Franz Josef Radermacher (* 1950) ist Professor für Informatik an der
Universität Ulm und Leiter des Forschungsinstituts für anwendungsorientierte
Wissensverarbeitung. (FAW). Er wurde sowohl als Mathematiker wie als Ökonom
ausgebildet. Wie bei vielen andern Kollegen aus der Anfangszeit des Faches reichte
diese Qualifizierung aus für die Berufung auf einen Informatik-Lehrstuhl
(Teilgebiet Künstliche Intelligenz). Bekannt geworden ist Radermacher weniger
als Informatiker denn für sein Eintreten für eine weltweite Ökosoziale
Marktwirtschaft und durch sein Engagement in der Initiative Globaler
Marshall-Plan.
Überblick über Veröffentlichungen
In mehreren Büchern und
populär-wissenschaftlichen Veröffentlichungen stellte er in den letzten 10-15
Jahren immer wieder seine weltwirtschaftlichen und weltpolitischen Ideen vor.
Youtube ist voll mit Vorträgen von ihm. Es ist keine Frage, dass diese Themen
für uns heutige Menschen mehr Brisanz enthalten als alles, was Informatik und
Künstliche Intelligenz zu bieten haben. Ich kenne Franz Josef Radermacher schon
seit über 30 Jahren persönlich. Ich finde seine Ausführungen beachtenswert. Seine
Ausdauer und sein leidenschaftliches Engagement verdienen Anerkennung.
Ich hörte mir in den letzten Tagen zwei seiner
Vorträge an, die sieben Jahre auseinanderlagen. Er hatte beide Male etwa eine
ganze Stunde Zeit für einen geschlossenen Vortrag und eine weitere Stunde für
die Beantwortung von Fragen. Die Zuhörerinnen und Zuhörer waren vorwiegend Studierende und
Professoren. Im Folgenden werde ich einige seiner Ideen herausgreifen.
Vortrag 2007 in Karlsruhe
Der Vortrag
von 2007 hatte den Titel Nachhaltigkeit und Globalisierung. Rademacher
forderte, dass bei der Nachhaltigkeit vier Dimensionen berücksichtigt werden
müssten: die wirtschaftliche, soziale, ökologische und politische. In ökologischer
und wirtschaftlicher Hinsicht lebe die Menschheit derzeit mit einem Fußabdruck von
1,2 Globen, d.h. jede Generation verbrauche mehr als die Erde an Ressourcen
liefern und an Abfällen verkraften kann. Das ist nicht nachhaltig. Dass diese
Zahl so niedrig ist, verdanken wir den armen Ländern. Für Deutsche sind es
vier, für US-Amerikaner sind es neun Globen.
Das ist bei grob einer Milliarde Reichen und
fünf Milliarden Armen. Da die Weltbevölkerung noch weiter wächst, benötigen wir
aus politischen Gründen ein Programm für 10 Milliarden Reiche, da es sonst
Migrationswellen und Unruhen gibt. Bei Ressourcen und Abfall kann nur der
technische Fortschritt helfen, also Ingenieure. Wie in der Vergangenheit müssen
Ingenieure auch in Zukunft die Nutzung vorhandener Ressourcen verbessern und/oder
neue erschließen. Mehr als von der Sonne verspricht sich Radermacher von der Erdwärme.
Dafür muss man allerdings 15 km tief bohren. Wie Jacques Neirynck [1] beschrieb,
erzielten Ingenieure nie einen Durchbruch ohne einen Rebound-Effekt, auf
Deutsch Bumerang. Sie lösten ein Problem, schufen aber gleichzeitig ein neues.
Deshalb erfordert der Fortschritt eine
Steuerung, auch ‚Governance‘ genannt.
Sie ordnet die Dinge so, dass 10 Mrd. Menschen gut leben können, und dies für den Globus erträglich bleibt. Man muss den technischen Fortschritt optimieren. Das
politische Ziel muss sein, Chinesen, Inder und Bangladescher reich werden zu
lassen.
Möglich ist das Ganze nur vermittels
komplexer Systeme. Dadurch kommen Gehirne ins Spiel. Laut Feststellung der
Herrhausen-Stiftung kostet die Ausbildung eines mittleren deutschen Gehirns 150k
Euro. Wer dieses Geld nicht investieren will, erhält eine gespaltene Gesellschaft.
Ein Beispiel ist Brasilien. Dort hält man sich Arme zum Samba-Tanzen und zum Kaffee-Servieren.
Bildung allein reicht allerdings nicht. Es muss auch eine Infrastruktur
aufgebaut werden. Dazu gehören Verkehrswege, Gesetze, Polizisten und Juristen. Die
EU hat dies berücksichtigt, indem sie nur neue Mitglieder aufnahm, die
nachwiesen, dass sie eine Infrastruktur haben oder aufzubauen im Begriff sind. Da
in der EU arme Länder schneller wachsen als reiche, wird Deutschland dank der
EU relativ ärmer.
Auf den Weltmaßstab bezogen müssen fast 180
von 191 Ländern dasselbe tun. Entsprechende Absichtserklärungen gibt es viele.
Sie reichen aber nicht. An die Stelle einer Ethik der Worte muss eine Ethik der
Taten treten. Es gibt drei mögliche Lösungen des Problems, das die Menschheit
konfrontiert, nämlich Kollaps, Spaltung (wie in Brasilien) oder Ausgleich (wie in
der EU). Er selbst gäbe der dritten Lösung eine Chance von 35%. Seine Hoffnung
ruhe auf Angela Merkel und der G8. Das bevorstehende Treffen (in Heiligendamm)
könne bereits die Wende bringen.
Vortrag 2014 in Waidhofen an der Ybbs
Radermacher hielt den Hauptvortrag der Tagung Wirtschaft 2050.
Wir wissen inzwischen, dass wir die Umwelt durch fossile Energien zerstören.
Die Kernenergie erwies sich nicht als Lösung des Problems. Wir müssen weiter
suchen. Noch hungern 1/7 der Erdbevölkerung. Das ist zwar ein relativer
Fortschritt; aber in absoluten Zahlen ist dies schlimm. Es fehlen nicht die
Nahrungsmittel. Die Landwirtschaft und die Lebensmittelindustrie sind
produktiver denn je. Es fehlt den Armen und Hungernden an Kaufkraft. Auch das
wäre zu lösen, und zwar durch Umverteilung. Dagegen sträuben sich die reichsten 1%
der Menschheit.
Es gäbe heute keinen Streit um die optimale
Wirtschaftsordnung mehr. Der Sozialismus ist eklatant gescheitert. Nur der
Kapitalismus fördert den technischen Fortschritt und schafft Wohlstand. Wir
müssen allerdings Teilaspekte verändern. Das Geschäft der Banken muss bessere
Regeln bekommen. Die Finanztransaktions-Steuer muss her. Derzeit stemmen sich die
USA und UK noch dagegen. Die Steueroasen müssen ausgetrocknet werden. Von
Gabriel Zucman [3] stammt der Vorschlag durch Eigentumskataster das Verstecken
von Eigentum zu verhindern. Die USA fanden, dass sie gegen einzelne schweizerische
Banken durchgreifen konnten, obwohl der schweizerische Staat sich querlegte. In
Deutschland hat der Kauf einer einzelnen CD bewirkt, dass Tausende ihre
Steuerschuld meldeten oder aber ihr Konto auf die Cayman-Inseln oder nach
Singapur verlagerten.
Radermacher hob die Übereinstimmung mit Josef
Riegler, einem Politiker der ÖVP, hervor. Ihr gemeinsames Projekt ist die Ökosoziale Marktwirtschaft.
International läuft das Ganze unter der Bezeichnung ‚green and inclusive‘. Die
Mitglieder des Club of Rome gäben der
Option Ausgleich kaum noch eine Chance. Er selbst glaube noch daran mit 35%er
Wahrscheinlichkeit (d.h. genau wie vor sieben Jahren). Es wäre Zeit für eine Weltinnenpolitik.
Viele Gremien agierten bereits in diesem Sinne, nicht aber IWF und Weltbank.
Die Ausbildungskosten für ein deutsches
Gehirn gibt er mit 200k Euro an (vor sieben Jahren gab er 150k an). Es sei gut,
dass bei uns der Staat diese Kosten wieder stärker übernehme. Das sei ein
großer Vorteil gegenüber den USA, wo die Familien mit hohen Kosten für die
Ausbildung der Kinder belastet sind. Außer Bildung ist die Infrastruktur
entscheidend. Länder wie Deutschland, Österreich und die Schweiz sind in dieser
Hinsicht 100 Mal besser als Bangladesch. Darin steckt eine enorme Wertschöpfung.
Sie ist das Werk von Generationen.
Die Weltwirtschaft ist kein Nullsummenspiel.
Durch Innovationen wird das Spielfeld laufend verändert und erweitert. Deshalb
müssen wir die Innovatoren belohnen. Der Erfinder des Penizillins hat niemandem
etwas weggenommen, aber vielen geholfen. Die Entwicklungsländer können mit
weniger Kosten modernisieren als die Pioniere. Sie müssen keine Tonnen von Kupfer
vergraben, um telefonieren zu können (engl. leapfrogging).
Die Initiative mit dem Namen Globaler Marshall Plan hat das Problem,
dass im Gegensatz zum Nachkriegs-Deutschland mit Geld allein die anvisierten
Ziele nicht zu erreichen sind. In Deutschland gab es qualifizierte Menschen,
zwar zerstörte, aber erschlossene Verkehrswege und ein relativ intaktes
Rechtssystem. Was fehlte, war mit Geld und Mut machen zu lösen. Das ist in den
meisten Ländern Afrikas, Asiens und Südamerikas nicht der Fall. Radermachers
Hoffnung ruht dieses Mal auf der bevorstehenden Weltklima-Konferenz in Paris.
Inzwischen würden auch massive Hilfen diskutiert, die der reiche Norden dem
armen Süden gewähren müsse, also Transfers von Wohlstand. Im Vortrag empfahl Rademacher
drei Bücher [1..3], alle von französischen Autoren. Auf Piketty werde ich möglicherweise
zurückkommen.
Bilanz I : Ökologie und Wirtschaft
Die Weltklimapolitik hat uns allen ein
Wechselbad der Gefühle bereitet. Welche Beschlüsse die G8 2007 fasste, ist mir
entfallen. Aus der G8 wurde eine G7, die sich letztes Jahr wieder in
Deutschland traf, dieses Mal im bayrischen Elmau. Statt mit Strandkörben
entstanden Bilder mit alpiner Bergkulisse im Hintergrund. Angela Merkel hielt
auch das Thema Umwelt warm. Nicht so leicht vergessen wird man die
Weltklima-Konferenz 2009 in Kopenhagen. Sie verursachte eine große Enttäuschung.
Bei der UN-Klimakonferenz 2015 in Paris (der 21. ihrer Art) verdiente sich die französische
Tagungsleitung einen historischen Anerkennungserfolg. Es gibt einen Vertrag,
den die teilnehmenden Länder ratifizieren dürfen. Darin sind zumindest
Versprechen enthalten. Dass dem auch Taten folgen werden, ist zu hoffen.
Bilanz II: Politik und Soziales
Die Welt kennt neue Kriege (Ukraine, Syrien)
und ein nie dagewesenes Flüchtlingsproblem. Es gibt weitere zerfallende Staaten
(engl. failed states). Neben Somalia gehört jetzt auch Libyen dazu. Es sieht
fast so aus, als ob es jedes Jahr mehr statt weniger werden. In Anbetracht
dieser Entwicklung kommt mir Radermacher fast wie ein Missionar und Heilsprediger
vor. Misserfolge scheinen ihn nicht zu entmutigen. Die drei Szenarien, auf die nach
seiner Meinung die Entwicklung der Welt politisch und sozial hinausläuft, nennt
er Kollaps, Spaltung und Ausgleich. Exemplarisch werden sie durch die Osterinsel,
Brasilien und die EU repräsentiert. Mir entgeht, warum er auch noch nach sieben
Jahren die Chancen für den Ausgleich als unverändert ansieht. Wer heute noch
die EU als Ideal für die Welt hinstellt, dem muss man Realitätssinn absprechen.
Anders herum: Wer sich nur von Wunschdenken leiten lässt, läuft Gefahr als
Träumer oder Nachtwandler zu enden. Das
wäre schade, nicht nur für Radermacher, sondern auch für uns und alle nachfolgenden
Generationen der Menschheit. Kritisch zu sein ist oft leichter als es nicht zu
sein. Wer die Hoffnung aufgibt, gibt sich selbst auf.
Referenzen
- Jacques Neirynck: Der göttliche Ingenieur, 1998
- Thomas Piketty: Das Kapital im 21. Jahrhundert, 2014
- Gabriel Zucman: Steueroasen, 2014
Peter Hiemann aus Grasse schrieb:
AntwortenLöschenich kann Radermachers Gedanken sehr gut nachvollziehen. Vor allem gefällt es mir, dass er eine Vielzahl von Dimensionen und Faktoren in Betracht zieht. So spricht er von acht Faktoren, die zur Erringung von 'Reichtum eines Landes' entscheidend sind (Governance, Qualität der Gehirne, Kapital, Technologie, Infrastruktur, Geldsystem, Ressourcen, Wertschöpfungssystem), sowie den Wechselwirkungen zwischen diesen Faktoren.
Mein pädagogisch versierter Kollege Rul Gunzenhäuser ist mit mir der Ansicht, dass der Begriff ‚gute Gehirne‘ bei Radermacher eine Verkürzung darstellt. Er denkt bestimmt nicht nur an Hardware (bzw. Wetware), um im Bild der Informatik zu bleiben, sondern auch an Software und Daten. Ein Gehirn bzw. sein Besitzer ist im Sinne Radermachers gut qualifiziert, wenn hohe Kompetenzen auf Gebieten vorhanden sind, die für die Zukunft der Menschheit wesentlich sind, z.B. Naturwissenschaft und Technik, und wenn sie von der Motivation begleitet sind, diese Kompetenzen zeitnah und konstruktiv zur Anwendung zu bringen. Mit dieser etwas umständlichen Formulierung soll gesagt werden, dass weder ein faules Genie noch ein übereifriger Philosoph (oder Journalist, Soziologe, Sportler, Entertainer, Pop-Musiker, usw) gemeint sein können.
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