eine Vorstellung bzw.
ein Modell bezüglich des Idealzustands gibt. Sehr leicht können jedoch falsche
Vorstellungen dem entgegenwirken. Das ist immer dann, wenn die Vernunft auf der
Strecke bleibt.
Ich selbst stehe dem mathematischen
Denken manchmal etwas kritisch gegenüber. Das ist etwa dann, wenn von der Form einer
Formel oder einer Struktur auf ihren Wert oder Nutzen geschlossen wird, frei
nach dem Motto, was schön ist, ist auch gut. Dabei wird ‚schön‘ sehr
willkürlich, um nicht zu sagen, von außen (a priori) definiert. Erstarrte und
verkrustete Strukturen sind m E. nicht primär an ihrer Form zu erkennen. Ob sie
agil oder (bereits) chaotisch sind, ob tolerant oder human ist keine
Eigenschaft, die sich an Organisationsformen erkennen oder festmachen lässt. Weder
im Ameisenhaufen noch im Flüchtlingsstrom entscheidet sich Vernetzung und
Isolation an geometrischen Formen.
Ich wünsche viel Spaß beim Lesen.
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Am 7.12.2015 schrieb Robert Ottohall aus Tübingen:
AntwortenLöschenzuerst eine Bemerkung zum Vorwort. Darin schreiben Sie "..., Ich selbst stehe dem mathematischen Denken manchmal etwas kritisch gegenüber. Das ist etwa dann, wenn von der Form einer Formel oder einer Struktur auf ihren Wert oder Nutzen geschlossen wird,..." Zufällig bin ich in einem Buch über die Geschichte der Mathematik auf die Tatsache gestoßen, dass Formeln bzw. mathematische Strukturen, die "entdeckt" wurden, erst viel später eine praktische Anwendung in einer physikalischen Theorie gefunden haben. Für den Mathematiker war die Formel zuerst mal schön, erst später nützlich. Jetzt bin ich mal auf den Beitrag von Herrn Hiemann gespannt :-)
NB (Bertal Dresn): Genau diesen Punkt wollte ich auch machen. Eine Formel wird zuerst als Formel bestaunt. ‚Ach, ist die schön!‘. Später freut man sich, wenn man dafür sogar Anwendungen findet, egal ob in Physik, Chemie oder Biologie. Die Frage ist, was veranlasst bzw. bestimmt wen? Die Mathematik die Realität oder umgekehrt. Anders gesagt: Ist Gott Mathematiker?
Gestern haben Hans Diel und ich bei einer Tasse Tee auch über Peter Hiemanns Essay gesprochen. Hier einige Gedankensplitter:
AntwortenLöschenSo löblich auch der Versuch ist, Brücken zu bauen zwischen den Wissenschaften, das Hiemannsche Essay deutet auch auf die damit verbundenen Gefahren hin. Ein Beispiel ist die Terminologie. Es gibt nicht eine einzelne Bedeutung für Begriffe, sondern für jedes Fachgebiet eine andere. In den Naturwissenschaften ist die Bedeutung von Begriffen wie Arbeit, Leistung, Impuls, Kraft, usw. bereits sehr unterschiedlich. Total anders wird es, nimmt man Psychologie und Soziologie hinzu.
Im Mittelpunkt steht bei Hiemann der Begriff Struktur. Die Vorstellung, die er suggeriert, ist die eines Puzzle. Das kann eher in die Irre führen als helfen. Etwas gilt als strukturiert, wenn es nicht aus lauter willkürlichen und verschiedenen Einzelteilen besteht. Aber genau das verbinden die meisten Menschen mit dem Wort Puzzle. In einer Struktur ist oft eine Ordnungsrelation zu erkennen. Es muss jedoch keine hierarchische Ordung sein. Eine Struktur ist irgendwie gliederbar. Chaitins Komplexitätsbegriff scheint in dieselbe Richtung zu deuten. Danach ist all das eine Zufallszahl, was sich nicht kürzer darstellen lässt. Analog ist nur eine solche Anordnung (von Dingen oder Begriffen) eine Struktur, in der sich Wiederholungen und andere Systematiken erkennen (und anders darstellen) lassen. Sicherlich ein interessantes, aber endloses Thema.
Dem Begriff Feld (oder Umgebung) wird unterstellt, dass die Bedeutung, die in der Physik gilt, auch anderswo gilt. Wir bezweifeln das. Felder in der Physik gibt es, wenn sich Ladungen (Elektrizität) oder Temperaturen (Energie) bewegen. Ähnliche Phänomene sind uns in Biologie oder Soziologie nicht bekannt.
Es wird als Wissenschaft nur gelten gelassen, was die Welt ohne Rückgriff auf die Metaphysik erklärt. Auch da lässt sich Einiges dazu sagen. Der Autor Christopher Potter nennt in seinem Buch ‚Sie sind wir‘ (das Hans Diel gerade liest) als Beispiel die Sinnfrage: ‚Warum gibt es überhaupt etwas und nicht nichts? Wer kann das beantworten, wenn nicht die Metaphysik.
Dass die Biologie Reparaturen vornehmen kann, scheint im Widerspruch zu der Aussage zu stehen, dass die Evolution kein Ziel verfolgt. Der Wille bzw. die Kraft zum Überleben sei irgendwo in der Natur vorhanden. Beim Menschen scheinen sie verloren zu gehen oder nur partiell zu bestehen. Ein Prozent aller Menschen stirbt nämlich per Suizid. Was der IS treibt oder was Umweltsünder zulassen, deutet auch nicht darauf, dass die Gesundung von Gesellschaft und Natur sich von einem sehr verbreiteten und natürlichen Trieb lenken lässt.
Am 12.12.2015 schrieb Peter Hiemann:
AntwortenLöschenReine Mathematik betrifft unterschiedliche abstrakte 'Gestaltungsräume'. Unterschiedliche Axiome und Regeln definieren unterschiedliche Räume. Reine Mathematiker 'explorieren' diese Räume, um deren Eigenschaften zu 'entdecken'. Eine vermutete Eigenschaft (mathematische Aussage) muss innerhalb der Regeln des betrachteten 'Raumes' bewiesen werden. ...
Physiker bedürfen gelegentlich mathematischer Experten, um physikalische Vorstellungen mathematisch abzusichern (z.B. Einstein bei der Allgemeine Relativitätstheorie). Mathematiker befassen sich gelegentlich mit physikalischen Gesetzen, um Lösungen physikalischer Gleichungen aufzuzeigen (z.B. Cedric Villani über die Boltzmann-Gleichung) [Cedric Villani: „Das lebendige Theorem“]. ...
Die Benutzung gleicher sprachlicher 'Konstrukte' für unterschiedliche Fachbereiche mit unterschiedlichen Perspektiven ist sehr geläufig. Das verursacht nur dann Probleme, wenn Unterschiede nicht deutlich gemacht werden. ...
Die Vorstellungen 'einer erkennbaren Ordnungsrelation' oder einer 'erkennbaren Gliederung' sind z.B. für die biologische Taxonomie oder das Periodensysteme der Elemente nützlich, für das Standardmodell der Elementarteilchen und das Proteom (Gesamtheit aller Proteinzustände) eines Lebewesens sind sie eher irreführend.
Der Begriff 'Puzzle' bezeichnet ein Geduldsspiel, in dem es darum geht, ein Bild aus passenden Teilen zu einem Ganzen zusammenzufügen. Im übertragenem Sinn sind geistige Vorstellungen innere Bilder, die sich im Laufe der Zeit aus 'passenden' Erkenntnissen zusammensetzen [Gerald Hüter: „Die Macht der inneren Bilder“]. …
Dem Physiker Schrödinger war schon 1943 der grundlegende Unterschied zwischen physikalischen und biologischen Systeme bewusst: „Gesetze der Physik und Chemie sind durchwegs statistischer Natur. …...Ein Organismus und alle biologischen wesentlichen Vorgänge, die ihn berühren, besitzen eine extrem 'vielatomige' Struktur und müssen vor 'einzelatomigen' Zufälligkeiten, welche zu große Bedeutung erlangen könnten, geschützt sein.“ [Erwin Schrödinger: „Was ist Leben – Die lebende Zelle mit den Augen des Physikers betrachtet“] Übrigens hat Schrödinger seine Physikerkollegen ausdrücklich darauf hingewiesen, dass biologische Strukturen nicht mit Kristallen vergleichbar sind. Sie sind nicht analog als eine Anordnung von sich wiederholenden Elementen aufzufassen. …
Mit heutigem Wissen darf man getrost sagen: Mathematik hätte einem 'Gott' nicht gereicht, das Universum zu gestalten.
In dem Kapitel 'Umgebungen – Felder' wird nicht behauptet, dass „die Bedeutung 'Feld', die in der Physik gilt, auch anderswo gilt“. Im Gegenteil wird die Möglichkeit angedeutet, dass Physiker 'Felder' einfach auch als 'Umgebungen' betrachten können. ...
Biologischer Reparaturmechanismen sind nicht Ausdruck eines immanenten Willens oder einer Kraft der Natur. Sie sind Fähigkeiten biologischer Organismen. Die Existenz biologischer Reparaturmechanismen ist kein Hinweis, dass biologische Evolution zielgerichtet sei. Der Begriff biologische Evolution bezieht sich nicht auf einzelne biologische Organismen, sondern auf die DNA-Programme von Populationen biologischer Organismen. Programme für Reparaturmechanismen bewirken, dass individuelle Organismen stabil bleiben, um die Reproduktion von DNA-Programmen sicher zu stellen. Nicht 'Kräfte der Natur' sind Ursache biologischer Evolution, sondern Selektionen bei der Reproduktion, Einflüsse biologisch wirksamer Umgebungen und zufällige Mutationen biologischer Programme. Biologische Evolution setzt übrigens voraus, dass individuelle DNA-Programme nur eine begrenzte Lebensdauer besitzen. DNA-Programme besitzen nicht nur die Fähigkeit sich selbst zu reparieren, sondern sich auch selbst zu zerstören. Ohne Geburt und Tod keine Evolution.
Heute schrieb Peter Hiemann aus Grasse:
AntwortenLöschenDas Thema 'Komplexität' blieb im Gedankengang des Essays unberücksichtigt. Es würde sich sicher lohnen, dem Thema mehr Aufmerksamkeit zu widmen, insbesondere die Komplexitätsunterschiede zwischen physikalischen und lebenden Systemen zu verdeutlichen. Bernd-Olaf Küppers hat dazu in seinem Buch „Die Berechenbarkeit der Welt“ klärende Überlegungen angestellt. Im Kapitel „Wie komplex ist die belebte Materie?“ zeigt er die Anzahl der kombinatorisch möglichen Alternativen, die Nukleotide eines menschlichen DNA-Kettenmoleküls (die 'Buchstaben' eines menschlichen 'Programms'), unterschiedlich anzuordnen. „Die Zahl übersteigt jegliches Vorstellungsvermögen. ….. Es wird schlagartig klar, dass in einem reinen Zufallsakt nicht einmal die Baupläne einfachster Lebewesen entstehen konnten. ….... Selbst die dynamische Komplexität des Universums würde nicht ausreichen, um die zufällige Entstehung von Leben auch nur annähernd wahrscheinlich werden zu lassen“.
In diesem Zusammenhang verweist Küppers auf Gregor Chaitin, der festgestellt hat, „dass der Grad der Inkompressibilität einer Zeichenfolge offenbar ein charakteristisches Merkmal für den Grad ihrer Zufälligkeit ist …. Er hat darüber hinaus den Grad der Zufälligkeit einer Folge mit dem Grad ihrer Komplexität gleichsetzt“. Bei Komplexitätsbetrachtungen menschlicher neuronaler Netzwerke sind sowohl die komplexe Anatomie existierender Neuronen als auch die äußerst komplexen sich ständig verändernden Muster aktivierter Neuronen zu berücksichtigen.