Mittwoch, 20. April 2016

Neuer Schwung für Europa (Europa 5.0) ̶ Appell der Banker

Nachdem ich mich zuletzt mit den generellen sozialen und wirtschaftlichen Gegebenheiten der Welt auseinandergesetzt habe, wie sie Thomas Piketty beschreibt, will ich mich jetzt der unmittelbaren Zukunft des alten Europas zuwenden. Leiten lasse ich mich dabei von dem Buch Europa 5.0   ̶  Ein Geschäftsmodell für unseren Kontinent (2016, 264 S.) der drei Banker Luc Frieden, Nicolaus Heinen und Stephan Leithner. Frieden war von 1999 bis 2012 luxemburgischer Justiz- bzw. Finanzminister. Er ist zurzeit Präsident der Deutschen Bank Luxemburg. Heinen ist bei der Linde AG in München tätig und war vorher bei der Deutschen Bank. Leithner ist seit März 2016 Partner der Investmentfirma EQT in München und war vorher ebenfalls bei der Deutschen Bank in Frankfurt. Auch hierbei muss ich einiges Grundwissen voraussetzen. Dieses Mal ist es eher betriebswirtschaftlicher Art.

Was ist ein Geschäftsmodell?

Ein Geschäftsmodell (engl. business model) beschreibt die Art und Weise, mit der ein  Unternehmen Gewinne erwirtschaftet. Unternehmen ohne tragfähiges Geschäftsmodell haben keine Chance im Markt zu bestehen. Als innovativ gelten diejenigen Unternehmen, die ein Geschäftsmodell verwenden, das bisher noch nicht von anderen Unternehmen verwandt wurde. Hat jemand Erfolg mit einem bestimmten Geschäftsmodell treten Nachahmer auf den Plan. Sie haben nur dann eine Chance zu überleben, wenn sie sich mit wesentlich weniger Gewinn zufrieden geben als der Innovator. Alle Unternehmen, die in den letzten Jahrzehnten neu in den Markt eintraten und Erfolg hatten, hatten ein neues Geschäftsmodell, etwa Google, Amazon und Facebook. Eng verwandt ist der Begriff Geschäftsstrategie. Dabei liegt das Augenmerk darauf, wie sich ein Unternehmen im Verhältnis zur Konkurrenz abgrenzen und einen nachhaltigen Wettbewerbsvorteil erarbeiten will. Das muss keinen Einfluss auf das Geschäftsmodell haben, kann es aber. Schließlich gibt es noch den Begriff Geschäftsplan. Ein Geschäftsplan ist die Instantiierung eines Geschäftsmodells  ̶  um es in Informatikersprache auszudrücken. Es werden die Annahmen beschrieben, wie in einem konkreten Falle vorgegangen werden soll.

Ein Grund, warum die Autoren keines der beiden letzten Wörter benutzen, liegt an dem Beigeschmack, den sie haben. Ein Plan ist bürokratisch und sozialistisch. Bert Brecht schrieb schon ‚mach dann noch 'nen zweiten Plan, gehn tun sie beide nicht.‘ Eine Strategie hat immer etwas hinterhältig Geheimes an sich. Das Wort Modell erinnert an Innovation, Abstraktion und Künstlertum, außerdem an gut aussehende junge Frauen.

Anwendung des Begriffs Geschäftsmodell auf Europa

Es bedarf einiger Anstrengung, will man auf Europa den Begriff Geschäftsmodell anwenden. Gemeint ist natürlich nicht der Kontinent Europa, sondern die Staatengemeinschaft namens Europäische Union (EU).  Diese ist wieder zu unterscheiden von den 19 EU-Mitgliedern, die die Eurozone bilden. Neben der geografischen Abgrenzung muss klargestellt sein, dass man Europa nicht allein nach betriebswirtschaftlichen Kriterien beurteilen kann. Finanzieller Gewinn ist keine politische Größe. Gemeint ist eine positive Bilanz, was Stabilität, Wirtschaftskraft, Lebensqualität und Zufriedenheit der Bevölkerung betrifft. Sicherheit vor externer Bedrohung, vor Unterwanderung und staatlicher Auflösung sind darin enthalten. Nachhaltigkeit im Umwelt- und Ressourcenverbrauch mag darüber hinausgehen.

Will man Leser oder Hörer auf sich aufmerksam machen, verkündet man heute den Ausbruch einer Revolution. Da es laufend neue Revolutionen gibt, besonders auf technischen Gebiet, werden sie durchnummeriert. Gerade hatten wir erst das Internet 2.0. dann kam Industrie 4.0, die – wie Peter Mertens meint –  ja eigentlich CIM 3.1 heißen müsste. Jetzt haben drei Banker den  Begriff Europa 5.0 erfunden. Wie sie sagen, haben sie schon mit der Namensgebung etwas Essentielles zu etwas beigetragen, von dem wir alle großen Nutzen haben werden. Nur zur Erklärung: Europa 3.0 war die Osterweiterung, Europa 4.0 die Einführung des Euro.

Das Buch ist mehr von seinem Bemühen her zu begrüßen als von den vorgetragenen Ideen. Es will Mut machen. Manche Dinge sind umständlich dargestellt oder werden ‚durch die Blume‘ gesagt. Da man kaum jemandem zumuten kann, drei Bankern stundenlang zuzuhören, will ich ihre wesentlichen Aussagen in Umgangssprache übersetzen und kommentieren. Das von den Autoren propagierte Geschäftsmodell für Europa 5.0  ̶  man könnte es auch genauso gut als Strategie bezeichnen  ̶  beruht auf den drei Säulen Exportorientierung, Nutzung des gemeinsamen Markts und private Vermögensbildung.

Säule 1: Exportorientierung betonen

Nach Gerhard Schröders mutiger Agenda 2010 hat sich die deutsche Wirtschaft zum Musterknaben in Europa entwickelt. Selbst der schwäbische Familienbetrieb ist in China tätig. Sie gelangten dorthin im Gefolge von Weltkonzernen wie Daimler und Bosch, einige gingen aber auch auf eigene Faust. Die Lufthansa fliegt ja täglich hin. Wenn alle Deutschen bereits eine Bohrmaschine oder Motorsäge haben, warum versuchen wir es nicht bei Chinesen. Diese können ja in US-Dollar zahlen, was fast so gut ist wie in Euro.

Die Autoren scheinen zu glauben, dass diese Strategie auch von Spaniern, Griechen, Polen und Rumänen unverändert verfolgt werden kann. Ich habe große Bedenken, dass dies möglich und sinnvoll ist. Einen Ruf für gute Ingenieurarbeit lässt sich nur über Generationen aufbauen. Warum soll Rumänien, Griechenland und Zypern Autos bauen? Für Griechen wäre es einfacher sich auf das Bauen von Luxusyachten zu spezialisieren, oder auf sonst etwas, was andere Leute haben möchten. Bei den Franzosen sind es Atomreaktoren, Arzneimittel, Wein und Parfum. Übrigens muss man beim Export nicht an Industriegüter allein denken. So ist Deutschland heute Europas größter Exporteur für Fleisch und Butter. Warum können Hühnerfabriken und Großschlächtereien nicht ebenso so gut in Polen oder im Baltikum sein als in Nord- und Ostdeutschland?

Mir widerstrebt auch die Meinung, dass Wachstum nur im Export zu suchen ist. Wirtschaftliche Nachfrage gibt es da, wo es Kaufkraft gibt. Diese entsteht, wo es Arbeitsplätze gibt. Dafür bedarf es wettbewerbsfähiger Unternehmen, also Unternehmen, die entweder neue Produkte oder Dienste anbieten, oder bekannte Produkte und Dienste zu günstigeren Bedingungen. Einschränkend gilt für Europa, dass eine alternde Bevölkerung weniger bzw. eine andere Nachfrage generiert als eine junge Bevölkerung. Es müssen dann andere Produkte und Dienste angeboten werden, was Innovationen erforderlich macht. Mit anderen Worten: Der Markt für Senioren ist ein anderer als der für Jugendliche und Familiengründer.

Säule 2: Gemeisamen Markt nutzen

Die Autoren sind der Meinung, dass die Möglichkeiten, die der gemeinsame europäische Markt bietet, noch bei Weitem nicht ausgenutzt sind. Wieso klagt die deutsche Wirtschaft dauernd über Fachkräftemangel und in Südeuropa herrscht eine hohe Jugendarbeitslosigkeit, sogar in technischen Berufen (den so genannten MINT-Fächern)? Es gibt zwar ein Erasmus-Programm für Studierende, aber nicht für Arbeitssuchende. Dabei verschlingt die Agrarförderung das 130-fache des heutigen Erasmus-Programms. Auch die duale Ausbildung ließe sich in Südeuropa einführen. Die von der EU eingeführte ‚Blue card‘ wurde 2012 nur 16.000 Mal genutzt, und zwar zu 85% in Deutschland.

Anstatt Leute zur Arbeit sollte auch vermehrt Arbeit zu Menschen gebracht werden. So scheint ganz Ungarn und Rumänien zur verlängerten Werkbank der deutschen Autoindustrie geworden zu sein – was sich allerdings nachteilig in der Überfüllung süddeutscher Autobahnen bemerkbar macht. Als Musterbeispiel eines europäischen Firmenzusammenschlusses gilt der Airbus (früher EADS). Aus früheren nationalen Herstellern ist ein Global Player hervorgegangen. Dieselbe Form der Bündelung sei in vielen Märkten denkbar, etwa bei der Telekommunikation, der Kosmetik und der Luxusmode. Die Firmen müssen Global Player sein wollen. Anstatt selbst dieses Potential zu nutzen, schimpfen wir lieber auf US-Firmen, die in ein EU-Land gehen, um von dort aus den ganzen EU-Markt zu bedienen. Sie wählen das Land, in dem die Bedingungen optimal sind und nutzen die Vorteile voll aus, im Gegensatz zu lokalen Firmen. Nachahmenswerte Beispiele aus jüngster Zeit seien die Erwerbung des Kartendienstes Here durch die drei Konkurrenten Audi, BMW und Daimler, oder SEPA (Single European Payment Area) eine gemeinsame Clearingstelle europäischer Banken.

Dass kleine Länder, in denen selbst keine großen Unternehmen beheimatet sind, wie Irland und Luxemburg, sich auf europaweite Dienstleistungen konzentrieren, wird ihnen geradezu übel genommen, besonders dann wenn sie mittels niedriger Steuern konkurrieren. Auch die Wissenschafts- und Forschungskooperation ließe sich verbessern. Über 70% der Forschung würde von Unternehmen mit mehr als 500 Mitarbeitern durchgeführt. Die Klein- und Mittelunternehmen (KMU), von denen bekanntlich viele Innovationen stammen, seien unterrepräsentiert. Die universitäre Forschung, über die sehr viel geredet wird, hat wirtschaftlich nur eine beschränkte Bedeutung. Die Einbindung der Wirtschaft sei in Deutschland besonders erfolgreich im Falle der Fraunhofer-Gesellschaft. Ihr Budget bestehe zu 60% aus Auftragsforschung. Aus einer solchen Kooperation mit der Firma Thompson entstammte bekanntlich die Erfindung von MP3. Auch Firmengründungen aus Hochschulen heraus müssten verstärkt gefördert werden.

Säule 3: Privates Vermögen über Kapitalmarkt bilden

Es überrascht nicht, dass Banker dafür plädieren, dass mehr privates Vermögen gebildet wird. Wichtiger als Wohlstand zu verteilen, sei es ihn zu vermehren. Eine neue Investitionskultur für Europa sei erforderlich. Der Kapitalstock Europas, also das Bruttoanlagenvermögen, sei seit 2008 gesunken, und zwar um 14% (von 2,6 auf 2,3 Bio. €). Europa investiere weniger als der Durchschnitt der OECD-Länder.

Das durchschnittliche private Vermögen in Europa betrage 230k Euro. Der Median liege bei 109k Euro. Das ist eine andere Ausdrucksform der von Piketty betonten Ungleichheit. In einer kürzlich veröffentlichten EZB-Studie wurde nachgewiesen, dass das durchschnittliche Vermögen in Zypern (670 k€) drei Mal so hoch sei wie in Deutschland (195 k€). Als Anlageform liegen Immobilien an erster Stelle, gefolgt von  geldwertigem Besitz und Aktien. Bei der Altersversorgung überwiege die staatliche Rente, gefolgt von betrieblicher Absicherung. Die private kapital-basierte Versorgung stecke noch in den Kinderschuhen. Die Niedrigzins-Politik der EZB behindere die Vermögensbildung der Bevölkerung. Als Folge davon hinterfragten immer mehr Bürger den Sinn der europäischen Integration. Da die Masse der Sparer betroffen sei, sei eine Zinserhöhung dringend nötig.

Eigentlich hat die EZB die ‚historische‘ Chance, das Volk der Sparer umzuerziehen, weg von Sparbüchern und Versicherungen, hin zu Immobilien und Aktien. Wie Piketty es ausdrückt, wäre das eine reifere Form der Kapitalbildung und entspräche mehr den Vorlieben anderer Länder. Sie ist deutschen Sparern nicht zumutbar, wenn man der CSU glaubt. Übrigens übergeben dort gerade die Merkel-Basher den Stab an die Draghi-Basher. Auch der Zugang zum Kapitalmarkt müsse für Unternehmen erleichtert werden (zum Beispiel durch Absenken der hohen Prospektkosten). Darauf näher einzugehen, erspar ich mir.

Was sonst noch getan werden könnte oder müsste

Eine einheitliche Körperschaftssteuer für ganz Europa wäre zu begrüßen. Aus den TTIP-Verhandlungen werden große Vorteile erwartet (400k zusätzliche Arbeitsplätze). Die Digitalisierung müsse als Chance für die Industrie wahrgenommen werden. Sie dürfe nicht wie der Internet-Boom verschlafen werden. Sie helfe dabei weniger ortsgebunden zu sein. Im Internet-Ausbau liege Europa hinter Südkorea, aber vor den USA. Spitzenreiter in Europa sei Dänemark. Der stationäre Einzelhandel sei auf dem Rückzug. Amazon habe 22,5 Mio. Besucher pro Monat in Deutschland, eBay 21 Mio. Auch das Internet der Dinge habe vor allem für die Industrie ein großes Potential. Ein paneuropäischer Zukunftskonvent könnte für das notwendige Momentum sorgen und das Selbstbewusstsein steigern.

Es ist offensichtlich, dass hier durch eine zwar rosarote, aber den Blick stark verengende Brille auf die Welt gesehen wird. Es gibt weder ein Flüchtlingsproblem noch die Klimaveränderung. Wird alles auf Euro oder Dollar reduziert, treten viele Dinge in den Hintergrund, mit denen sich Politiker, Wissenschaftler und andere tagaus-tagein befassen. Nicht nur deshalb erscheint es mir, dass uns die Vorschläge der drei Autoren nicht allzu viel weiterbringen werden. Dass ihre Botschaft aller Voraussicht nach verpufft, ist nicht weiter schlimm.

3 Kommentare:

  1. Otto Buchegger aus Tübingen schrieb:

    Interessanter Beitrag! Aber soll die EU weiter existieren, muss man zuerst neu definieren, was sie eigentlich ist. Die Verträge der Vergangenheit wurden alle so oft gebrochen, dass sie kein solides Fundament mehr sind.

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  2. Wenn mich Leser dafür kritisieren, dass ich einseitig Partei ergreife für technische Berufe, muss ich dies akzeptieren. Es wäre schlimm, wenn es die anderen Berufe nicht gäbe. Pauschalurteile über Gruppen liegen bekanntlich meistens daneben. Nur persönliches Verhalten und individuelle Leistung zählen.

    Es ist heute üblich geworden, das englische Wort Banker zu benutzen, wo früher das französische Bankier üblich war. Beide Bezeichnungen haben Wertverschiebungen durchlaufen, die französische nach oben, die englische nach unten

    Wo ein schlechter Ruf gerechtfertigt ist, sind vermutlich einzelne schwarze Schafe daran schuld. Gegen Skandale ist kein Beruf immun. auch keine Branche. Die Deutsche Bank, mit der die drei Autoren assoziiert sind bzw. waren, ist Branchenführer auch was Kritik betrifft.

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  3. Anbei zwei Kommentare (Süddeutsche, Spiegel) zu Obamas Besuch in Hannover:

    'Nie hat ein US-Präsident Europa so eindringlich zur Einheit aufgerufen wie Obama in Hannover. Dass selbst er Angst bekommt, zeigt, wie schlimm es um den Kontinent bestellt ist.'

    http://sz.de/1.2965496

    'Für 24 Stunden brachte Barack Obama die Weltpolitik nach Hannover. Was waren die entscheidenden Momente, was bleibt von dem Besuch des US-Präsidenten? Die Bilanz.'

    http://www.spiegel.de/politik/deutschland/barack-obama-in-hannover-ein-grosser-besucher-die-bilanz-a-1089244.html

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