Dienstag, 22. März 2016

Ein Physiker (v)erklärt die Software-Welt

Mein in der Schweiz lebender Ex-Kollege Walter Hehl entdeckte, dass es neben dem physikalischen Wissen über die Welt noch andere Dinge von Bedeutung gibt. Er ist erstaunt und voller Bewunderung. Sein kürzlich bei Springer in Heidelberg erschienenes Buch heißt Wechselwirkung  ̶  Wie Prinzipien der Software die Philosophie verändern. Es hat 294 Seiten. Nach mehreren Büchern, in denen der Autor der Informatik nahe stehende Themen behandelte, versucht er jetzt eine Brücke zu bauen zwischen Naturwissenschaften, Technik und Philosophie. Er ist damit in guter Gesellschaft. Dieses Buch hat eine ganz besondere, ja überraschende Sicht der Dinge. Ich finde das Buch mutig und erhellend. Dass ich nicht immer der gleichen Meinung wie der Autor bin, liegt vor allem daran, dass er einige Informatik-Fachbegriffe etwas lockerer verwendet, als ich dies tue. Auch da ist er nicht der Erste. Seine Botschaft wird dadurch zwar etwas belastet, sie bleibt aber noch gut erkennbar.

Darstellung per Klappentext und Überschriften

Der Anspruch, den das Buch erhebt, wird klar durch den Klappentext. Anstatt ihn umzuformulieren, gebe ich ihn verbatim wieder.

In Software gegossene Algorithmen, die Schachweltmeister besiegen oder bei Fragespielen erfolgreich gegen Menschen bestehen, zeigen die radikalen Änderungen in einer durch Software getriebenen Welt, für deren Verständnis Brücken zwischen Informatikern sowie Technikern und Philosophen notwendig sind. In diesem Sinne argumentiert der Autor für eine Technikphilosophie, in der Software eine bedeutende Rolle spielt. Begriffe erfahren dadurch neue Sichtweisen und Bedeutungen. Das Ergebnis ist eine moderne Form des Dreiweltenmodells von Karl Popper, jetzt mit Software als der zweiten Weltsäule neben der Teilchenwelt der Physik. Die wichtigsten Begriffe des Buchs sind in einem Glossar zusammengefasst.

Eine ‚von Software getriebene Welt‘, das ließ mich aufhorchen. ‚Software als Weltsäule‘, da wird es echt kryptisch. Was könnte da bloß gemeint sein? So fragte ich mich. Eine Stufe tiefer in das Buch führt eine Liste der darin vorkommenden Kapitelüberschriften. Sie sollen unkommentiert gelistet werden.

Was ist Philosophie? Was ist Software? Philosophisches aus und für Software und Softwaretechnologie. Philosophisches mit Software: Emergenz, Evolution und Weltmodell (Ontologie). Strömende Software und Bewusstsein. Wissen, Verstehen und Intelligenz mit Software. Es muss nicht Silizium (oder Ähnliches) sein. Software der Seele: Weil wir Computer sind. Freier Wille, Gehirn-im-Tank, Identität. Und wo bleibt der Geist? Wechselwirkungen.

Es war keine Frage, dass dieses Entree den Appetit weckte. Ich kann (und will) hier nicht sagen, wie man alle diese Aussagen im Buch interpretieren sollte. Das Buch selber zu lesen, ist ja kein großer Aufwand. Man täte sogar dem Autor einen Gefallen. Er will ja Anstöße geben. Ich beschränke mich hier weitgehend darauf darzustellen, wie man diese Dinge auch noch sehen kann. Wo immer möglich beziehe ich mich auf entsprechende Ausführungen in diesem Blog. Stichworte wie Bewusstsein, Emergenz, Evolution, freier Wille und Wissen kamen auch hier vor. Ich verweise auch auf einige Themen, die ich im Zusammenhang einer Philosophie der Technik vermisse. Das alles geschieht unter der Prämisse, wesentlich knapper zu sein als Kollege Hehl. Woher diese ganzen Gedanken stammen, ist teilweise im Buch erklärt. Manches entgeht mir. Ich war streckenweise ziemlich überrascht.

Ende des Physikalismus

Die Physik, genauer gesagt der Physikalismus, hat offensichtlich nicht mehr für alles eine Antwort. Es ist dies die These, dass alles, was existiert, physisch sei, oder dass zwischen den Eigenschaften aller real existierenden Objekte und deren physikalischen Eigenschaften eine eindeutige Beziehung besteht. Sowohl die Schwächen des Physikalismus wie auch das Ausbleiben von Fortschritten des Fachgebiets selbst hat viele Physiker sehr verunsichert. In diesem Blog wurden diese Selbstzweifel der Physiker mehrmals angesprochen. Einige befassen sich daher mit nicht-physikalischen Themen, z.B. der String-Theorie. Das ist – überspitzt gesagt – eine Theorie, auf die auch Philosophen hätten kommen können. Sie ist nämlich nicht falsifizierbar. Die Informatik, und hier speziell die Software, scheint neben der Philosophie eine andere Disziplin zu sein, von der Physiker hoffen, dass sie uns weiter bringt im Bemühen, die Welt zu verstehen. Sie ist nämlich mehr als nur Mathematik oder Informationstheorie, da auch Prozesse adressiert werden. Auch hier kann man Modelle und Theorien bauen, die nicht falsifizierbar sind. Das gilt allerdings nur für den Theoretiker. Dem praktisch arbeitenden Informatiker darf dies nicht passieren. Hehl führt den Begriff Softwareismus ein für eine Auffassung, die Software als ein sehr weit greifendes gedankliches Modell verwendet.

Überraschend an dem hier propagierten Weltmodell ist, dass der Autor fast die gesamte nicht-physikalische Welt unter dem Begriff Software subsumiert. Es gehört nicht nur die gesamte Biologie dazu, sondern auch Medizin, Soziologie, Psychologie und alle Wortwissenschaften (auch als Geisteswissenschaften bekannt). Der Autor macht dabei die ihm passenden Annahmen, was Software ist und leisten kann. Er liegt dabei manchmal etwas daneben. Alle Lebewesen werden als Computer gesehen. Liebe und Kunst stellen noch von der Software unabhängige Gebiete dar, wobei Kunst schon von Software angesteckt sein kann.

Was ist hier mit dem Begriff Software wirklich gemeint?

Meine fachlich einigermaßen präzise Definition von Software lautet: Es ist das, was ein Informatik-Gerät zusätzlich zur Hardware benötigt, um Daten zu verarbeiten. Dazu gehört derjenige Teil der Programme, die aus dem Speicher heraus benutzt werden, aber auch Beschreibungen aller Daten nach Format und Bedeutung sowie Suchhilfen (z. B. Indizes), speziell für größere Datenmengen oder komplexere Datenstrukturen. Sind entsprechende Funktionen direkt als Teil der Hardware realisiert, gehören sie nicht zur Software. Etwas ungenauer ist die Definition in Wikipedia. Danach ist Software ein Sammelbegriff für Programme und die zugehörigen Daten. Sie kann als Beiwerk zusätzlich Bestandteile wie z. B. die Dokumentation in der digitalen oder gedruckten Form eines Handbuchs enthalten.

Für Laien möchte ich noch hinzufügen: Ein System ohne Software kann ebenso leistungsfähig sein, wie eines mit Software. Software allein kann überhaupt nichts. Weder läuft sie, noch schleicht sie dahin. Wer Software als Grundpfeiler allen Lebens benutzt, oder ein Weltbild darauf aufbaut, hat zumindest auf sehr unsicheren Grund gebaut.

Als Physiker damit begannen, die Biologie als etwas zu erkennen, dass nicht mit Mitteln und Begriffen aus der Physik erklärt werden konnte, kamen sie auf Information als das für sie Neue und Unbegreifliche. So spricht Manfred Eigen (*1927) von Selbsterhaltung von Information und der Ursemantik als entscheidend für die Entstehung des Lebens. Längst wurde erkannt, dass das Vorhandensein des Genom nicht ausreicht, um Leben zu erklären. Dem in der Informatik tätig gewesenen Physiker Hehl ist bekannt, dass neben Daten auch die Prozesse eine große Bedeutung haben. Er wollte auch sie berücksichtigt sehen. Das Wort Software dient ihm als Platzhalter für einen Begriff, der Prozesse plus Daten beinhaltet.

Eine Analogie kann hier helfen. Im Falle von Musik entspräche Software der Partitur. Noten sind einzelne Befehle. Nicht die Partitur macht Musik, sondern die Musiker. Wenn ein Komponist umfangreiche Partituren schreibt, kann das seinen Schreibtisch in Unordnung bringen, genau wie verbose Software den Speicher eines Rechners belastet. Die (musikalische) Wirkung ist gleich Null. Der Tisch mag brechen, aber nicht die Mauern von Jericho wie einst beim Ertönen früh-israelitischer Musikinstrumente. Dass dazu Partituren benötigt waren, also Software, ist unwahrscheinlich. Software beschreibt zwar von Maschinen oder Menschen ausführbare Prozesse. Software mit Musik zu vergleichen ist aber ebenso falsch wie Musik mit Software gleichzusetzen. 

Auf Information oder Daten ausführlich einzugehen, hält Hehl wohl für unnötig. Es kann auch sein, dass ihm die Schwierigkeiten bewusst sind, die der Begriff Information verursacht hat, seit er von Claude Shannon (1916-2001) in einer rein mathematischen Richtung definiert wurde. Eine ausführliche Abhandlung zum Thema Information findet sich in diesem Blog. Aus Sicht der Informatik ist es gleichermaßen irreführend, wenn man sich auf Prozesse konzentriert und Daten außer Acht läßt wie umgekehrt. Mehr als nur eine Sache im Blick zu haben, überfordert offensichtlich manche Leute.

Berührungen zwischen Informatik und Philosophie

Über die Aufgaben der Philosophie haben sich immer wieder Menschen Gedanken gemacht. Eigentlich ist sie seit Jahrhunderten auf dem Rückzug. Sie umfasste einmal auch alle Naturwissenschaften, außer der Medizin. Die Philosophie nimmt (auch heute noch) für sich in Anspruch, dass sie die grundlegenden Begriffe, Fragen, Thesen und Positionen herausarbeiten soll, die anderen Wissenschaften zugrunde liegen. Ob sie das nicht überfordert, fragen viele. Es bleiben ihr zumindest die drei Fragen, die Immanuel Kant in der Kritik der reinen Vernunft bereits stellte: Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Die Fragen stehen für die Teilgebiete Erkenntnistheorie, Ethik und Metaphysik. Nur zu der ersten Frage kann die Informatik möglicherweise Beiträge leisten. Obwohl in Hehls Buch viel von Philosophie die Rede ist, gemeint ist immer nur ein enges Teilgebiet.

Informatiker oder Software-Leute maßen sich nicht an, dass sie Fragen von folgender Art beantworten können: Wer oder (lieber) was löste Bewegungen in der Welt aus? Weder Zuses (Rechen-) Plan noch alle späteren Programmiersprachen setzten irgendetwas in Bewegung. Sie setzten weder Bagger in Gang oder eine Wanduhr. Noch lösten sie Erdbeben aus, einen Windstoß, eine Vulkaneruption, das Ausbreiten von Photonen (ob Wellen oder Partikel); noch das Kreisen von Planeten oder das Fließen eines Flusses. Auch lösten sie nicht den Urknall aus. Wenn etwas in Bewegung gesetzt werden soll, kann man sehr oft mit Geräten eingreifen, die mittels Software gesteuert sind, manchmal aber auch mit Worten (in anderen Sprachen), mit Armbewegungen, mit Feuer, mit Wasser oder mit Steinmassen. Sofern die Physik diese Fragen nicht selbst beantworten kann, kann die Metaphysik zu Hilfe kommen.

Übertragbare Konzepte zwischen Informatik und anderen Wissenschaften

Viele in der Informatik entstandene und benutzte Konzepte erscheinen auch außerhalb der Informatik anwendbar zu sein. Zu dieser Ansicht gelangten Kollegen immer wieder. Ein sehr naheliegendes Beispiel ist der Beitrag von Jasmin Fischer, Dave Harel und Thomas Henzinger zum Thema ‚Biology as Reactivity‘ in den Communications der ACM (Heft 54,10 vom Oktober 2011). Viele der von Hehl angeschnittenen Fragen werden in einer Diskussion in diesem Blog im Mai 2013 angesprochen. Über den Zusammenhang zwischen Information und biologischem Leben geht es in einen Blog-Eintrag von April 2014. Sehr relevant ist die Diskussion um das Verhältnis von Sprache und Biologie, die sich anschließend zwischen Peter Hiemann und Hartmut Wedekind entwickelte.

Schöne Zitate von A – Z

Hehls Buch macht ausgiebig Gebrauch von Zitaten. Zitate müssen heute nicht ein Beweis für große Belesenheit sein. Es gibt viele Wege, sie im Internet zu finden. Drei davon gefielen mir besonders gut. Von dem Physiker Richard Feynman (1918-1988) stammt der Satz: Was ich nicht schaffen kann, verstehe ich nicht (engl: What I cannot create, I do not understand). Das ist eine sehr schöne Art auszudrücken, welche Rolle den konstruierenden Wissenschaften zukommt. Dass Informatik eine Ingenieurwissenschaft ist, wird immer wieder vergessen oder unterschlagen. Der holländische Informatiker Edsger Dijkstra (1930-2002) wird mit dem Satz zitiert: Die Frage, ob Computer denken können, ist nicht interessanter als zu fragen, ob ein U-Boot schwimmen kann. Dies besagt, dass diese Frage eigentlich nur Wortwissenschaftler berühren sollte. Da Albert Einstein (1879-1955) nie fehlen darf, wenn kluge Zitate gefragt sind, hier ein Beispiel: Durch bloßes logisches Denken vermögen wir keinerlei Wissen über die Erfahrungswelt zu erlangen; alles Wissen über die Wirklichkeit geht von der Erfahrung aus und mündet in ihr. Das tröstet die Empiriker, wenn Logiker zu vorlaut werden.

Der Mathematiker Gregory Chaitin (*1947) denkt bereits in eine Richtung, die Walter Hehl fortführt. Von Chaitin stammt der Satz: Gott ist Programmierer, und wenn man die Welt verstehen will, muss man Programmieren können. Oder Die Evolution ist ein vom Zufall bestimmter Aufstieg in einem Software-Raum (engl. Evolution is an uphill random walk in software space). Von Chaitin, einem anderen Ex-Kollegen, ist es nicht allzu weit zu Walter Hehl. Nur plumpsen wir aus Chaitins abstrakter, mathematischer Welt auf den Steinboden der Realität. Da kann es dann schmerzhaft werden. Es folgt jetzt eine Auswahl aus dem Zusammenhang gerissener Zitate aus Hehls Buch.

Software ist die Disziplin vom Erschaffen funktionierender komplexer Systeme und führt damit zu ihrem Verstehen. … Software beschreibt das Sein und das Werden. … Software hat eine epistomologische Aufgabe zu lösen, d.h. richtige Größen und Operationen zu finden. … Überall wo etwas wächst, werden Instruktionen ausgeführt. Alles was fließt, ist Software. … Software steht für das Konstruktive per se. … Software ist ein Grundelement der Welt. … Es ist eine immaterielle Substanz, die Neues schafft; die aus Hardware emergiert. … Eine Welt ohne Zufall gibt es nur als Ausnahme. … Bei der Natur-Software werden Specs erst nach der Entwicklung geschrieben. … Emergenz erfolgt bei Software beim Lauf und bei der Entwicklung. … Musik ist Software. Musiker sind die Prozessoren. … Zufall ist in der Quantenphysik ontisch geworden. … Bei Software gibt es ungeplanten Zufall durch Fehler im Code. … ‚Brute force‘ zum Lösen von Problemen ist Kreativität, die keine Freiheit braucht. … Wenn Naturgesetze und Software-Gesetze zusammenkommen, entsteht Großartiges und total Neues. … Die Evolution ist ein Software-System, dessen Speicher das Genom ist. … Die Erforschung der Evo-Devo ist Natur-Software-Engineering. Natur-Software ist nicht optimal, ist aber konfigurierbar. … Der Mensch könnte allmählich von Natur- zu künstlicher Software übergehen (meinen die Transhumanisten). … Wir können Natur-Software nicht reengineeren. …Die Erweiterung der Natur-Software erfolgt an vielen Stellen gleichzeitig. …Das Bewusstsein ist laufende Software, die auf Ereignisse reagiert. … Das Ich-Gefühl ist ein großes laufendes Programm. … Computer haben Gefühle, soweit sie Sensoren dafür haben. … Das Internet schafft ein gemeinsames Bewusstsein (Weltbewusstsein). … Facebook ist ein Betriebssystem für die Menschheit. …Die Schichten der Interpretation eines Bildes sind Emergenzkaskaden. … Was der Mensch kann, kann der Computer auch, nur besser. ... Denken ist Gesamtheit aller bewussten Prozesse im Gehirn. Die natürliche Sprache ist der einschaltbare laufende Interpreter. … Computer ist jedes Objekt, das umkonfiguriert werden kann, um Probleme zu lösen. … Die Seele sind die Prozesse unseres Innenlebens; sie ist Software, und zwar eine laufende, strömende Software. … Wir können die Seele konstruktiv verstehen durch Bauen in Software. … Software übernimmt Geistiges, da Gehirn laufende Software ist. … Sprache ist vernetzte Software. ... Auch Naturgesetze haben Geist. … Das Thema Geist ist untechnisch und unwissenschaftlich; deshalb schwer zu fassen. … Mathematik ist absolut und geistig. … Software ist außerhalb der Kausalität. … Softwareismus versucht eine technische Systematisierung von Erkenntnisvorgängen; der Wechselwirkung von Menschen, Maschinen und Netzwerken. … Da wo etwas agiert, läuft Software. … Software ist eine Metapher für die Beschreibung der Welt, des Lebendigen. … Software ist die Cephalisation der Welt wie von Teilhard de Chardin vorhergesagt.

Schlussgedanken

Immer wieder erlagen Menschen der Versuchung, ihre Werkzeuge zu überhöhen, ja ihnen mystische Eigenschaften anzudichten. Warum nicht auch der Software? Oft entsteht daraus eine Idealisierung, ja eine Vergöttlichung (Apotheose). Ich gebe zu, dass die obige Auflistung der Zitate aus dem Buch von Walter Hehl dem Autor gegenüber etwas unfair erscheinen mag. Sie soll jedoch verdeutlichen, welche Zumutung der Text für fachlich qualifizierte Leserinnen und Leser darstellt. Als jemand, der ein Berufsleben lang anderen Menschen zu erklären versuchte, was an Software anders ist als an anderen Werkzeugen, berührt es besonders, wenn Software derart überhöht wird. Es grenzt ja fast an Verklärung. 

PS. Das Kunstwort ‚Softwareismus‘ hat Google nur fünfmal gefunden, ausschließlich im Buch von Hehl. Ich möchte es daher als Neuschöpfung ansehen. Ob sie bestehen bleibt, d.h. seine Benutzung sich ausbreitet, wird sich zeigen. Eine sechste Nutzung wird erscheinen, sobald dieser Blog-Beitrag im Netz ist. Zum Vergleich: Physikalismus fand Google 20.400 Mal. Da ist noch Raum für Wachstum.

12 Kommentare:

  1. Walter Hehl schrieb:

    Mein Buch zeigt in der Tat viele Einzelheiten aus der Softwareentwicklung auf, die ich für wert halte, allgemein verbreitet zu werden (z.B. großer Systeme). Aber der philosophische Hauptpunkt ist, dass „Software die Welt treibt“, pragmatisch und philosophisch. Das sollte doch für einen Informatiker keine böse Nachricht sein? Eher betrüblich für den Physiker, der es gewohnt ist, mit Gravitationswellen und Higgs-Teilchen Furore zu machen.

    Ihre Definition von Software: „Es ist das, was ein Informatik-Gerät zusätzlich zur Hardware benötigt, um Daten zu verarbeiten” ist mir zu eng. Historisch spielt die Information eine dominierende Rolle (gerade auch, wie Sie sagen, mit Shannon, aber auch mit dem Internet der Informationen). Ich möchte das Tun, die Prozesse, in den Vordergrund stellen: Für mich ist (laufende) Software ein Satz von Operationen, die in den physikalischen (natürlichen) Ablauf der Welt eingreifen; im einfachsten Fall eine 1-Bit-Operation wie einen Schalter umlegen: Wenn Ihr Finger den Schalter bedient, greifen Sie ein, wenn im Webstuhl ein Stift im Lochstreifen den Faden verschiebt und ein Muster erzeugt, greift er ein, wenn im Chip eine Operation (z.B. eine Negation) abläuft, dann kippen alle betroffenen Transistoren. Dieses Umschalten der Transistoren ist Physik (oder Elektrotechnik) und braucht eine minimale Energie, jedenfalls in der Praxis. Dass unter diese Definition auch die Anweisung im Drehbuch fällt: “Küssen Sie die Hauptdarstellerin”, stört mich nicht. Ein Script ist eben auch eine Art Software. Diese Definition beinhaltet den digitalen Computer, aber auch das biologische Leben.

    Mir missfällt nur das Wort Software: Aber als Gegenbegriff zur Hardware und zur Betonung, dass es nicht um Daten geht, sondern um Prozesse, habe ich kein besseres. Das bisher (auch aus technischen Gründen) bevorzugte Wort Information und seine Verarbeitung ist auch abgedeckt. Sie (oder ich) erwähnen die Dampfmaschine und den Webstuhl: Die Dampfmaschine ist Hardware (sie wird über die Zentrifugalkraft eines Rotors gesteuert), der Jacquard-Webstuhl wird mit Software in einfachster Struktur betrieben aber mit komplexen Daten. Es entstehen durch den Eingriff wunderbare (künstliche!) Muster. Ein Computerchip ist nur in Bezug auf die Transistoren und Grenzflächeneffekte Physik, die Konstruktion und der komplexe Ablauf ist für mich Software.

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  2. Nochmals: Die Konstruktion und die Ausführung von Software sind Prozesse. Software ist ein technisches Produkt. Im ersten Falle entsteht es, im zweiten Falle wird es genutzt. Die Begriffe Prozess und Produkt zu verwirren oder gar zusammen zu schmeißen kann doch nicht von Vorteil sein.

    Was im Buch als Software bezeichnet wird, das gibt es in der Praxis so nicht. Natürlich sind Definitionen Geschmackssache. Wem die Definition von Pferd (Gattung Equus) als ein Zug- oder Reittier mit vier Beinen zu eng vorkommt, kann auch Tiere mit Flügeln oder Hörnern dazurechnen. In Mythologie und Literatur haben diese Tiere Namen wie Pegasos bzw. Einhorn. Auf Software übertragen heißt so etwas in der Literatur Vaporware oder Blauer Dunst. Das sind allerdings keine technischen Produkte mehr, sondern nur noch Phantasie-Gebilde.

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  3. Peter Hiemann aus Grasse schrieb:

    Walter Hehl sagt nicht, in welche Welt seines philosophischen Dreiweltenmodells er das Bewusstsein seiner Selbst einordnet. In eine der zwei 'immanenten' Welten 1 und 2 oder in eine dritte 'transzendente' Welt? Selbst Poppers dritte Welt (Wissen im objektiven Sinn) bestand aus Vorstellungen, die mit immanent existierenden menschlichen Mitteln gewonnen wurden.

    Übrigens existieren bereits Theorien, die transzendente Ursachen für Bewusstsein vermuten. Zum Beispiel postuliert der Quantenphysiker Amit Goswami die Existenz eines kosmischen Bewusstseins.

    Derzeit plausible philosophischen Vorstellungen über Bewusstsein vertritt Thomas Metzinger mittels des Begriffs 'Selbstmodell'. Der Begriff spielt auch in Überlegungen von Neurologen wie Antonio Damasio eine entscheidende Rolle.

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  4. Gerhard Schimpf aus Pforzheim schrieb:

    Nur mal zur Anregung ein Einwurf, den ich so gut finde, dass ich mich darüber ärgere, dass er nicht von mir ist: Die drei größten Kulturleistungen in der Entwicklung der Menschheit sind Sprache -> Buchdruck -> Software (Ende des Zitats)

    Man kann jetzt überlegen, ob es nicht genau das Denken ist, das sich über diese drei Säulen wölbt. Es war letztlich das Denken, dass sich dieser Ausdrucksformen bedient hat und alle Arten von Artefakte hervorgebracht hat: philosophische Gedanken, praktische Handlungsanweisungen, Kunstwerke oder auch technische und Ingenieursleistungen.

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  5. Im Jahre 1998 besuchte ich die Software Engineering Tagung (ICSE98) im japanischen Kyoto. Den Stand einer japanischen Software-Beratungsfirma habe ich heute noch in Erinnerung. Ihr Motto lautete: "Software ist ein geistiges Produkt.“ Sie bot Software-Beratung an auf der Basis des Zen-Buddhismus. Ich empfand dies damals als fernöstliche Skurrilität. Offensichtlich täuschte ich mich. Am Zürich-See blühen heute die gleichen Gedanken.

    Ich selbst war etwa 40 Jahre lang mit Kollegen zusammen, die Software nicht als Technik ansahen. Für viele von ihnen ist es auch heute noch Geisteswissenschaft, bestenfalls Mathematik. Diese Kollegen fielen in zwei Lager. Die einen waren Firmenkollegen, die aus Physik und Elektrotechnik kamen und selbst Chips oder Rechner entwickelten. Software-Entwickler waren die Exoten, die glaubten mit ‚Saftware‘ (sic!) Geld verdienen zu können. Die andere Gruppe war eher an Hochschulen vertreten und hatte einen Background in Mathematik oder Philosophie. Für sie gehört Software ins Reich der Ideen und muss frei sein. Diese Position ist z.B. nachzulesen im Bericht der NATO-Tagung 1968 in Garmisch.

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  6. Peter Hiemann schrieb:

    Eine Reduktion auf die Elemente Sprache, Buchdruck, Software reicht nicht aus, um auf diesen 'Säulen' ein 'Gewölbe' der menschlichen Entwicklung zu errichten. Die Begriffe der dargelegten Gedankenkette 'Sprache -> Buchdruck -> Software' gehören außerdem verschiedenen Begriffskategorien an.

    Sprache als Ausdrucksmittel geistiger Vorstellungen hat sich im Laufe der menschlichen Evolution fortlaufend verändert, indem neue Vorstellungen und Begriffe kreiert wurden. Neben Sprache hat der Mensch Bilder und Töne kreiert, um geistigen Inhalten Ausdruck zu verleihen. Sprachliche, bildhafte und musikalische Vorstellungen und Strukturen können nicht durch technische Mittel ersetzt werden. Sprachinhalte darzustellen ist eine andere interessante Geschichte. Um in gleichen Kategorien zu bleiben, könnte man zum Beispiel die Begriffe Hieroglyphen → Buchstaben → mathematisch Symbole gedanklich verbinden.

    Begriffe hinsichtlich der Verbreitung von Sprachinhalten durch Kommunikationssysteme gehören einer anderen Begriffskategorie an. Um in gleichen Kategorien eine historische Entwicklungskette zu konstruieren, wären zum Beispiel folgende Begriffe geeignet: Signalübertragung mittels Feuersignalen (z.B. chinesische Mauer) → Übertragung von Morse-Signalen → Verbreitung durch Bücher → sprachliche Interaktionen mittels E-Mail, Facebook oder Twitter (Computeranwendungen!).

    Den Begriff 'Software' als eine “Säule” der menschlichen Entwicklung zu betrachten, ist und bleibt ein 'gewagtes' philosophisches Unterfangen, insbesondere wenn Vorstellungen der philosophische Denkrichtung des Transhumanismus vertreten werden. Ich erachte es als einzig angemessen, den Begriff 'Software' ausschließlich für Produkte der Entwicklung von Programmen, die in Computerhardware ausgeführt werden können, zu verwenden. Technologien, die darauf zielen, genetische Programme zu verändern, mögen Software (Computeranwendungen) verwenden, die Resultate genetischer Veränderungen sind keine Softwareprodukte.

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  7. Unter einem "Informatik-Gerät" kann sich mit Sicherheit kaum jemand etwas vorstellen. FRAGE also:

    Warum definieren Sie nicht einfach: "Software ist, was man zusätzlich zur Hardware benötigt, um Daten automatisch zu verarbeiten"?

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    1. Mir geht es darum klarzumachen, dass Software ohne Hardware nichts bewirkt. Anstatt Gerät hätte ich das übliche Wort System verwenden können. Aber Systeme können auch reine Gedankengebilde sein.

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  8. Ihrer Aussage "Ein System ohne Software kann ebenso leistungsfähig sein, wie eines mit Software" kann ich nicht zustimmen, denn: Was Hardware nützlich macht, sind fest vorgegebene Regeln, nach denen sie arbeitet (genau diese Regeln nennt man Software).

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    1. Ich gehe in der Tat davon aus, dass man alle in Software realisierbaren Funktionen auch in Hardware realisieren kann. Das Umgekehrte ist nicht der Fall. Die Schnittstelle ist nicht
      vorgegeben. Sie wird nach technischen und ökonomischen Kriterein bei jedem Projekt festgelegt.

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  9. Meiner Ansicht nach könnte man auch sagen: Programme sind automatisch interpretierbare Handlungsanweisung. Hinreichend gut dokumentiert nennt man sie Software.

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    1. Diese Diskussion führe ich mit Kollegen seit etwa 30 Jahren. Ich halte (papierne) Manuale nicht für Software, rechne jedoch Datenbeschreibungen insbesondere komplexe Baumstrukturen und Indizes dazu.

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