Samstag, 30. April 2016

Mittelalter als Spiegel, mal aus muslimischer, mal aus christlicher Sicht

Zwei Bücher, die ich beide in den letzten Wochen las, versetzten mich ins Mittelalter, genau genommen ins 14. Jahrhundert. Durch den SPIEGEL wurde ich aufmerksam gemacht auf Erich Follaths Buch Jenseits aller Grenzen  ̶  Auf den Spuren des großen Abenteurers Ibn Battuta durch die Welt des Islam (2016, 529 S.). Schon lange war mir der Titel von Barbara Tuchmans Bestseller Der ferne Spiegel  ̶  Das dramatische 14. Jahrhundert (2010, 751 S.) bekannt. Das englische Original erschien bereits 1978. Es hieß A Distant Mirror: The Calamitous Fourteenth Century. Es gilt als moderner Klassiker der Geschichtsschreibung. Tuchmans Stil hat viele Nachahmer gefunden. Ein sehr bekannter ist Umberto Eco mit Der Name der Rose. Da das Buch als Teil meines eBuch-Abos zur Verfügung stand, habe ich es jetzt gelesen. Die Handelnden in beiden Büchern waren Zeitgenossen. Ich finde daher eine Gegenüberstellung sehr reizvoll. Gerade jetzt, wo der Islam oft Anlass von Sorge und Kritik ist, wirkt der Vergleich direkt beruhigend.

Islam als Religion des Fortschritts und der Völkerverbindung

Ich kannte Ibn Battuta schon lange dem Namen nach. Er hatte nicht viel später als Marco Polo eine ähnlich bemerkenswerte Reise gemacht. Das Buch von Follath erzählt nicht nur die Reise nach. Der Autor besucht einige der Orte und beschreibt die heutige Situation. Der Anlass von Ibn Battutas erster Reise war eine Wallfahrt nach Mekka. Die Strecke von Tanger, seiner Heimatstadt bis Tunis, legte er allein zurück. Das war eine äußerst unangenehme Erfahrung. Von Tunis bis Kairo schloss er sich daher einer Pilgergruppe an. Dabei bekam er das Amt des Richters (Kadi) anvertraut, weil er aus einer Familie von Richtern stammte.

Nachdem er die Großstadt Kairo lange genug genossen hatte, versuchte er allein weiterzureisen, und zwar nilaufwärts, um über das Rote Meer direkt nach Mekka zu gelangen. Das erwies sich als sein zweiter Fehler. Er musste umkehren und begab sich zunächst nach Damaskus. Hier traf er auf die Hochblüte islamischer Kultur und Wissenschaft. Regelrecht begeistert stürzte er sich in das Studium bei angesehenen Religions- und Rechtsgelehrten. Ähnlich wie heutige Studenten bemühte er sich Scheine zu sammeln, weil dies für seinen anvisierten Beruf als Richter wichtig war. Er schloss sich schließlich einer gut organisierten Gruppe an, die auf dem Landweg nach Mekka pilgerte.

Anstatt sich anschließend wieder in Richtung Maghreb zu bewegen, schloss er sich Pilgern an, die ostwärts in Richtung Bagdad reisten. Er blieb aber nicht lange in Bagdad und Nadschaf, sondern zog über Basra nach Shiraz. Es ist dies die Stadt, wo auch heute noch die berühmten Poeten Sadi und Hafiz verehrt werden. Nach einem Abstecher an den Persischen Golf (Dubai) und Ostafrika (Mombasa) reiste er schließlich wieder nach Norden. In Kleinasien verließ er das hauptsächlich von Muslimen besiedelte Gebiet und gelangte an den Hof des Kaisers in Konstantinopel. Hier übernahm er eine diplomatische Mission in die Hauptstadt des Großkhans der Goldenen Horde. Das war Sarai an der unteren Wolga. Dort traf er auf eine Tochter des oströmischen Kaisers, die zur Geburt ihres Kindes zurück nach Konstantinopel wollte. Für sie wurde ein Begleiter gesucht. Er ließ sich mit dieser diplomatischen Aufgabe höchsten Vertrauens betrauen.

Als er ohne die Prinzessin wieder zurückkam, musste er sich eine neue Aufgabe suchen. Vom da ab war es sein Ziel nach Indien zu gelangen, wo die muslimischen Herrscher den Ruf hatten, sehr großzügig gegenüber Fachleuten und Beamten zu sein, die aus der muslimischen Welt kamen. Nach einem Zwischenstopp in Samarkand, bot er sich beim Sultan von Delhi für einen lebenslangen Dienst an. Er wurde angenommen und diente sieben Jahre als Richter für die Hauptstadt Delhi.

Er hatte sich innerlich bereits losgelöst, als ihm der Sultan die Leitung einer Handelsdelegation nach Hangzhou in China anvertraute. Bei einem Schiffsunglück bei der Abfahrt von der südindischen Küste ging das Personal der Delegation mit allen Geschenken verloren, nur er überlebte. Er traute sich nicht zurück nach Delhi, sondern begab sich auf die Malediven. Auch hier war der Islam die staatstragende Religion, allerdings eine sehr primitive Form. Nach einigen Jahren organsierte er dann eigenmächtig eine Weiterreise nach China. Über Java und Sumatra gelangte er schließlich nach Hangzhou, das damals als größte Stadt der Welt und als Handelsmetropole Chinas galt. Überall in Ostasien traf Ibn Battuta auf muslimische Händler. In Hangzhou lebten sie in einen Stadtteil zusammen. Auch Juden und Christen verfügten über je einen eigenen Stadtbezirk.

Bei der Rückreise erlebte er das Wüten der Pestepidemie. Sie war gleichzeitig in mehreren Ländern ausgebrochen. Er kam über Sardinien nach Spanien, wo die Muslime sich auf dem Rückzug befanden. Nur Granada war noch in ihren Händen. Er kehrte schließlich nach Marokko zurück und unternahm von dort noch eine Sahara-Reise. Schließlich überzeugte ihn der Emir von Fez seine früheren Reisen zu dokumentieren. Das Buch bekam den Titel Die Reise (arabisch Rihla). Alle Jahreszahlen sind der beigefügten Tabelle zu entnehmen.



Europa im Streit zwischen Papst, Fürsten und Bürgern

Das Bild, das Barbara Tuchman vom mittelalterlichen Europa zeichnet, kann kaum negativer sein. Ihr Held ist ein Adeliger aus der nordfranzösischen Picardie. Das ist die Gegend um Soisson und Laon. Er hieß Enguerrand VII. von Coucy (im Folgenden kurz Coucy genannt). Zwei langanhaltende Auseinandersetzungen bestimmten die Epoche. Es war einmal der Hundertjährige Krieg zwischen England und Frankreich, andererseits das päpstliche Schisma, eine Zeit, in der zwei Linien von Päpsten sich um die Führung des christlichen Europas stritten. Als ob das nicht schon genug wäre, gab es noch Aufstände von Bauern und Bürgern und die Pestepidemie, die alle Volksschichten gleichermaßen traf.

Der Hundertjährige Krieg erhielt diesen Namen einige Hundert Jahre später von Historikern. Alles begann mit Eleonore von Aquitanien (1122-1204), die in erster Ehe den französischen König Ludwig VII. und in zweiter Ehe Heinrich Plantagenet heiratete, der dann als Heinrich II. englischer König wurde. Daraus leiteten die späteren englischen Könige nicht nur ein Recht auf Aquitanien ab, sondern erhoben auch Anspruch auf den französischen Königsthron. Als Philipp VI. aus dem Hause Valois französischer König wurde, wurde dies von Eduard III. von England angefochten.

Mit Eduards Einfall in Nordfrankreich begann eine nicht enden wollende Folge von kriegerischen Auseinandersetzungen, in denen mal die Engländer, mal die Franzosen die treibende Kraft waren. Historisch bedeutend, und in vielfacher Hinsicht interessant, ist die Schlacht von Crécy (an der Somme), bei der Philipp VI. von Frankreich eine katastrophale Niederlage erlitt. [Auch in meiner Geschichte des Hauses Luxemburg spielt sie eine große Rolle.] Diese wurde fast noch übertroffen, 10 Jahre später, durch die Niederlage von Poitiers, bei der der französische König Johann II. in englische Gefangenschaft geriet. Hier setzt die Geschichte von Coucy ein, der als 15-Jähriger an dieser Schlacht teilgenommen hatte.

Coucy gehörte zu den 50 Geiseln, die Frankreich außer einem Lösungsgeld stellen musste, um den König freizubekommen. Der sechsjährige Aufenthalt hatte für Coucy die angenehme Nebenwirkung, dass er eine Tochter Eduard III. als Frau mit nach Hause nahm. Seine Loyalität galt fortan sowohl England wie Frankreich, da er auf beiden Seiten des Kanals Grundbesitz und Adelstitel besaß.

Im Auftrag des französischen Königs kämpfte Coucy zunächst auf Seiten des Papstes in Oberitalien. Bald darauf führte er einen Haufen von vagabundierenden Kämpfern ins Elsass und in den Aargau, um Habsburg zu schaden. Dort lernte er jedoch die Stärke der schweizerischen Landkrieger kennen. Nachdem ihn seine Frau verlassen hatte und allein nach England zurückgekehrt war, entschied sich Coucy auf seine englischen Titel und Besitztümer zu verzichten. Er wollte nur noch der französischen Sache dienen. Er eroberte die Normandie für Frankreich und beteiligte sich an der Niederschlagung von Bürgeraufständen im flandrischen Gent und in Paris. Nach dem Tod seiner englischen Frau heiratete er eine Tochter des Grafen von Lothringen. Ein geplanter Feldzug zur Eroberung Englands kam nicht zustande, weil der Herzog von Berry sich dafür nicht interessierte. Seine Kunstsammlungen hatten Vorrang. König Karl VI. verbrachte die letzten Jahre seines Lebens im Wahnsinn.

Auf Wunsch genuesischer Kaufleute beteiligt sich Coucy an einer Strafexpedition an die tunesische Küste. Sie galt den Franzosen als Abenteuer mit religiösem Vorwand, als Mini-Kreuzzug. Sie wurde nach neun Wochen beendet. Beide Seiten sahen sich als Sieger. Schließlich bat Kaiser Sigismund Frankreich um Unterstützung gegen das Vordringen der Osmanen auf dem Balkan. Als die Belagerer der bulgarischen Festung Nikopol (an der unteren Donau) von einem türkischen Entsatzheer geschlagen wurden, war Coucy unter den Gefangenen, für die Lösegeld verlangt wurde anstatt sie zu töten. Nach einem wochenlangen Fußmarsch nach Gallipoli an den Dardanellen wurde er vier Monate später nach Bursa verlegt. Dort macht er sein Testament und starb im Alter von 57 Jahren. Sein einbalsamierter Leichnam wurde nach Frankreich gebracht. Die Burg von Coucy, die als eine der imposantesten in ganz Frankreich galt, wurde 1917 auf Befehl von Erich von Ludendorff gesprengt.

Glaubens- und Kirchenspaltungen

Bereits 1304 hatte der französische König Philipp IV. den Papst dazu gezwungen, seinen Amtssitz nach Avignon zu verlegen. Er wollte ihn nicht der Willkür italienischer Städte-Politik überlassen. Mit Hilfe des Papstes gelang es ihm, den wie ein Staat im Staat auftretenden Templerorden zu verbieten und dessen Vermögen zu konfiszieren. Als die italienischen Kardinäle einen eigenen Papst wählten, spaltete dies das westliche Christentum. Der Zustand wurde auch abendländisches Schisma genannt und endete 1418 mit dem Konzil von Konstanz. Die beiden Päpste versuchten durch Ämterverkauf (Simonie) ihre Einkünfte zu verbessern und übertrumpften sich im Luxus. Hinter Urban VI. stand ein Teil der italienischen Städte, sowie der deutsche Kaiser und der englische König. Die Unterstützung Klemens V. beschränkte sich auf den französischen König und seine Vasallen. Parallel dazu trat in England mit John Wyclif ein früher Vorläufer Martin Luthers auf. Genau wie Luther über 100 Jahre später propagierte Wyclif die Benutzung der Bibel in der Landessprache sowie die Loslösung von Rom. Eine spezielle Ausdrucksform mittelalterlicher Hysterie war das Hexenwesen. Seine Verfolgung war vielerorts Sache der Kirche (Inquisition).

Ibn Battuta war von Herkunft und Ausbildung her ein Anhänger der sunnitischen Glaubensrichtung des Islams. In Nadschaf, Basra und Shiraz hatte er zwar die schiitische Richtung kennengelernt. Er sah sie teils als unbedeutenden Zweig an, teils als sehr der Kunst und den Freuden des Lebens zugewandt (besonders in Shiraz).

Pest als gemeinsames Schicksal

Sowohl Coucy wie Battuta erlebten den Ausbruch der Pest, durch die in Städten wie Kairo, Paris und Florenz bis zu einem Drittel der Bevölkerung hingerafft wurde. Ihr erstes Auftauchen in Europa war auf einem genuesischen Schiff im Hafen von Messina, das von der Krim kam. Sie verbreitete sich über ganz Europa, mit der Ausnahme von Böhmen und Russland. Die Wissenschaftler der Universität Paris sahen die Ursache in der Konstellation von Saturn, Jupiter und Mars. Das Volk glaubte an den Zorn Gottes. Nur der Arzt von Papst Klemens VI. schien die richtige Vermutung zu haben. Er riet dazu sich immer zwischen zwei Feuern aufzuhalten (was unter anderem Ratten und Flöhe abhielt, die ja viel später als Wirtstiere identifiziert wurden).

Aufgrund der offensichtlichen Ohnmacht der Mächtigen und sogar der Kirche verbreiteten sich große Sorgen und Ängste bezüglich der Zukunft der Menschheit. Im Abendland suchte man die Schuld bei den weit verzweigt lebenden jüdischen Gemeinden. Es kam zu den grausamsten Pogromen, so in Narbonne, Carcassonne, Basel, Worms, Mainz und Erfurt. Eine andere Folge war ein Auswuchs von Todeskult gemischt mit Lebensgenuss und pervertiertem Luxus. Es scheint, dass in der muslimische Welt das Pendel weniger extrem ausschlug als auf christlicher Seite.

Auflösung der Gesellschaft, Brigantentum

Die Pariser Kaufleute und Handwerker forderten immer mehr Rechte vom König und hatten Erfolg. Als Nachwehen der englischen Angriffe machten sich räuberische Banden breit, so genannte Kompanien, meist bestehend aus Engländern und Gasconen. Dieses Brigantentum erstreckte sich von der Kanalküste bis in die Provence. Das Königreich sei aus den Fugen, schrieb ein Jean de Venette (einen Ausdruck benutzend den Shakespeares Hamlet später berühmt machte). Chaos habe obsiegt, die Ordnung verschwinde. Papst Urban VI. erließ eine Bulle gegen das Brigantentum, allerdings in Italien. Hier kämpfte der Engländer John Hawkwood als Landknechtshauptmann (it. condottieri) für italienische Stadtstaaten, mal diesen, mal jenen.

Die Bauern (in Frankreich ‚villaines‘ oder ‚jaques‘ genannt) waren fast alle Leibeigene. Viele lebten unter einer Armutsgrenze, die durch den Besitz eines eigenen Pfluges (daher Pfluggrenze) definiert wurde. Einer der ersten Aufstände (Jaquerie genannt) erfolgte in der Picardie (in Soisson, Laon und Senlis). Diese richteten sich gegen Adel und Klerus, nicht jedoch gegen den König. Sie wurden alle blutig niedergeschlagen. Ihre Anführer wurden qualvoll getötet.

Kriegerischer Zusammenstöße der Religionen

Coucy erlebte auch die kriegerische Form des Zusammenstoßes der beiden Religionen. War es an der Küste von Tunis noch ein ritterliches Abenteuer, kostete ihn der Einsatz auf dem Balkan schließlich das Leben. Ibn Battuta blieben diese Erfahrungen erspart.

Die militärischen Misserfolge der französischen Ritter hatten teils technische, teils organisatorische Gründe. Die Engländer besaßen mit ihren Langbögen eine Waffe, die bezüglich Treffgenauigkeit, Reichweite (250 m) und Schussfrequenz (10 Pfeile pro Minute) den genueser Armbrustschützen, die in französischen Diensten standen, hoch überlegen war. Viel schädlicher noch war die Arroganz französischer Ritter, die es nicht zuließ, dass Gemeine eine die Schlacht entscheidende Funktion bekleideten. Im Mann-zu-Mann-Kampf mit Genter Bürgern spielte dies keine Rolle. Jedoch gegenüber den Truppen des osmanischen Sultans bei Nikopol war es entscheidend.

PS. Nach dieser Lektüre ließe sich noch sehr viel über das Mittelalter sagen. Es würde aber zu weit führen.

Nachbetrachtung vom 2.5.2016

Mein Freund und Ex-Kollege Calvin Arnason (aus Portland, Oregon) bemerkte, dass er eigentlich mit einem 'zusammenfassenden Kommentar' von mir zum eigenen Text gerechnet hätte. Ich meinte durch die Gegenüberstellung der beiden Bücher schon genug Anlass zum Reflektieren gegeben zu haben. Eine Nachbetrachtung soll also her. Wieso können beide Bücher einen fernen Spiegel darstellen für unsere heutige Zeit? So frage ich mich. Wir wissen ja, wie es in der Geschichte weiter ging. Hier also ein paar Gedanken, die manchem Leser etwas weit hergeholt erscheinen mögen.

Aus europäischer Sicht war das 14. Jahrhundert wirklich ein unglückseliges, ja unheilvolles Jahrhundert (engl. a calamitous century), nicht nur ein dramatisches. Die römische Kultur hatte sich einige Jahrhunderte lang von England bis Tunesien und Persien erstreckt. Sie wurde durch die Germanen während der Völkerwanderungszeit zerstört. Die Franken unter Karl dem Großen legten um 800 eine neue Basis für das westliche Europa, die das Christentum integrierte. Danach trat man intellektuell so ziemlich auf der Stelle, wenn wir von einzelnen Koryphäen wie Gerbert d'Aurillac, Thomas von Aquin, Dante und Petrarca absehen. Wir finden im 14. Jahrhundert eine vollkommen erstarrte Gesellschaft vor, in der die fränkische Oberschicht, also der Adel, sich Macht und Gewaltmonopol gesichert hatte. Die Kirche wurde im Sinne des Adels instrumentalisiert. Ihre völkerübergreifende religiöse Aufgabe trat in den Hintergrund. Eine starke geistige Elite war nicht erkennbar. Adel, Kirche und Volk begannen sich zu reiben. Dazu kam die Pest als großer Schock. Sie erschütterte die Grundgewissheiten von Gesellschaft und Religion. Der kommende Umbruch der Gesellschaft deutete sich an. Wo es hinführte, zeigte sich allerdings erst einige Hundert Jahre später, zuerst bei der Reformation Calvins und Luthers, dann bei der amerikanischen Unabhängigkeit und danach bei der Französischen Revolution. Damit begann Europa (inkl. der USA) sich vom Rest der Welt abzusondern. Dank Wissenschaft und Technik, Demokratie, Laizismus und Individualismus verbunden mit Breitenbildung erschlossen wir uns, was wir heute die Neuzeit nennen.

Auch auf muslimischer Seite lagen die kulturellen Höhepunkte bereits Jahrhunderte zurück. Um 900 glänzte Bagdad, um 1000 Cordoba und Toledo. Man befasste sich dort unter anderem mit griechischer Philosophie und Mathematik. Dank arabischer Vermittlung kam das griechische Gedankengut nach Europa. Das war unsere Renaissance. In der islamischen Welt blieben die gesellschaftlichen und religiösen Strukturen und Gewissheiten intakt. Nur die militärischen Expansionen der Osmanen spielten eine Rolle. Nicht die Aufklärung erfasste das Geistesleben, sondern eine romantische Wendung nach Innen, mit Sufis und Derwischen (Dass Ibn Battuta hierfür besonders empfänglich war, hatte ich verschwiegen). Die Gesellschaft erstarrte. Die Muslime blieben mehr oder weniger in einer mittelalterlichen Gesellschaft gefangen. Aus heutiger Sicht erweist sich dies als großer Nachteil. Deshalb hat die muslimische Welt heute einige Probleme im Vergleich zu Europa (inkl. den USA), ja sogar zu China und Japan sowie anderen Regionen mit sich wechselnder Kultur. 

Mittwoch, 20. April 2016

Neuer Schwung für Europa (Europa 5.0) ̶ Appell der Banker

Nachdem ich mich zuletzt mit den generellen sozialen und wirtschaftlichen Gegebenheiten der Welt auseinandergesetzt habe, wie sie Thomas Piketty beschreibt, will ich mich jetzt der unmittelbaren Zukunft des alten Europas zuwenden. Leiten lasse ich mich dabei von dem Buch Europa 5.0   ̶  Ein Geschäftsmodell für unseren Kontinent (2016, 264 S.) der drei Banker Luc Frieden, Nicolaus Heinen und Stephan Leithner. Frieden war von 1999 bis 2012 luxemburgischer Justiz- bzw. Finanzminister. Er ist zurzeit Präsident der Deutschen Bank Luxemburg. Heinen ist bei der Linde AG in München tätig und war vorher bei der Deutschen Bank. Leithner ist seit März 2016 Partner der Investmentfirma EQT in München und war vorher ebenfalls bei der Deutschen Bank in Frankfurt. Auch hierbei muss ich einiges Grundwissen voraussetzen. Dieses Mal ist es eher betriebswirtschaftlicher Art.

Was ist ein Geschäftsmodell?

Ein Geschäftsmodell (engl. business model) beschreibt die Art und Weise, mit der ein  Unternehmen Gewinne erwirtschaftet. Unternehmen ohne tragfähiges Geschäftsmodell haben keine Chance im Markt zu bestehen. Als innovativ gelten diejenigen Unternehmen, die ein Geschäftsmodell verwenden, das bisher noch nicht von anderen Unternehmen verwandt wurde. Hat jemand Erfolg mit einem bestimmten Geschäftsmodell treten Nachahmer auf den Plan. Sie haben nur dann eine Chance zu überleben, wenn sie sich mit wesentlich weniger Gewinn zufrieden geben als der Innovator. Alle Unternehmen, die in den letzten Jahrzehnten neu in den Markt eintraten und Erfolg hatten, hatten ein neues Geschäftsmodell, etwa Google, Amazon und Facebook. Eng verwandt ist der Begriff Geschäftsstrategie. Dabei liegt das Augenmerk darauf, wie sich ein Unternehmen im Verhältnis zur Konkurrenz abgrenzen und einen nachhaltigen Wettbewerbsvorteil erarbeiten will. Das muss keinen Einfluss auf das Geschäftsmodell haben, kann es aber. Schließlich gibt es noch den Begriff Geschäftsplan. Ein Geschäftsplan ist die Instantiierung eines Geschäftsmodells  ̶  um es in Informatikersprache auszudrücken. Es werden die Annahmen beschrieben, wie in einem konkreten Falle vorgegangen werden soll.

Ein Grund, warum die Autoren keines der beiden letzten Wörter benutzen, liegt an dem Beigeschmack, den sie haben. Ein Plan ist bürokratisch und sozialistisch. Bert Brecht schrieb schon ‚mach dann noch 'nen zweiten Plan, gehn tun sie beide nicht.‘ Eine Strategie hat immer etwas hinterhältig Geheimes an sich. Das Wort Modell erinnert an Innovation, Abstraktion und Künstlertum, außerdem an gut aussehende junge Frauen.

Anwendung des Begriffs Geschäftsmodell auf Europa

Es bedarf einiger Anstrengung, will man auf Europa den Begriff Geschäftsmodell anwenden. Gemeint ist natürlich nicht der Kontinent Europa, sondern die Staatengemeinschaft namens Europäische Union (EU).  Diese ist wieder zu unterscheiden von den 19 EU-Mitgliedern, die die Eurozone bilden. Neben der geografischen Abgrenzung muss klargestellt sein, dass man Europa nicht allein nach betriebswirtschaftlichen Kriterien beurteilen kann. Finanzieller Gewinn ist keine politische Größe. Gemeint ist eine positive Bilanz, was Stabilität, Wirtschaftskraft, Lebensqualität und Zufriedenheit der Bevölkerung betrifft. Sicherheit vor externer Bedrohung, vor Unterwanderung und staatlicher Auflösung sind darin enthalten. Nachhaltigkeit im Umwelt- und Ressourcenverbrauch mag darüber hinausgehen.

Will man Leser oder Hörer auf sich aufmerksam machen, verkündet man heute den Ausbruch einer Revolution. Da es laufend neue Revolutionen gibt, besonders auf technischen Gebiet, werden sie durchnummeriert. Gerade hatten wir erst das Internet 2.0. dann kam Industrie 4.0, die – wie Peter Mertens meint –  ja eigentlich CIM 3.1 heißen müsste. Jetzt haben drei Banker den  Begriff Europa 5.0 erfunden. Wie sie sagen, haben sie schon mit der Namensgebung etwas Essentielles zu etwas beigetragen, von dem wir alle großen Nutzen haben werden. Nur zur Erklärung: Europa 3.0 war die Osterweiterung, Europa 4.0 die Einführung des Euro.

Das Buch ist mehr von seinem Bemühen her zu begrüßen als von den vorgetragenen Ideen. Es will Mut machen. Manche Dinge sind umständlich dargestellt oder werden ‚durch die Blume‘ gesagt. Da man kaum jemandem zumuten kann, drei Bankern stundenlang zuzuhören, will ich ihre wesentlichen Aussagen in Umgangssprache übersetzen und kommentieren. Das von den Autoren propagierte Geschäftsmodell für Europa 5.0  ̶  man könnte es auch genauso gut als Strategie bezeichnen  ̶  beruht auf den drei Säulen Exportorientierung, Nutzung des gemeinsamen Markts und private Vermögensbildung.

Säule 1: Exportorientierung betonen

Nach Gerhard Schröders mutiger Agenda 2010 hat sich die deutsche Wirtschaft zum Musterknaben in Europa entwickelt. Selbst der schwäbische Familienbetrieb ist in China tätig. Sie gelangten dorthin im Gefolge von Weltkonzernen wie Daimler und Bosch, einige gingen aber auch auf eigene Faust. Die Lufthansa fliegt ja täglich hin. Wenn alle Deutschen bereits eine Bohrmaschine oder Motorsäge haben, warum versuchen wir es nicht bei Chinesen. Diese können ja in US-Dollar zahlen, was fast so gut ist wie in Euro.

Die Autoren scheinen zu glauben, dass diese Strategie auch von Spaniern, Griechen, Polen und Rumänen unverändert verfolgt werden kann. Ich habe große Bedenken, dass dies möglich und sinnvoll ist. Einen Ruf für gute Ingenieurarbeit lässt sich nur über Generationen aufbauen. Warum soll Rumänien, Griechenland und Zypern Autos bauen? Für Griechen wäre es einfacher sich auf das Bauen von Luxusyachten zu spezialisieren, oder auf sonst etwas, was andere Leute haben möchten. Bei den Franzosen sind es Atomreaktoren, Arzneimittel, Wein und Parfum. Übrigens muss man beim Export nicht an Industriegüter allein denken. So ist Deutschland heute Europas größter Exporteur für Fleisch und Butter. Warum können Hühnerfabriken und Großschlächtereien nicht ebenso so gut in Polen oder im Baltikum sein als in Nord- und Ostdeutschland?

Mir widerstrebt auch die Meinung, dass Wachstum nur im Export zu suchen ist. Wirtschaftliche Nachfrage gibt es da, wo es Kaufkraft gibt. Diese entsteht, wo es Arbeitsplätze gibt. Dafür bedarf es wettbewerbsfähiger Unternehmen, also Unternehmen, die entweder neue Produkte oder Dienste anbieten, oder bekannte Produkte und Dienste zu günstigeren Bedingungen. Einschränkend gilt für Europa, dass eine alternde Bevölkerung weniger bzw. eine andere Nachfrage generiert als eine junge Bevölkerung. Es müssen dann andere Produkte und Dienste angeboten werden, was Innovationen erforderlich macht. Mit anderen Worten: Der Markt für Senioren ist ein anderer als der für Jugendliche und Familiengründer.

Säule 2: Gemeisamen Markt nutzen

Die Autoren sind der Meinung, dass die Möglichkeiten, die der gemeinsame europäische Markt bietet, noch bei Weitem nicht ausgenutzt sind. Wieso klagt die deutsche Wirtschaft dauernd über Fachkräftemangel und in Südeuropa herrscht eine hohe Jugendarbeitslosigkeit, sogar in technischen Berufen (den so genannten MINT-Fächern)? Es gibt zwar ein Erasmus-Programm für Studierende, aber nicht für Arbeitssuchende. Dabei verschlingt die Agrarförderung das 130-fache des heutigen Erasmus-Programms. Auch die duale Ausbildung ließe sich in Südeuropa einführen. Die von der EU eingeführte ‚Blue card‘ wurde 2012 nur 16.000 Mal genutzt, und zwar zu 85% in Deutschland.

Anstatt Leute zur Arbeit sollte auch vermehrt Arbeit zu Menschen gebracht werden. So scheint ganz Ungarn und Rumänien zur verlängerten Werkbank der deutschen Autoindustrie geworden zu sein – was sich allerdings nachteilig in der Überfüllung süddeutscher Autobahnen bemerkbar macht. Als Musterbeispiel eines europäischen Firmenzusammenschlusses gilt der Airbus (früher EADS). Aus früheren nationalen Herstellern ist ein Global Player hervorgegangen. Dieselbe Form der Bündelung sei in vielen Märkten denkbar, etwa bei der Telekommunikation, der Kosmetik und der Luxusmode. Die Firmen müssen Global Player sein wollen. Anstatt selbst dieses Potential zu nutzen, schimpfen wir lieber auf US-Firmen, die in ein EU-Land gehen, um von dort aus den ganzen EU-Markt zu bedienen. Sie wählen das Land, in dem die Bedingungen optimal sind und nutzen die Vorteile voll aus, im Gegensatz zu lokalen Firmen. Nachahmenswerte Beispiele aus jüngster Zeit seien die Erwerbung des Kartendienstes Here durch die drei Konkurrenten Audi, BMW und Daimler, oder SEPA (Single European Payment Area) eine gemeinsame Clearingstelle europäischer Banken.

Dass kleine Länder, in denen selbst keine großen Unternehmen beheimatet sind, wie Irland und Luxemburg, sich auf europaweite Dienstleistungen konzentrieren, wird ihnen geradezu übel genommen, besonders dann wenn sie mittels niedriger Steuern konkurrieren. Auch die Wissenschafts- und Forschungskooperation ließe sich verbessern. Über 70% der Forschung würde von Unternehmen mit mehr als 500 Mitarbeitern durchgeführt. Die Klein- und Mittelunternehmen (KMU), von denen bekanntlich viele Innovationen stammen, seien unterrepräsentiert. Die universitäre Forschung, über die sehr viel geredet wird, hat wirtschaftlich nur eine beschränkte Bedeutung. Die Einbindung der Wirtschaft sei in Deutschland besonders erfolgreich im Falle der Fraunhofer-Gesellschaft. Ihr Budget bestehe zu 60% aus Auftragsforschung. Aus einer solchen Kooperation mit der Firma Thompson entstammte bekanntlich die Erfindung von MP3. Auch Firmengründungen aus Hochschulen heraus müssten verstärkt gefördert werden.

Säule 3: Privates Vermögen über Kapitalmarkt bilden

Es überrascht nicht, dass Banker dafür plädieren, dass mehr privates Vermögen gebildet wird. Wichtiger als Wohlstand zu verteilen, sei es ihn zu vermehren. Eine neue Investitionskultur für Europa sei erforderlich. Der Kapitalstock Europas, also das Bruttoanlagenvermögen, sei seit 2008 gesunken, und zwar um 14% (von 2,6 auf 2,3 Bio. €). Europa investiere weniger als der Durchschnitt der OECD-Länder.

Das durchschnittliche private Vermögen in Europa betrage 230k Euro. Der Median liege bei 109k Euro. Das ist eine andere Ausdrucksform der von Piketty betonten Ungleichheit. In einer kürzlich veröffentlichten EZB-Studie wurde nachgewiesen, dass das durchschnittliche Vermögen in Zypern (670 k€) drei Mal so hoch sei wie in Deutschland (195 k€). Als Anlageform liegen Immobilien an erster Stelle, gefolgt von  geldwertigem Besitz und Aktien. Bei der Altersversorgung überwiege die staatliche Rente, gefolgt von betrieblicher Absicherung. Die private kapital-basierte Versorgung stecke noch in den Kinderschuhen. Die Niedrigzins-Politik der EZB behindere die Vermögensbildung der Bevölkerung. Als Folge davon hinterfragten immer mehr Bürger den Sinn der europäischen Integration. Da die Masse der Sparer betroffen sei, sei eine Zinserhöhung dringend nötig.

Eigentlich hat die EZB die ‚historische‘ Chance, das Volk der Sparer umzuerziehen, weg von Sparbüchern und Versicherungen, hin zu Immobilien und Aktien. Wie Piketty es ausdrückt, wäre das eine reifere Form der Kapitalbildung und entspräche mehr den Vorlieben anderer Länder. Sie ist deutschen Sparern nicht zumutbar, wenn man der CSU glaubt. Übrigens übergeben dort gerade die Merkel-Basher den Stab an die Draghi-Basher. Auch der Zugang zum Kapitalmarkt müsse für Unternehmen erleichtert werden (zum Beispiel durch Absenken der hohen Prospektkosten). Darauf näher einzugehen, erspar ich mir.

Was sonst noch getan werden könnte oder müsste

Eine einheitliche Körperschaftssteuer für ganz Europa wäre zu begrüßen. Aus den TTIP-Verhandlungen werden große Vorteile erwartet (400k zusätzliche Arbeitsplätze). Die Digitalisierung müsse als Chance für die Industrie wahrgenommen werden. Sie dürfe nicht wie der Internet-Boom verschlafen werden. Sie helfe dabei weniger ortsgebunden zu sein. Im Internet-Ausbau liege Europa hinter Südkorea, aber vor den USA. Spitzenreiter in Europa sei Dänemark. Der stationäre Einzelhandel sei auf dem Rückzug. Amazon habe 22,5 Mio. Besucher pro Monat in Deutschland, eBay 21 Mio. Auch das Internet der Dinge habe vor allem für die Industrie ein großes Potential. Ein paneuropäischer Zukunftskonvent könnte für das notwendige Momentum sorgen und das Selbstbewusstsein steigern.

Es ist offensichtlich, dass hier durch eine zwar rosarote, aber den Blick stark verengende Brille auf die Welt gesehen wird. Es gibt weder ein Flüchtlingsproblem noch die Klimaveränderung. Wird alles auf Euro oder Dollar reduziert, treten viele Dinge in den Hintergrund, mit denen sich Politiker, Wissenschaftler und andere tagaus-tagein befassen. Nicht nur deshalb erscheint es mir, dass uns die Vorschläge der drei Autoren nicht allzu viel weiterbringen werden. Dass ihre Botschaft aller Voraussicht nach verpufft, ist nicht weiter schlimm.

Dienstag, 12. April 2016

Verteilung von Einkommen und Vermögen, eine ökonomisch-soziale Analyse von Thomas Piketty

Nur wenige Bücher europäischer Autoren haben in den letzten Jahren ein ähnliches Aufsehen erregt wie der französische Ökonom Thomas Piketty (*1971) mit Das Kapital im 21. Jahrhundert (2014, 816 S.). Der Titel erinnert bewusst an den Klassiker von Karl Marx. Ich musste mich  ̶  nicht nur der Länge wegen  ̶  durch das Buch durchkämpfen. Die sozialistische Grundeinstellung des Autors ist nicht zu übersehen. Franzosen  ̶  so dachte ich mir  ̶   die ja selbst während des kalten Krieges zu einem Drittel dem Kommunismus die Treue hielten, haben diese Grundhaltung durch die Muttermilch eingesogen. Ihnen entging der Anschauungsunterricht, den wir Deutsche in Form der DDR genossen. Er könne zwar persönlich dem Kommunismus nichts abgewinnen, meint Piketty, und fände auch Ungleichheit vertretbar, falls sie vom ‚allgemeinem Nutzen begründet' sei. Bei dieser vagen Aussage bleibt es. Meine Motivation, das Buch zu lesen, kam durch meine Beschäftigung mit Franz Josef Rademacher.

Volkswirtschaftliche Grundbegriffe

Trotz seiner Beschränkungen kann ich Piketty als Einführung in die Volkswirtschaftslehre sehr empfehlen. Er bringt klare und nützliche Definitionen aller wichtigen Begriffe. So ist Einkommen der geldwertige Betrag, den eine Person, ein Unternehmen oder ein Staat im Laufe eines Zeitabschnitts wie z.B. einem Jahr hinzugewinnt. Einkommen kann erzielt werden durch wirtschaftliche Aktivitäten in der Gegenwart, verkürzend als Erwerbsarbeit bezeichnet, als auch durch Zinsrendite des in früheren Zeiten angesammelten Vermögens. Es ist eine Strom- oder Flussgröße. Demgegenüber ist Vermögen oder Kapital ein zu einem bestimmten Zeitpunkt angesammelter Betrag, also eine Bestandsgröße. Vermögen kann bestehen aus Immobilien, Beteiligungen oder geldwertigem Besitz. Für Volkswirte sind Vermögen und Kapital dasselbe. Da in der Umgangssprache Kapital meist nur den für Investitionen benutzten Teil des Vermögens bezeichnet, gebe ich hier dem Wort Vermögen den Vorzug.

Spreizung der Einkommen

Für mich ist Differenzierung etwas Gutes. Von Gleichmacherei lässt sich das nicht unbedingt sagen. Mir taten 1987 die Chinesen leid, die alle in der gleichen blauen Uniform die Straßen bevölkerten. Heute sind wieder Unterschiede erlaubt, nicht nur in der Kleidung, auch im Einkommen. Statt Spreizung spricht Piketty durchweg von Verteilung. Das Ideal vieler Ökonomen scheint die weitgehende Gleichverteilung zu sein, ein Rechteck und nicht eine wie immer geartete Kurve. Eine bekannte Kurve ist die Glockenkurve, auch Gauß-Verteilung genannt. Sie hat eine Spitze und einen Schwanz. Ihre Höhe und ihre Steigung kann viele Werte annehmen. Wird von Mindestlohn gesprochen, dann werden Ausläufer beschnitten. Die Höhe der Kurve legt fest, welche Ausreißer nach oben zugelassen sind.

Dass eine Verteilung vorkommt, wird von den meisten Menschen akzeptiert, außer von streng-gläubigen Kommunisten. Ob dabei eine Treppenkurve oder eine  Glockenkurve zugrunde gelegt wird, und welches Aussehen sie hat, ist Gegenstand von Verhandlungen. Werden diese für ganze Berufsgruppen gemeinsam geführt, spricht man von Tarifverhandlungen. Ganz entscheidend ist, nach welchen Kriterien die Einstufung erfolgt. Üblich ist das Leistungsprinzip, wie es in der freien Wirtschaft gebräuchlich ist, oder auch das Senioritätsprinzip (etwa im öffentlichen Dienst). Da es manchmal schwierig ist, die Leistung eines Mitarbeiters zu bewerten, schlug einst einer meiner Kollegen die Bezahlung nach Körpergewicht vor. Sein Vorschlag hatte allerdings keine Chance. Der Vorschlagende wog nämlich 100 Kilo.

Arbeitslöhne oder Gehälter abhängig Beschäftigter stehen auch bei Piketty im Vordergrund. Dabei ist das ein Sonderfall, vor allem im Hinblick auf die Zukunft. Jeder der Produkte erzeugt oder Dienste anbietet, für die andere Leute bereit sind zu zahlen, erzeugt Einkommen. Es mag Prämie, Honorar, Tantieme, Lizenz oder  Gewinn heißen. Niemand scheint zu fordern, dass auch diese Einkommensarten alle die gleiche Höhe haben sollen.

Obwohl von Mängeln behaftet, wird das Einkommen eines Landes meistens als Bruttoinlandsprodukt (BIP) gemessen. Im Vergleich der Länder schwankt es zwischen 150 und 3000 Euro pro Monat und Einwohner. An der Spitze liegen reiche Länder wie die USA und die der EU. Zu den ärmsten gehören afrikanische Länder und Bangladesch. Indien und China liegen bei 600-700 Euro.

Spreizung von Vermögen

Vermögen ist der Saldo von Guthaben und Schulden zu einem gegebenen Zeitpunkt. Als Guthaben zählen Immobilienbesitz, Wertgegenstände (Kunstobjekte, Schmuck, Edelmetall) und Unternehmensbeteiligungen. Gewerbliches Vermögen umfasst unter anderem Maschinen, Patente und Knowhow. Wegen der üblichen hohen Verschuldung (siehe unten) tendiert staatliches Vermögen in der freien Welt gegen Null. Das meiste Vermögen (ungefähr 95%) ist im Privatbesitz. Manche Aktiva sind schwer zu bewerten. Bei Vermögensbesitz ist die Ungleichheit im Allgemeinen größer als bei Arbeitseinkommen. Bei geringem Wirtschaftswachstum gewinnt ererbtes Vermögen größeren Einfluss.



Interessant ist auch die Sparquote, also die Umwandlung von Einkommen in Vermögen. Sie beträgt in Italien und Japan 15% des Nationaleinkommens, in Deutschland und Frankreich 12%, in den USA und England 7-8%. Zu beachten ist, dass bei höherem Einkommen eine niedrigere Sparquote denselben Betrag an Vermögen schafft. Auch kann Vermögen durch sich selbst vermehrt (rekapitalisiert) werden. Ab einer gewissen Höhe kann dies schneller erfolgen als die Löhne wachsen. Für mich überraschend war, dass es aus volkswirtschaftlicher Sicht ein fast konstantes Verhältnis zwischen Einkommen und Vermögen gibt. In Mitteleuropa beträgt es 1:6. In Italien beträgt es 1:7, in den USA 1:3. Der tiefere Grund für die relative Konstanz dieser Zahl und für die bestehenden Unterschiede entging mir.

Historische und regionale Entwicklung

Der Kern des Buches besteht darin, die weltweite Entwicklung von Einkommen und Vermögen über die Zeit von 1900 bis 2010 aus globaler Sicht zu untersuchen. Dabei bemüht sich der Autor möglichst gut belegte Daten zu verwenden. Diese sind je nach Zeit und Region von sehr unterschiedlicher Qualität und oft sehr lückenhaft. Notgedrungen konzentriert der Autor sich auf die am besten dokumentierten Wirtschaftsräume. Das sind Frankreich, England und die USA. Das übrige Europa (Deutschland, Schweden, Italien) und Japan werden nur sporadisch mit herangezogen.

Piketty beginnt mit der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg (1900-1914). Für England und Frankreich ist noch die Struktur einer Kolonialmacht bestimmend. Die USA sind das Gegenbeispiel. Hier herrschen fast moderne Verhältnisse. Während in Europa das Vermögen sehr stark konzentriert ist, ist es in den USA sehr verteilt. Das Gleiche gilt für die Einkommen. Mit dem ersten Weltkrieg beginnt ein Umschwung. In seinem Gefolge ergreift die Weltwirtschaftskrise Europa und Amerika. Der sich anschließende Zweite Weltkrieg bewirkt, dass der Wohlstand wie der Kapitalismus als Wirtschaftsform einen tiefen Einbruch erleiden. Der Schock von 1914-1945 hat in Europa die dort vorherrschende Ungleichheit in Einkommen und Vermögen zunächst abgebaut. Die Kriege machten eine Art von Tabula rasa. In Frankreich gingen vor allem die Kapitaleinkommen zurück. Bei den Lohneinkommen blieb die Verteilung fast gleich.




Nach dem Zweiten Weltkrieg kam es zu einer Wiederherstellung des Kapitalismus, allerdings mit einer anderen Art von Vermögen und anderen Ungleichheiten. Die Einkommen des oberen Dezils, d.h. der oberen 10%, stiegen seit 1970, vor allem in USA und England. In den USA steigen seit 1996 vor allem die Spitzengehälter stark an. Wie in der obigen Tabelle wiedergegeben, bezieht in den USA im Jahre 2010 das obere 1% der Bevölkerung rund 20% des Einkommens. In Schweden sind dies 4%, in Frankreich 9% und in Deutschland 11% des Einkommens. Der Durchschnitt der Lohneinkommen ist weniger gestiegen.

Bei den oberen 10% besteht das Einkommen sowohl aus Arbeits- wie aus Kapitaleinkommen. Je weiter man nach oben kommt, umso größer wird der Anteil der Kapitaleinkünfte. Heute überwiegt das Einkommen aus Vermögen nur bei den oberen 0,1%. Signifikant wird es erst ab 0,01% der Bevölkerung. Die extrem hohen Einkommen von Schauspielern, Spitzensportlern und Spitzen-Managern gingen zwar von den USA aus, sind aber kein rein amerikanisches Phänomen. In den USA wurden sie erst möglich nach der Senkung des Spitzensteuersatzes in den 1980er Jahren. Dieser betrug nach der 1930er Krise über 80% und wurde zuletzt von George W. Bush auf 36% gesenkt. Nur 20% der Supereinkommen stammten aus dem Finanzsektor. Bei Managern ergebe sich ein hoher Anteil aus Aktien-Optionen.



In Europa erreichte das Vermögen um 2000 herum wieder den Stand von 1914 und steigt seither schneller an als die Einkommen. Bestand früher Vermögen vorwiegend in der Form von Grundbesitz und Staatsobligationen, treten heute Wohnungen und Industrieinvestitionen an ihre Stelle. Auch die Spreizung, also die Ungleichheit der Verteilung, hat zugenommen, mit erheblichen Differenzen zwischen den Ländern. Neu ist auch die Konzentration in Erdölländern und Steueroasen. Nicht nur in Russland, überall auf der Welt wird Staatsvermögen an Private transferiert. Nach Piketty hat sich in den USA das obere 1% der Einkommen 60% des Wachstums der letzten 20 Jahre ‚unter den Nagel gerissen‘. Der Mittelstand verschuldete sich, was dann die Krise von 2008 verursachte.

Dass die USA für eine staatlich betriebene Umverteilung von Einkommen und Vermögen weniger leicht zu gewinnen sind als wir Europäer, führt Piketty darauf zurück, dass die Mehrzahl der Einwanderer aus Ländern kamen, in denen die Einkommens- und Vermögens-Verteilung (noch) schlechter war als in den USA. Die USA habe immer noch den Ruf einer Meritogratie, einer Gesellschaft, die persönliche Leistungen verlange und fördere.

Verdienter oder ererbter Reichtum

Im Allgemeinen wird Reichtum, den jemand durch seine eigene Lebensleistung erworben hat, weniger kritisch behandelt als ererbter Reichtum. Daher bestand sowohl in den USA wie in England bis 1980 eine hohe Erbschaftssteuer. Auch sie musste als Teil der ‚konservativen Revolution‘ weichen. In Deutschland gehört sie ins Repertoire linker Wahlprogramme.

Piketty befasst sich ausführlich mit zwei aktuellen Beispielen: Bill Gates (*1955) und Liliane Bettencourt (*1922). Bei Gates könnte man sagen, er habe die Computer-Maus erfunden. Bei der L‘Oréal-Erbin könne man Dergleichen nicht behaupten. Bei beiden hat sich das Vermögen in den letzten 20 Jahren verzehnfacht. Nebenbei sei bemerkt, dass Piketty völlig daneben liegt, wenn er versucht den Grund für Bill Gates‘ Reichtum anzugeben. Gates hat nicht die Computer-Maus erfunden. Das taten andere. Er hat stattdessen eine ganze Industriebranche neu geschaffen, nämlich die von Rechnerherstellern unabhängige Software-Industrie.

Aufgaben des Staats und seine Grenzen

Bei Staat denken wir primär an den Nationalstaat. Beispiele sind die USA und Deutschland, aber auch Luxemburg und die Schweiz, sogar Liechtenstein und Andorra. Die allgemeine Rechtfertig erfährt der Staat als Instanz, die Aufgaben übernehmen kann, die einen Einzelnen überfordern. Er ersetzt in mancher Hinsicht, was die Familie oder die Sippe in älteren Gesellschaften bewirkten. Er kann auch über diverse Hierarchiestufen in Erscheinung treten, sei es als Gemeinde, als Region oder als Bundesland. Deshalb sprechen wir lieber von der öffentlichen Hand. Sie muss nicht alles von staatlichen Angestellten tun lassen, sondern es reicht, wenn die Kosten möglichst breit verteilt werden. Dazu dienen normalerweise Steuern.

Aufgaben, die dem Staat schon sehr früh zufielen, sind Rechtsprechung, öffentliche Sicherheit und Verteidigung, obwohl es auch dazu heute noch private Angebote gibt. Inzwischen ist der Staat auch in Aufgaben vorgestoßen wie Bildung, Gesundheitspflege, Kultur- und Wirtschaftsförderung sowie Lohnersatz und Einkommenstransfer. Vor allem die so genannten sozialen Leistungen führten zu einer Konkurrenz, im doppelten Sinne. Hohe Steuern lockten die Empfänger von Transferleistungen an, gleichzeitig schreckten sie die potentiellen Steuerzahler ab.



An der Frage, wie der (sehr einflussreiche) Staat sich finanziert, scheiden sich oft die Geister. Anstatt Steuern zu zahlen, ziehen viele es vor, dem Staat Geld zu leihen. Solange der Staat dafür Zinsen zahlt, führt dies zu einer Vermehrung des Privatvermögens. Das ist bei Italienern und Griechen offensichtlich beliebt. Staaten bilden in der Regel kein Vermögen (von sozialistischen Staaten abgesehen). Das tun nur Private. Es gibt kaum einen Staat, der nicht Schulden bildet und aufhäuft, da überall Bürger nur ungern Steuern zahlen.

In der Krise von 2008 haben Staaten die Verschuldung oder den Konkurs privater Unternehmen verhindert, indem sie sich selbst stärker verschuldeten. Sowohl in Europa wie in den USA wachsen seither die Staatsschulden, obwohl die Bürger des jeweiligen Landes immer reicher werden. Die Banken in Südeuropa wiederum halten Schuldscheine der Staaten, die sich 2008 überschuldet haben, um Banken und andere Unternehmen zu retten. In Griechenland ist dies am auffallendsten. Seine reichen Bürger kaufen lieber Staatsbesitz zu Schleuderpreisen, als dass sie ihre Steuern zahlen. Der einzige Ausweg, den ein Staat hat, um aus dem Dilemma zu entkommen, ist die Inflation. Die ist aber unpopulär (siehe unten).

Rolle der Zentralbanken

Zwei Zentralbanken stehen heute im Blickpunkt, die Fed und die EZB. Ihre primäre Aufgabe ist es, Liquidität zu schaffen. Sie müssen – koste es, was es wolle – eine Deflation verhindern. Diese Schlussfolgerung zog Milton Friedman (1912-2006) nach seiner Analyse der Wirtschaftskrise von 1930. Wir brauchen keinen Sozialstaat, sondern nur eine gute Fed‘ so wird er zitiert.

Durch die Kreditvergabe der Zentralbanken ändert sich nicht das Vermögen der Erdbewohner. Sie müssen neues Geld in Umlauf bringen in dem Maße wie die Wirtschaft wächst, aber erst recht, wenn sie schrumpft. Das ist nicht leicht zu verstehen. Die EZB vergibt inzwischen auch längerfristige Kredite, und sogar an Staaten. Damit überschreitet sie zwar ihren Auftrag. Sie tut dies jedoch, weil sie schneller reagieren kann als ein Staat Steuern erhöhen kann, von der EU ganz zu schweigen. Piketty beschreibt eine Welt, in der angesammeltes Geld, also Vermögen, ohne Arbeit Erträge erzielen kann, weil die Zinsen immer deutlich höher Null (etwa 5%) sind. Welchen volkswirtschaftlichen Effekt die lang anhaltende Niedrigzinspolitik aller Zentralbanken hat, darüber lässt sich Piketty nicht aus.

In puncto Inflation sind Deutsche gebrannte Kinder. Die übrige Welt hat mehr Angst vor einer Deflation. Während der Deflation 1929 - 1935 wurden in Frankreich die Industriegehälter um 50% gesenkt, und die der Beamten um 20%. Das änderte sich erst 1935, als der Sozialist Leon Blum Löhne und Inflation steigen ließ. Eine Inflation trifft nur die, die mit ihrem Geld nichts anzufangen wissen  ̶  so sieht es Piketty. Hätten sie ihre Ersparnisse in Immobilien oder Aktien angelegt, wäre deren Wert erhalten geblieben. Inflation schadet allen Leuten, die ihr Geld auf Bankkonten lassen oder es unter dem Kopfkissen aufbewahren.

Mangel an Transparenz

Nicht nur den Wissenschaftler Piketty bekümmert es, dass es sehr schwer ist, an alle gewünschten Daten zu kommen, was Einkommen und Vermögen anbetrifft. Manchmal sind entsprechende Statistiken einfach nicht erstellt worden. Besonders schlecht ist die Situation, was Privatpersonen und Privatvermögen betrifft. Die Listen, wie sie das Forbes-Magazin veröffentlicht, umfassen nur einige Hundert Namen. Sie erwecken einen völlig falschen Eindruck. Will man das oberste Prozent der US-Personen verfolgen, handelt es sich um 2,5 Millionen Menschen; selbst in Deutschland sind es 800.000.

Besonders erschwert wird die Analyse, weil zu viel Geld in Steueroasen versteckt gehalten wird. Pikettys Schüler Gabriel Zucman schätzt, dass etwa 10% des weltweiten BIPs  (von 70k Mrd. Euro) sich in Steueroasen befindet. Es stamme vorwiegend aus den reichen Ländern. Das weltweite Vermögen schätzen Piketty und seine Mitarbeiter übrigens auf 340k Mrd. Euro. Soll demokratische Kontrolle über Einkommen und Vermögen ausgeübt werden, so bedarf es in erster Linie mehr Information. Piketty selbst glaubt, bessere Daten zu haben als andere vor ihm. Auch die US-Behörden waren sehr erfolgreich, seit sie mit Zwangsauskünften von Banken an Daten kamen, die ihnen die Regierungen der Schweiz oder Luxemburgs vorenthielten. Wer heute eine Art Gesamtrechnung macht  so überspitzt es Piketty – muss davon ausgehen, dass die Erde Schulden beim Mars hat.

Eine rühmliche Ausnahme bilden die privaten amerikanischen Universitäts-Stiftungen. Etwa 800 Universitäten verwalten Fonds. Vier von ihnen, nämlich Harvard, Yale, Princeton und Stanford besitzen je über 15 Mrd. US-Dollar. Ihre Rendite ist höher als 10% im Jahr. Selbst kleinere Fonds erwirtschaften über 6%. Sie alle legen offen, wie sie ihre Erträge zustande bringen. Ein weiteres positives Beispiel ist der Norwegische Staatsfond. Weniger offen sind die Staatsfonds arabischer Ölförderländer.

Lösung durch eine neue Steuer

Eigentlich müsste das Buch interessant werden, wenn es nach der seitenlangen Analyse zu konstruktiven Vorschlägen übergeht. Die Vorschläge blitzen zwar schon zwischendurch hin und wieder kurz auf. Am Schluss wird Piketty etwas ausführlicher. Seine Lösung heißt progressive internationale Kapitalsteuer. Sie ähnelt der Finanztransaktionssteuer und hat dieselben Probleme. Der eingenommene Betrag sei weniger wichtig als der Zugewinn an Kontrolle und Transparenz. Sie erzwinge den Datenaustausch und gestatte eine Regulierung. Sein Vorschlag sei aber nicht mehr als nur eine nützliche Utopie. Außerdem bräuchten wir ein Parlament für die Eurozone. Das könnte dann eine Vereinheitlichung der Körperschaftssteuer durchsetzen.

Ökonomen über Ökonomen

Dass Piketty sich seinen Fachkollegen, besonders den US-Ökonomen, gegenüber kritisch äußert, ist für Einige von uns eine Wohltat. Die Wirtschaftswissenschaftler in den USA hätten eine ‚kindliche Vorliebe für Mathematik‘. Ihnen seien Modelle wichtiger als Empirie. Die Wirtschaftswissenschaften hätten sich nie von den Sozialwissenschaften abkoppeln dürfen. Pikettys Traum ist eine politische Ökonomie, die sich als Teil der Sozialwissenschaften versteht. Politik sei allgegenwärtig. Man könne politische und ökonomische Entwicklung nicht trennen. Hier liegen die Parallelen zu Rademachers Denken auf der Hand. Nur geht Radermacher noch mehr in die Breite. Man muss sich damit abfinden, dass Pikettys Welt ein Zentrum besitzt, bestehend aus Frankreich, England und den USA. Diese Länder haben einigen Newcomers voraus, dass sie über ältere Institutionen verfügen. Die Deutschen und die Japaner werden es verkraften. Für Putin und die chinesischen Führer könnte der Autor ein Ärgernis sein.

PS: Drei der Grafiken in diesem Beitrag entstammen Pikettys Buch. Wie die meisten der etwa 30 Grafiken enthalten sie mehr Information als hier oder im Buch besprochen wird.

Dienstag, 5. April 2016

Welt (nicht) ohne Hoffnung oder Radermachers Traum

Franz Josef Radermacher (* 1950) ist Professor für Informatik an der Universität Ulm und Leiter des Forschungsinstituts für anwendungsorientierte Wissensverarbeitung. (FAW). Er wurde sowohl als Mathematiker wie als Ökonom ausgebildet. Wie bei vielen andern Kollegen aus der Anfangszeit des Faches reichte diese Qualifizierung aus für die Berufung auf einen Informatik-Lehrstuhl (Teilgebiet Künstliche Intelligenz). Bekannt geworden ist Radermacher weniger als Informatiker denn für sein Eintreten für eine weltweite Ökosoziale Marktwirtschaft und durch sein Engagement in der Initiative Globaler Marshall-Plan.

Überblick über Veröffentlichungen

In mehreren Büchern und populär-wissenschaftlichen Veröffentlichungen stellte er in den letzten 10-15 Jahren immer wieder seine weltwirtschaftlichen und weltpolitischen Ideen vor. Youtube ist voll mit Vorträgen von ihm. Es ist keine Frage, dass diese Themen für uns heutige Menschen mehr Brisanz enthalten als alles, was Informatik und Künstliche Intelligenz zu bieten haben. Ich kenne Franz Josef Radermacher schon seit über 30 Jahren persönlich. Ich finde seine Ausführungen beachtenswert. Seine Ausdauer und sein leidenschaftliches Engagement verdienen Anerkennung.

Ich hörte mir in den letzten Tagen zwei seiner Vorträge an, die sieben Jahre auseinanderlagen. Er hatte beide Male etwa eine ganze Stunde Zeit für einen geschlossenen Vortrag und eine weitere Stunde für die Beantwortung von Fragen. Die Zuhörerinnen und Zuhörer waren vorwiegend Studierende und Professoren. Im Folgenden werde ich einige seiner Ideen herausgreifen.

Vortrag 2007 in Karlsruhe

Der Vortrag von 2007 hatte den Titel Nachhaltigkeit und Globalisierung. Rademacher forderte, dass bei der Nachhaltigkeit vier Dimensionen berücksichtigt werden müssten: die wirtschaftliche, soziale, ökologische und politische. In ökologischer und wirtschaftlicher Hinsicht lebe die Menschheit derzeit mit einem Fußabdruck von 1,2 Globen, d.h. jede Generation verbrauche mehr als die Erde an Ressourcen liefern und an Abfällen verkraften kann. Das ist nicht nachhaltig. Dass diese Zahl so niedrig ist, verdanken wir den armen Ländern. Für Deutsche sind es vier, für US-Amerikaner sind es neun Globen.

Das ist bei grob einer Milliarde Reichen und fünf Milliarden Armen. Da die Weltbevölkerung noch weiter wächst, benötigen wir aus politischen Gründen ein Programm für 10 Milliarden Reiche, da es sonst Migrationswellen und Unruhen gibt. Bei Ressourcen und Abfall kann nur der technische Fortschritt helfen, also Ingenieure. Wie in der Vergangenheit müssen Ingenieure auch in Zukunft die Nutzung vorhandener Ressourcen verbessern und/oder neue erschließen. Mehr als von der Sonne verspricht sich Radermacher von der Erdwärme. Dafür muss man allerdings 15 km tief bohren. Wie Jacques Neirynck [1] beschrieb, erzielten Ingenieure nie einen Durchbruch ohne einen Rebound-Effekt, auf Deutsch Bumerang. Sie lösten ein Problem, schufen aber gleichzeitig ein neues.

Deshalb erfordert der Fortschritt eine Steuerung, auch ‚Governance‘ genannt. Sie ordnet die Dinge so, dass 10 Mrd. Menschen gut leben können, und dies für den Globus erträglich bleibt. Man muss den technischen Fortschritt optimieren. Das politische Ziel muss sein, Chinesen, Inder und Bangladescher reich werden zu lassen.

Möglich ist das Ganze nur vermittels komplexer Systeme. Dadurch kommen Gehirne ins Spiel. Laut Feststellung der Herrhausen-Stiftung kostet die Ausbildung eines mittleren deutschen Gehirns 150k Euro. Wer dieses Geld nicht investieren will, erhält eine gespaltene Gesellschaft. Ein Beispiel ist Brasilien. Dort hält man sich Arme zum Samba-Tanzen und zum Kaffee-Servieren. Bildung allein reicht allerdings nicht. Es muss auch eine Infrastruktur aufgebaut werden. Dazu gehören Verkehrswege, Gesetze, Polizisten und Juristen. Die EU hat dies berücksichtigt, indem sie nur neue Mitglieder aufnahm, die nachwiesen, dass sie eine Infrastruktur haben oder aufzubauen im Begriff sind. Da in der EU arme Länder schneller wachsen als reiche, wird Deutschland dank der EU relativ ärmer.

Auf den Weltmaßstab bezogen müssen fast 180 von 191 Ländern dasselbe tun. Entsprechende Absichtserklärungen gibt es viele. Sie reichen aber nicht. An die Stelle einer Ethik der Worte muss eine Ethik der Taten treten. Es gibt drei mögliche Lösungen des Problems, das die Menschheit konfrontiert, nämlich Kollaps, Spaltung (wie in Brasilien) oder Ausgleich (wie in der EU). Er selbst gäbe der dritten Lösung eine Chance von 35%. Seine Hoffnung ruhe auf Angela Merkel und der G8. Das bevorstehende Treffen (in Heiligendamm) könne bereits die Wende bringen.

Vortrag 2014 in Waidhofen an der Ybbs

Radermacher hielt den Hauptvortrag der Tagung Wirtschaft 2050. Wir wissen inzwischen, dass wir die Umwelt durch fossile Energien zerstören. Die Kernenergie erwies sich nicht als Lösung des Problems. Wir müssen weiter suchen. Noch hungern 1/7 der Erdbevölkerung. Das ist zwar ein relativer Fortschritt; aber in absoluten Zahlen ist dies schlimm. Es fehlen nicht die Nahrungsmittel. Die Landwirtschaft und die Lebensmittelindustrie sind produktiver denn je. Es fehlt den Armen und Hungernden an Kaufkraft. Auch das wäre zu lösen, und zwar durch Umverteilung. Dagegen sträuben sich die reichsten 1% der Menschheit.

Es gäbe heute keinen Streit um die optimale Wirtschaftsordnung mehr. Der Sozialismus ist eklatant gescheitert. Nur der Kapitalismus fördert den technischen Fortschritt und schafft Wohlstand. Wir müssen allerdings Teilaspekte verändern. Das Geschäft der Banken muss bessere Regeln bekommen. Die Finanztransaktions-Steuer muss her. Derzeit stemmen sich die USA und UK noch dagegen. Die Steueroasen müssen ausgetrocknet werden. Von Gabriel Zucman [3] stammt der Vorschlag durch Eigentumskataster das Verstecken von Eigentum zu verhindern. Die USA fanden, dass sie gegen einzelne schweizerische Banken durchgreifen konnten, obwohl der schweizerische Staat sich querlegte. In Deutschland hat der Kauf einer einzelnen CD bewirkt, dass Tausende ihre Steuerschuld meldeten oder aber ihr Konto auf die Cayman-Inseln oder nach Singapur verlagerten.

Radermacher hob die Übereinstimmung mit Josef Riegler, einem Politiker der ÖVP, hervor. Ihr gemeinsames Projekt ist die Ökosoziale Marktwirtschaft. International läuft das Ganze unter der Bezeichnung ‚green and inclusive‘. Die Mitglieder des Club of Rome gäben der Option Ausgleich kaum noch eine Chance. Er selbst glaube noch daran mit 35%er Wahrscheinlichkeit (d.h. genau wie vor sieben Jahren). Es wäre Zeit für eine Weltinnenpolitik. Viele Gremien agierten bereits in diesem Sinne, nicht aber IWF und Weltbank.

Die Ausbildungskosten für ein deutsches Gehirn gibt er mit 200k Euro an (vor sieben Jahren gab er 150k an). Es sei gut, dass bei uns der Staat diese Kosten wieder stärker übernehme. Das sei ein großer Vorteil gegenüber den USA, wo die Familien mit hohen Kosten für die Ausbildung der Kinder belastet sind. Außer Bildung ist die Infrastruktur entscheidend. Länder wie Deutschland, Österreich und die Schweiz sind in dieser Hinsicht 100 Mal besser als Bangladesch. Darin steckt eine enorme Wertschöpfung. Sie ist das Werk von Generationen.

Die Weltwirtschaft ist kein Nullsummenspiel. Durch Innovationen wird das Spielfeld laufend verändert und erweitert. Deshalb müssen wir die Innovatoren belohnen. Der Erfinder des Penizillins hat niemandem etwas weggenommen, aber vielen geholfen. Die Entwicklungsländer können mit weniger Kosten modernisieren als die Pioniere. Sie müssen keine Tonnen von Kupfer vergraben, um telefonieren zu können (engl. leapfrogging).

Die Initiative mit dem Namen Globaler Marshall Plan hat das Problem, dass im Gegensatz zum Nachkriegs-Deutschland mit Geld allein die anvisierten Ziele nicht zu erreichen sind. In Deutschland gab es qualifizierte Menschen, zwar zerstörte, aber erschlossene Verkehrswege und ein relativ intaktes Rechtssystem. Was fehlte, war mit Geld und Mut machen zu lösen. Das ist in den meisten Ländern Afrikas, Asiens und Südamerikas nicht der Fall. Radermachers Hoffnung ruht dieses Mal auf der bevorstehenden Weltklima-Konferenz in Paris. Inzwischen würden auch massive Hilfen diskutiert, die der reiche Norden dem armen Süden gewähren müsse, also Transfers von Wohlstand. Im Vortrag empfahl Rademacher drei Bücher [1..3], alle von französischen Autoren. Auf Piketty werde ich möglicherweise zurückkommen.

Bilanz I : Ökologie und Wirtschaft

Die Weltklimapolitik hat uns allen ein Wechselbad der Gefühle bereitet. Welche Beschlüsse die G8 2007 fasste, ist mir entfallen. Aus der G8 wurde eine G7, die sich letztes Jahr wieder in Deutschland traf, dieses Mal im bayrischen Elmau. Statt mit Strandkörben entstanden Bilder mit alpiner Bergkulisse im Hintergrund. Angela Merkel hielt auch das Thema Umwelt warm. Nicht so leicht vergessen wird man die Weltklima-Konferenz 2009 in Kopenhagen. Sie verursachte eine große Enttäuschung. Bei der UN-Klimakonferenz 2015 in Paris (der 21. ihrer Art) verdiente sich die französische Tagungsleitung einen historischen Anerkennungserfolg. Es gibt einen Vertrag, den die teilnehmenden Länder ratifizieren dürfen. Darin sind zumindest Versprechen enthalten. Dass dem auch Taten folgen werden, ist zu hoffen.

Bilanz II: Politik und Soziales

Die Welt kennt neue Kriege (Ukraine, Syrien) und ein nie dagewesenes Flüchtlingsproblem. Es gibt weitere zerfallende Staaten (engl. failed states). Neben Somalia gehört jetzt auch Libyen dazu. Es sieht fast so aus, als ob es jedes Jahr mehr statt weniger werden. In Anbetracht dieser Entwicklung kommt mir Radermacher fast wie ein Missionar und Heilsprediger vor. Misserfolge scheinen ihn nicht zu entmutigen. Die drei Szenarien, auf die nach seiner Meinung die Entwicklung der Welt politisch und sozial hinausläuft, nennt er Kollaps, Spaltung und Ausgleich. Exemplarisch werden sie durch die Osterinsel, Brasilien und die EU repräsentiert. Mir entgeht, warum er auch noch nach sieben Jahren die Chancen für den Ausgleich als unverändert ansieht. Wer heute noch die EU als Ideal für die Welt hinstellt, dem muss man Realitätssinn absprechen. Anders herum: Wer sich nur von Wunschdenken leiten lässt, läuft Gefahr als Träumer oder Nachtwandler zu enden.  Das wäre schade, nicht nur für Radermacher, sondern auch für uns und alle nachfolgenden Generationen der Menschheit. Kritisch zu sein ist oft leichter als es nicht zu sein. Wer die Hoffnung aufgibt, gibt sich selbst auf.

Referenzen
  1. Jacques Neirynck: Der göttliche Ingenieur, 1998
  2. Thomas Piketty: Das Kapital im 21. Jahrhundert, 2014
  3. Gabriel Zucman: Steueroasen, 2014