Bilder schaffen Eindrücke. Dieser Tage war es ein älterer Mann aus
Afrin, im Norden Syriens, der zwei Söhne durch türkische Artilleriegranaten
verloren hatte. Er schrie den Reporter an mit den Worten: ‚… und was tut die
Weltgemeinschaft?‘ In Ost-Ghouta, im Süden Syriens, wurden gestern mindestens
15 Kinder sowie zwei Frauen bei einem von russischen Flugzeugen durchgeführten Luftangriff
auf ihre Schule getötet. Baschar al-Assad, der Präsident des von seinem Clan
beherrschten Landes, ließ sich am Steuer eines von ihm gelenkten PKWs in den
Trümmern der Stadt fotografieren. Als eine Woche zuvor über einen Giftgasangriff
der Regierungstruppen berichtet wurde, hieß es, die anschließend entstandenen Bilder
seien zu hässlich, um sie im Fernsehen zu zeigen.
Globalisierungen
Jürgen
Osterhammel (*1952) vertritt das Fach Globalgeschichte an der Universität
Konstanz. In seinem neuesten Buch Die Flughöhe der Adler
(2017, 300 S.) befasst er sich mit einigen Begriffen, die uns allen mehr oder
weniger auf der Zunge liegen. Ein schönes Beispiel ist das Wort Globalisierung.
Die amerikanische Kongressbibliothek (engl. library of congress) soll 9500
Bücher besitzen, alle erschienen zwischen 2000 und 2013 mit dem Substantiv ‚Globalisierung‘
im Titel. Nicht mitgezählt sind Bücher, die nur das Adjektiv ‚global‘ im Titel
führen. Osterhammel meint es wäre besser, man würde das Wort in der Mehrzahl
verwenden. Es gibt nämlich eine Vielzahl von Globalisierungen, je nach
Fachgebiet und Aspekt. Meist wird auch die Vorsilbe Welt verwandt, wie in Weltliteratur
oder Weltwirtschaft.
Historisch gesehen könnte von Globalisierung erst gesprochen
werden, als im 15. Jahrhundert Portugiesen und Spanier die Grenzen des
europäischen Kontinents überschritten. Der Blick nach außen allein genügte
jedoch nicht. Es musste eine gewisse Form von Konnektivität etabliert werden,
die sich fortentwickelte. Die Gründung von permanenten Niederlassungen und
Handelsbeziehungen musste stattfinden. Selbst zu den Zeiten des holländischen
und iberischen Welthandels im 16. und 17. Jahrhundert hätte das gesamte Handelsvolumen
noch in zwei moderne Supertanker gepasst. Heute ist die zur Verfügung stehende
Tonnage grenzenlos und die Transportkosten sind minimal. Die Ausbreitung des
Christentums folgte den Heeren und Handelsrouten. Erfolge und Misserfolge
wurden akribisch dokumentiert, so zum Beispiel vom Jesuitenorden. Dessen Zugang
zum chinesischen bzw. mongolischen Hof war kein Problem, da man Wissen besaß,
das begehrt war. Der Konvertierungserfolg blieb jedoch versagt.
Wenn das Internet als Verbindung zwischen Kontinenten
hervorgehoben wird, wird leicht vergessen, dass die Verkabelung der Kontinente
eine lange Vorgeschichte hat. Eine Weile waren Weltausstellungen der Maßstab für
den Austausch von Kulturen. Fernreisen von Leuten wie Georg Forster und
Alexander von Humboldt begeisterten zwischen 1770 und 1820 die Welt. Heute kann
jeder Student oder Rentner dieselben Strecken zurücklegen. Eine Vielzahl von
Leistungen und Maßstäben werden heute weltweit koordiniert. Zwei Beispiele sind
sportliche Leistungen und Wettbewerbe, sowie das Shanghai-Ranking der Unis.
Globalisierung kann aktiv betrieben werden, sei es um Märkte zu
erweitern oder um Ideen zu verbreiten. Sie kann auch erlitten werden, etwa
durch die Verbreitung von Pandemien oder durch die Angleichung von Löhnen und Preisen.
Sie wirkt im Sinne einer Konvergenz von Sitten und Gebräuchen, sowie einem
Durchmischen von Ethnien und Sprachen.
Weltöffentlichkeit und Weltgemeinschaft
Auch den Begriff der Weltöffentlichkeit sollte man im Plural
benutzen. Osterhammel sieht ein Beispiel in Friedrich
Hölderlins (1770-1843) Schaffen. Der um 1770 begonnene Freiheitskampf der Griechen
gegen die Türken hatte es ihm angetan. Sein Prosawerk Hyperion und mehrere
Gedichte befassen sich damit. Genau wie Immanuel Kant sein Königsberg so hatte
Hölderlin in seinen späten Jahren Tübingen nicht verlassen. Englische Autoren
lieferten ihm die Details, mit denen er sich am Tübinger Neckarufer
beschäftigte.
Ein Kosmopolit ist ein Mensch, dessen Interesse die ganze Welt
umfasst. Als erstes ist er bereit, die Andersartigkeit anderer Menschen und
anderer Kulturen anzuerkennen. Viel schwerer ist es von der Anerkennung zu
Verantwortung überzugehen. Wieso soll ich mich verantwortlich für jemanden
fühlen, der bewusst anders sein will als ich?
Aus Kants Altersschrift ‚Zum Ewigen Frieden‘
von 1795 soll Woodrow Wilson 1919 einige Ideen geschöpft haben, die ihn zu Gründung
des Völkerbunds bewogen. Den Anlass gab jedoch der erste Weltkrieg, dessen
Schrecken die Welt entsetzten. Man glaubte in Zukunft derartige Gemetzel
verhüten zu können. Es waren Deutschland, Italien und Japan, die in den 1930er
Jahren den Völkerbund herausforderten und in aushöhlten. Die nach 1945
gegründeten Vereinten Nationen (UN) stehen in dessen Tradition.
Die UN hat in die letzten sechs Jahrzehnten die Weltpolitik mehr oder
weniger geprägt. Sie hatte Erfolge und Misserfolge. Sie hat auch Hoffnungen geschaffen,
die sich nicht erfüllen ließen. Es sind nicht nur die Großmächte China,
Russland und die USA, die eigene Wege gehen wollen oder Interessen haben, die
denen der übrigen Staaten entgegenstehen. Auch Kooperationen außerhalb der UN
haben es nicht immer leicht. Man denke nur an den Sport und das Doping-Problem.
Von der Weltordnung zum Weltgewissen
Es war das Ergebnis langer Verhandlungen am Ende des 30-jährigen
Krieges, die zur Westfälischen
Weltordnung führte. Es war dies eine rein prozedurale, wertneutrale
Weltordnung. Die darin vereinbarte Nichteinmischung in fremde Staaten ist immer
noch die Basis des heutigen Völkerrechts. Wie Henry Kissinger ausführte, sind
das minimalistische Vereinbarungen. ‚Macht ohne Moral führt zum Kräftemessen,
Moral ohne Ausgewogenheit zu Kreuzzügen‘ meinte er.
Seit langem gibt es Diskussionen darüber, wie das Völkerrecht mit
humanistischen Elementen angereichert werden kann. Am weitesten gehen in dieser
Hinsicht die im Jahre 2005 definierte Schutzverantwortung
(engl. responsibility to protect, Abk. R2P). Sie entsprang aus den Erfahrungen des
Jahres 1994 in Ruanda,
wo bei einem rein innerstaatlichen Gemetzel über eine halbe Million Menschen
starben. Das Massaker
von Srebenica von 1995 hatte eine ähnlich aufrüttelnde Wirkung. Es werden
drei Pflichten unterschieden:
- Pflicht zur Prävention: Sie zielt auf die Vermeidung von Situationen, in denen es zu schweren Menschenrechtsverletzungen kommt, insbesondere durch den Aufbau einer guten Verwaltung und die Bekämpfung tiefverwurzelter Ursachen für Konflikte.
- Pflicht zur Reaktion: Sie verpflichtet zu einer Beseitigung bzw. Unterbindung von Menschenrechtsverletzungen. Mittel hierzu sind nicht-militärische Zwangsmaßnahmen der Staatengemeinschaft wie Waffenembargos und das Einfrieren von Bankkonten.
- Pflicht zum Wiederaufbau: Sie verpflichtet schließlich zu einer Konfliktnachsorge. Wichtigste Mittel sind hierbei das Entwaffnen und Versöhnen ehemals verfeindeter Gruppen sowie der Wiederaufbau zerstörter Infrastruktur.
Durch die Nürnberger Prozesse wurde 1945 bekanntlich juristisches Neuland
beschritten. Es wurden Politiker und Militärs verurteilt, die kein für sie à
priori geltendes Recht verletzt hatten. Da ist der Haager Strafgerichtshof besser
dran. Bisher wurden allerdings nur Urteile gegen Afrikaner oder Serben gefällt.
Die Angehörigen der Großmächte bleiben verschont.
Schritt zurück oder Wendepunkt?
Die Richtung schien bisher immer zu mehr Globalisierung zu führen.
Sie ist quasi ein Synonym für Modernität. Auch das ist nicht mehr sicher. Seit
2000 gibt es eindeutige Trends zur Deglobalisierung. Es findet eine
Fragmentierung der Welt statt. Dazu bedarf es nicht erst eines Donald Trump.
Auch die Wirtschaftskrise von 2008 verschaffte den Nationalstaaten eine neue
Bedeutung.
Die USA haben ihre Rolle als Weltpolizist abgetreten. Weder in Afrin noch in Ost-Ghouta sind sie beteiligt, zumindest nicht direkt. Wenn es so
scheint, als ob Erdogan und Putin an ihre Stelle traten, ist
dies keine Verbesserung – egal auf welcher Seite sie stehen. Gegen die Politik der USA wurde wenigstens hin und
wieder auf unseren Straßen protestiert. Wenn sich protestieren nicht mehr
lohnt, ist dies ein sehr bedrohliches Zeichen.
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