Dienstag, 5. April 2016

Welt (nicht) ohne Hoffnung oder Radermachers Traum

Franz Josef Radermacher (* 1950) ist Professor für Informatik an der Universität Ulm und Leiter des Forschungsinstituts für anwendungsorientierte Wissensverarbeitung. (FAW). Er wurde sowohl als Mathematiker wie als Ökonom ausgebildet. Wie bei vielen andern Kollegen aus der Anfangszeit des Faches reichte diese Qualifizierung aus für die Berufung auf einen Informatik-Lehrstuhl (Teilgebiet Künstliche Intelligenz). Bekannt geworden ist Radermacher weniger als Informatiker denn für sein Eintreten für eine weltweite Ökosoziale Marktwirtschaft und durch sein Engagement in der Initiative Globaler Marshall-Plan.

Überblick über Veröffentlichungen

In mehreren Büchern und populär-wissenschaftlichen Veröffentlichungen stellte er in den letzten 10-15 Jahren immer wieder seine weltwirtschaftlichen und weltpolitischen Ideen vor. Youtube ist voll mit Vorträgen von ihm. Es ist keine Frage, dass diese Themen für uns heutige Menschen mehr Brisanz enthalten als alles, was Informatik und Künstliche Intelligenz zu bieten haben. Ich kenne Franz Josef Radermacher schon seit über 30 Jahren persönlich. Ich finde seine Ausführungen beachtenswert. Seine Ausdauer und sein leidenschaftliches Engagement verdienen Anerkennung.

Ich hörte mir in den letzten Tagen zwei seiner Vorträge an, die sieben Jahre auseinanderlagen. Er hatte beide Male etwa eine ganze Stunde Zeit für einen geschlossenen Vortrag und eine weitere Stunde für die Beantwortung von Fragen. Die Zuhörerinnen und Zuhörer waren vorwiegend Studierende und Professoren. Im Folgenden werde ich einige seiner Ideen herausgreifen.

Vortrag 2007 in Karlsruhe

Der Vortrag von 2007 hatte den Titel Nachhaltigkeit und Globalisierung. Rademacher forderte, dass bei der Nachhaltigkeit vier Dimensionen berücksichtigt werden müssten: die wirtschaftliche, soziale, ökologische und politische. In ökologischer und wirtschaftlicher Hinsicht lebe die Menschheit derzeit mit einem Fußabdruck von 1,2 Globen, d.h. jede Generation verbrauche mehr als die Erde an Ressourcen liefern und an Abfällen verkraften kann. Das ist nicht nachhaltig. Dass diese Zahl so niedrig ist, verdanken wir den armen Ländern. Für Deutsche sind es vier, für US-Amerikaner sind es neun Globen.

Das ist bei grob einer Milliarde Reichen und fünf Milliarden Armen. Da die Weltbevölkerung noch weiter wächst, benötigen wir aus politischen Gründen ein Programm für 10 Milliarden Reiche, da es sonst Migrationswellen und Unruhen gibt. Bei Ressourcen und Abfall kann nur der technische Fortschritt helfen, also Ingenieure. Wie in der Vergangenheit müssen Ingenieure auch in Zukunft die Nutzung vorhandener Ressourcen verbessern und/oder neue erschließen. Mehr als von der Sonne verspricht sich Radermacher von der Erdwärme. Dafür muss man allerdings 15 km tief bohren. Wie Jacques Neirynck [1] beschrieb, erzielten Ingenieure nie einen Durchbruch ohne einen Rebound-Effekt, auf Deutsch Bumerang. Sie lösten ein Problem, schufen aber gleichzeitig ein neues.

Deshalb erfordert der Fortschritt eine Steuerung, auch ‚Governance‘ genannt. Sie ordnet die Dinge so, dass 10 Mrd. Menschen gut leben können, und dies für den Globus erträglich bleibt. Man muss den technischen Fortschritt optimieren. Das politische Ziel muss sein, Chinesen, Inder und Bangladescher reich werden zu lassen.

Möglich ist das Ganze nur vermittels komplexer Systeme. Dadurch kommen Gehirne ins Spiel. Laut Feststellung der Herrhausen-Stiftung kostet die Ausbildung eines mittleren deutschen Gehirns 150k Euro. Wer dieses Geld nicht investieren will, erhält eine gespaltene Gesellschaft. Ein Beispiel ist Brasilien. Dort hält man sich Arme zum Samba-Tanzen und zum Kaffee-Servieren. Bildung allein reicht allerdings nicht. Es muss auch eine Infrastruktur aufgebaut werden. Dazu gehören Verkehrswege, Gesetze, Polizisten und Juristen. Die EU hat dies berücksichtigt, indem sie nur neue Mitglieder aufnahm, die nachwiesen, dass sie eine Infrastruktur haben oder aufzubauen im Begriff sind. Da in der EU arme Länder schneller wachsen als reiche, wird Deutschland dank der EU relativ ärmer.

Auf den Weltmaßstab bezogen müssen fast 180 von 191 Ländern dasselbe tun. Entsprechende Absichtserklärungen gibt es viele. Sie reichen aber nicht. An die Stelle einer Ethik der Worte muss eine Ethik der Taten treten. Es gibt drei mögliche Lösungen des Problems, das die Menschheit konfrontiert, nämlich Kollaps, Spaltung (wie in Brasilien) oder Ausgleich (wie in der EU). Er selbst gäbe der dritten Lösung eine Chance von 35%. Seine Hoffnung ruhe auf Angela Merkel und der G8. Das bevorstehende Treffen (in Heiligendamm) könne bereits die Wende bringen.

Vortrag 2014 in Waidhofen an der Ybbs

Radermacher hielt den Hauptvortrag der Tagung Wirtschaft 2050. Wir wissen inzwischen, dass wir die Umwelt durch fossile Energien zerstören. Die Kernenergie erwies sich nicht als Lösung des Problems. Wir müssen weiter suchen. Noch hungern 1/7 der Erdbevölkerung. Das ist zwar ein relativer Fortschritt; aber in absoluten Zahlen ist dies schlimm. Es fehlen nicht die Nahrungsmittel. Die Landwirtschaft und die Lebensmittelindustrie sind produktiver denn je. Es fehlt den Armen und Hungernden an Kaufkraft. Auch das wäre zu lösen, und zwar durch Umverteilung. Dagegen sträuben sich die reichsten 1% der Menschheit.

Es gäbe heute keinen Streit um die optimale Wirtschaftsordnung mehr. Der Sozialismus ist eklatant gescheitert. Nur der Kapitalismus fördert den technischen Fortschritt und schafft Wohlstand. Wir müssen allerdings Teilaspekte verändern. Das Geschäft der Banken muss bessere Regeln bekommen. Die Finanztransaktions-Steuer muss her. Derzeit stemmen sich die USA und UK noch dagegen. Die Steueroasen müssen ausgetrocknet werden. Von Gabriel Zucman [3] stammt der Vorschlag durch Eigentumskataster das Verstecken von Eigentum zu verhindern. Die USA fanden, dass sie gegen einzelne schweizerische Banken durchgreifen konnten, obwohl der schweizerische Staat sich querlegte. In Deutschland hat der Kauf einer einzelnen CD bewirkt, dass Tausende ihre Steuerschuld meldeten oder aber ihr Konto auf die Cayman-Inseln oder nach Singapur verlagerten.

Radermacher hob die Übereinstimmung mit Josef Riegler, einem Politiker der ÖVP, hervor. Ihr gemeinsames Projekt ist die Ökosoziale Marktwirtschaft. International läuft das Ganze unter der Bezeichnung ‚green and inclusive‘. Die Mitglieder des Club of Rome gäben der Option Ausgleich kaum noch eine Chance. Er selbst glaube noch daran mit 35%er Wahrscheinlichkeit (d.h. genau wie vor sieben Jahren). Es wäre Zeit für eine Weltinnenpolitik. Viele Gremien agierten bereits in diesem Sinne, nicht aber IWF und Weltbank.

Die Ausbildungskosten für ein deutsches Gehirn gibt er mit 200k Euro an (vor sieben Jahren gab er 150k an). Es sei gut, dass bei uns der Staat diese Kosten wieder stärker übernehme. Das sei ein großer Vorteil gegenüber den USA, wo die Familien mit hohen Kosten für die Ausbildung der Kinder belastet sind. Außer Bildung ist die Infrastruktur entscheidend. Länder wie Deutschland, Österreich und die Schweiz sind in dieser Hinsicht 100 Mal besser als Bangladesch. Darin steckt eine enorme Wertschöpfung. Sie ist das Werk von Generationen.

Die Weltwirtschaft ist kein Nullsummenspiel. Durch Innovationen wird das Spielfeld laufend verändert und erweitert. Deshalb müssen wir die Innovatoren belohnen. Der Erfinder des Penizillins hat niemandem etwas weggenommen, aber vielen geholfen. Die Entwicklungsländer können mit weniger Kosten modernisieren als die Pioniere. Sie müssen keine Tonnen von Kupfer vergraben, um telefonieren zu können (engl. leapfrogging).

Die Initiative mit dem Namen Globaler Marshall Plan hat das Problem, dass im Gegensatz zum Nachkriegs-Deutschland mit Geld allein die anvisierten Ziele nicht zu erreichen sind. In Deutschland gab es qualifizierte Menschen, zwar zerstörte, aber erschlossene Verkehrswege und ein relativ intaktes Rechtssystem. Was fehlte, war mit Geld und Mut machen zu lösen. Das ist in den meisten Ländern Afrikas, Asiens und Südamerikas nicht der Fall. Radermachers Hoffnung ruht dieses Mal auf der bevorstehenden Weltklima-Konferenz in Paris. Inzwischen würden auch massive Hilfen diskutiert, die der reiche Norden dem armen Süden gewähren müsse, also Transfers von Wohlstand. Im Vortrag empfahl Rademacher drei Bücher [1..3], alle von französischen Autoren. Auf Piketty werde ich möglicherweise zurückkommen.

Bilanz I : Ökologie und Wirtschaft

Die Weltklimapolitik hat uns allen ein Wechselbad der Gefühle bereitet. Welche Beschlüsse die G8 2007 fasste, ist mir entfallen. Aus der G8 wurde eine G7, die sich letztes Jahr wieder in Deutschland traf, dieses Mal im bayrischen Elmau. Statt mit Strandkörben entstanden Bilder mit alpiner Bergkulisse im Hintergrund. Angela Merkel hielt auch das Thema Umwelt warm. Nicht so leicht vergessen wird man die Weltklima-Konferenz 2009 in Kopenhagen. Sie verursachte eine große Enttäuschung. Bei der UN-Klimakonferenz 2015 in Paris (der 21. ihrer Art) verdiente sich die französische Tagungsleitung einen historischen Anerkennungserfolg. Es gibt einen Vertrag, den die teilnehmenden Länder ratifizieren dürfen. Darin sind zumindest Versprechen enthalten. Dass dem auch Taten folgen werden, ist zu hoffen.

Bilanz II: Politik und Soziales

Die Welt kennt neue Kriege (Ukraine, Syrien) und ein nie dagewesenes Flüchtlingsproblem. Es gibt weitere zerfallende Staaten (engl. failed states). Neben Somalia gehört jetzt auch Libyen dazu. Es sieht fast so aus, als ob es jedes Jahr mehr statt weniger werden. In Anbetracht dieser Entwicklung kommt mir Radermacher fast wie ein Missionar und Heilsprediger vor. Misserfolge scheinen ihn nicht zu entmutigen. Die drei Szenarien, auf die nach seiner Meinung die Entwicklung der Welt politisch und sozial hinausläuft, nennt er Kollaps, Spaltung und Ausgleich. Exemplarisch werden sie durch die Osterinsel, Brasilien und die EU repräsentiert. Mir entgeht, warum er auch noch nach sieben Jahren die Chancen für den Ausgleich als unverändert ansieht. Wer heute noch die EU als Ideal für die Welt hinstellt, dem muss man Realitätssinn absprechen. Anders herum: Wer sich nur von Wunschdenken leiten lässt, läuft Gefahr als Träumer oder Nachtwandler zu enden.  Das wäre schade, nicht nur für Radermacher, sondern auch für uns und alle nachfolgenden Generationen der Menschheit. Kritisch zu sein ist oft leichter als es nicht zu sein. Wer die Hoffnung aufgibt, gibt sich selbst auf.

Referenzen
  1. Jacques Neirynck: Der göttliche Ingenieur, 1998
  2. Thomas Piketty: Das Kapital im 21. Jahrhundert, 2014
  3. Gabriel Zucman: Steueroasen, 2014

2 Kommentare:

  1. Peter Hiemann aus Grasse schrieb:

    ich kann Radermachers Gedanken sehr gut nachvollziehen. Vor allem gefällt es mir, dass er eine Vielzahl von Dimensionen und Faktoren in Betracht zieht. So spricht er von acht Faktoren, die zur Erringung von 'Reichtum eines Landes' entscheidend sind (Governance, Qualität der Gehirne, Kapital, Technologie, Infrastruktur, Geldsystem, Ressourcen, Wertschöpfungssystem), sowie den Wechselwirkungen zwischen diesen Faktoren.

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  2. Mein pädagogisch versierter Kollege Rul Gunzenhäuser ist mit mir der Ansicht, dass der Begriff ‚gute Gehirne‘ bei Radermacher eine Verkürzung darstellt. Er denkt bestimmt nicht nur an Hardware (bzw. Wetware), um im Bild der Informatik zu bleiben, sondern auch an Software und Daten. Ein Gehirn bzw. sein Besitzer ist im Sinne Radermachers gut qualifiziert, wenn hohe Kompetenzen auf Gebieten vorhanden sind, die für die Zukunft der Menschheit wesentlich sind, z.B. Naturwissenschaft und Technik, und wenn sie von der Motivation begleitet sind, diese Kompetenzen zeitnah und konstruktiv zur Anwendung zu bringen. Mit dieser etwas umständlichen Formulierung soll gesagt werden, dass weder ein faules Genie noch ein übereifriger Philosoph (oder Journalist, Soziologe, Sportler, Entertainer, Pop-Musiker, usw) gemeint sein können.

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