Schon lange beherrscht das Schlagwort
Digitalisierung viele Diskussionen in Gesellschaft, Wirtschaft und Politik. Ihre
Auswirkungen auf das Bildungswesen wurden immer wieder von meinem Kollegen Christoph
Meinel vom Hasso-Plattner-Institut in Potsdam thematisiert. Unter seiner
Leitung hat eine Arbeitsgruppe das Konzept einer Bildungscloud
auf dem letzten IT-Gipfel der Bundesregierung in Saarbrücken vorgestellt. In diesem
Monat hat Meinel seine Vorstellungen als Vision
der digitalen Bildung publiziert, unter anderem auch in der FAZ. Es
entstand daraufhin eine Korrespondenz, die ich hier auszugsweise wiedergebe,
Erste Diskussion des Themas
Als Reaktion zu seinen Aufsätzen schrieb
ich Meinel Mitte April 2017: Über zwei Probleme sollten Sie (und alle
Interessierten) nachdenken.
(1) Die Erziehung zu Mündigkeit und
Selbständigkeit sollte nie ohne fachliche Inhalte erfolgen. Dasselbe gilt für
Weisheit und Tüchtigkeit. Leute, die nur diese allgemeinen Tugenden studiert haben, und sonst nichts, kann niemand
brauchen. Eine Tugend allein ist bei uns kein Studienfach, evtl. jedoch in
buddhistischen Mönchsklostern. Vor 30 Jahren hatte ich eine Diskussion mit dem
von mir sehr geschätzten Niklaus Wirth. Er meinte: Bei ihm lernten Leute
richtig denken, nur darauf käme es an. Ich entgegnete: Wenn ich jemand von
diesen Leuten einstellen sollte, würde ich fragen, was er sonst noch kann.
(2) Der Föderalismus und das Elternrecht
sind Güter, die wir Deutsche hochschätzen, und zwar wegen unserer
Nazi-Erfahrung. Inhalte für das Land Bremen und das Saarland separat oder
doppelt zu entwickeln, ist Unsinn. Es muss eine Entkopplung von
Entwicklung und Anwendung erfolgen. Das muss durch Überzeugung plus finanziellen
Druck in die Köpfe hinein. Wo ist sogar ein Weltmarkt möglich und wie muss man
da agieren?
Am 29.4.2017 fügte ich noch hinzu:
Leider wird in der Bildungsdiskussion
fast nie unterschieden zwischen (a) der moralischen Erziehung in den Tugenden
und dem standesgerechten Benehmen, (b) dem analytischen-kritischen Verständnis
der Welt und ihrer Geschichte und (c) der konstruktiven Qualifikation für ein
zukünftiges, selbständiges Leben durch Heranbildung von nützlichen Fähigkeiten.
Leider benutzen wir für alle drei das Wort Bildung.
Die Frage ist: Wer sollte an was Interesse
haben? Wer sollte sich um was kümmern? Bei Bildung (a) und (b) könnte man an
eine Bringschuld des Elternhauses oder der nicht-staatlichen Gesellschaft
denken. Nur bei (c) ist es naheliegend auch eine Bringschuld der Wirtschaft und
des Staates zu sehen. Natürlich hängen alle drei zusammen. Teil (c) geht nicht
ganz ohne (b) und (a).
Im Mittelalter und bei Adeligen stand
(a) im Vordergrund, die Aufklärung (und damit Wilhelm von Humboldt) entdeckte
(b). Man hoffte sogar, dass alle Menschen aus Eigennutz oder Vergnügen zu
Aufklärern würden. Vorbei war jeder Zwang, d.h. der Lehrer mit Rute. Im
Zeitalter des modernen Massenkonsums und der Demokratie denken die meisten nur
an (c).
Deshalb trägt es wenig zur Klärung bei,
wenn das Mittelalter oder die Aufklärung zu Maßstäben erhoben werden. Theologen
und Adelige sind heute nicht die primär Auszubildenden. Es wäre schön, wenn man
sich gedanklich freimachen könnte für die Aufgaben unseres Jahrtausends.
Christoph Meinel erwiderte am 30. 4.
2017:
meine Motivation über
Bildung(smissstände) nachzudenken ist viel bescheidener. Immer wieder stellt
sich heraus, dass die Leute glauben, die heraufziehende neue digitale Welt zu
verstehen, nur weil sie ihr Smartphone bedienen können. Gleichzeitig beweisen
sie im Umgang, z.B. mit Ihren Daten
und Passworten, dass sie gar keine Vorstellung
davon zu haben, was da passiert. Hier gibt es eine wichtige Aufgabe für uns,
nämlich die digitale Aufklärung der Bürger um sie zu befähigen, selbstbestimmt,
eigenverantwortlich und mündig im
digitalen Raum zu handeln. Von diesem selbst gestellten Bildungsauftrag
ausgehend, denken wir über verschiedene Themen im Bildungsbereich nach:
- Mit unserer MOOC-Plattform openHPI konnten wir bisher fast 400.000 Kursteilnahmen erreichen.
- Mit unserem Schul-Cloud Projekt wollen wir zeigen, wie vermittels geeigneter Cloud-Infrastrukturen digitale Bildungsinhalte endlich auf breiter Front in den Schulunterricht in jedem Unterrichtsfach einziehen und genutzt werden können.
- Mit der für den IT-Gipfel entwickelten Vision einer Bildungscloud wollen wir die Politik ermutigen, über einen niedrigschwelligen digitalen Zugang digitale Bildungsinhalte leichter auffindbar, zugänglich und nutzbar zu machen.
Digitalisierung kann einen drastisch
erleichterten Zugang zu Bildungsinhalten bieten: Den zu befördern ist meine
Motivation.
Meine Erwiderung:
Wie ich Ihnen bereits sagte, finde ich alles
sehr nützlich, was Sie machen. Sie überschreiten damit allerdings Grenzen zu
grundsätzlichen Fragen im Erziehungssystem. Dieses ist von Verkrustungen
überlagert. Sie tun zwar so, als ob Sie daran nichts ändern wollen oder müssen.
Ich sehe ein großes Risiko darin, diese Probleme zu ignorieren, da dies Ihre Bemühungen
zum Scheitern bringen kann.
Hartmut Wedekind aus Darmstadt schrieb
am selben Tag:
Ihr (c) ist aber schon Ausbildung. Man
kann sagen "ich werde ausgebildet" (passiv), aber nicht "ich
werde gebildet". Bildung verlangt immer eine Selbsttätigkeit. Also
"Ich bilde mich" (aktiv) und nicht "ich bilde mich aus".
Man hofft, durch Erziehung, Ihr (a), und auch durch Ausbildung (c) zum (b) zu
gelangen. Ihr (a) und (c) sind auf Englisch "education". Ihr (b) ist
Englisch "literacy". Das sind aber nur annähernde Übersetzungen.
Wenn ich von technischer Bildung spreche,
dann meine ich etwas, was nach der technischen Ausbildung kommt und
Eigentätigkeit verlangt. Selbsttätige Bildung (ein Pleonasmus, wie ein weißer
Schimmel) verlangt selbstverständlich "Orientierungswissen" und damit
Ziel- und Zweckorientierung, ein "Verfügungswissen" einer Ausbildung
wird aber meistens vorausgesetzt. Wenn man heute von digitaler Bildung oder
Bildung digital spricht, dann meint man "Ausbildung" (education).
Bildung ist eine Kind der Aufklärung
(Humboldt, Fichte). Die hat bei uns im Politischen aber nur noch nominelle
Auswirkungen. Man sagt "Bildung" und meint "Ausbildung". Das
"Wesen" des Politischen ist, immer alles durcheinander zu bringen. Wenn's um
Bildungspolitik geht, ist man dem Chaos nahe. Siehe G8/G9, unglaublich.
Meine Erwiderung:
Die Verwirrung der Begriffe Erziehung,
Bildung und Ausbildung ist Teil unseres Problems. Vor fast einem Jahr hatte ich
dem Leerwort Bildung einen ganzen Blogbeitrag gewidmet. Ich habe wenig Hoffnung, dass die
Dinge in absehbarer Zeit besser werden. Noch profitieren zu viele von der
Verwirrung, Es sind dies nicht nur die Politiker. Nicht wenige Uni-Professoren sehen Technik nicht als Wissenschaft an, und halten sich für zu schade, um Leute für den Broterwerb auszubilden. Warum werden Milliarden für
Bildung gefordert, wenn Ausbildung gemeint ist? Warum muss immer noch der Baron
von Humboldt bemüht werden, dem es immer nur um Bildung und nie um Ausbildung ging?
Er blickte auf sie mit Verachtung herab und ließ Preußen mit seinem Bildungssystem
allein, sobald er einen amüsanteren Job haben konnte. Er fand den als preußischer
Botschafter im Vatikan. Er handelte also wie ein ‚Gebildeter Mensch‘, genauso
wie ihn der Philosoph Robert Spaemann
(*1927) später definierte. ‚Fast nichts ist für ihn ohne Interesse, aber nur sehr weniges wirklich
wichtig' sagte Spaemann.
Seitenbemerkung
Mein
Kollege und Mit-GI-Fellow Hartmut Wedekind hat in seinem Blog ebenfalls einige gute Gedanken zu Bildung und Digitalisierung
geäußert. Dabei hat er auch einige Fragen berührt, die wir in diesem Blog wiederholt
diskutierten. Ich möchte hier nicht erneut darauf eingehen.
Nachtrag am 1.5. 2017
Die totale Verwirrung der Begriffe ist auch anderen Autoren schon aufgefallen. 'Wenns um Bildung geht, wollen alle immer mehr' so schrieb Peter Steinfeld in der Süddeutschen Zeitung am 23. 4. 2017. 'Aber selten werden die Forderungen so konkret, dass man über deren Inhalte verhandeln könnte. Was also wollen wir eigentlich?'
Am Schluss heißt es: 'Das Gerede von "der Bildung" ... bleibt Ideologie, solange nicht darüber gesprochen wird, was gelernt werden soll, von wem und für welchen Zweck. ...Das Letzte, was Bildung verspricht, ist deswegen das Erste, was ihre gegenwärtigen Verfechter im Sinn haben: so etwas wie eine umfassende kulturelle Stabilität, eine Gewissheit von Kenntnissen und Fähigkeiten, die allen Bürgern gemeinsam wäre.'
Nachtrag am 1.5. 2017
Die totale Verwirrung der Begriffe ist auch anderen Autoren schon aufgefallen. 'Wenns um Bildung geht, wollen alle immer mehr' so schrieb Peter Steinfeld in der Süddeutschen Zeitung am 23. 4. 2017. 'Aber selten werden die Forderungen so konkret, dass man über deren Inhalte verhandeln könnte. Was also wollen wir eigentlich?'
Am Schluss heißt es: 'Das Gerede von "der Bildung" ... bleibt Ideologie, solange nicht darüber gesprochen wird, was gelernt werden soll, von wem und für welchen Zweck. ...Das Letzte, was Bildung verspricht, ist deswegen das Erste, was ihre gegenwärtigen Verfechter im Sinn haben: so etwas wie eine umfassende kulturelle Stabilität, eine Gewissheit von Kenntnissen und Fähigkeiten, die allen Bürgern gemeinsam wäre.'
Genau das wollten die Väter und Mütter unserer Verfassung verhindern. Bayern, Rheinländer und Sachsen sollen partout nicht wie Preußen werden. (Ich danke Simone Rehm für den Hinweis)