Dienstag, 20. März 2018

Von der Globalisierung zum Weltgewissen – zwei Seiten einer Medaille?

Bilder schaffen Eindrücke. Dieser Tage war es ein älterer Mann aus Afrin, im Norden Syriens, der zwei Söhne durch türkische Artilleriegranaten verloren hatte. Er schrie den Reporter an mit den Worten: ‚… und was tut die Weltgemeinschaft?‘ In Ost-Ghouta, im Süden Syriens, wurden gestern mindestens 15 Kinder sowie zwei Frauen bei einem von russischen Flugzeugen durchgeführten Luftangriff auf ihre Schule getötet. Baschar al-Assad, der Präsident des von seinem Clan beherrschten Landes, ließ sich am Steuer eines von ihm gelenkten PKWs in den Trümmern der Stadt fotografieren. Als eine Woche zuvor über einen Giftgasangriff der Regierungstruppen berichtet wurde, hieß es, die anschließend entstandenen Bilder seien zu hässlich, um sie im Fernsehen zu zeigen.

Globalisierungen

Jürgen Osterhammel (*1952) vertritt das Fach Globalgeschichte an der Universität Konstanz. In seinem neuesten Buch Die Flughöhe der Adler (2017, 300 S.) befasst er sich mit einigen Begriffen, die uns allen mehr oder weniger auf der Zunge liegen. Ein schönes Beispiel ist das Wort Globalisierung. Die amerikanische Kongressbibliothek (engl. library of congress) soll 9500 Bücher besitzen, alle erschienen zwischen 2000 und 2013 mit dem Substantiv ‚Globalisierung‘ im Titel. Nicht mitgezählt sind Bücher, die nur das Adjektiv ‚global‘ im Titel führen. Osterhammel meint es wäre besser, man würde das Wort in der Mehrzahl verwenden. Es gibt nämlich eine Vielzahl von Globalisierungen, je nach Fachgebiet und Aspekt. Meist wird auch die Vorsilbe Welt verwandt, wie in Weltliteratur oder Weltwirtschaft.

Historisch gesehen könnte von Globalisierung erst gesprochen werden, als im 15. Jahrhundert Portugiesen und Spanier die Grenzen des europäischen Kontinents überschritten. Der Blick nach außen allein genügte jedoch nicht. Es musste eine gewisse Form von Konnektivität etabliert werden, die sich fortentwickelte. Die Gründung von permanenten Niederlassungen und Handelsbeziehungen musste stattfinden. Selbst zu den Zeiten des holländischen und iberischen Welthandels im 16. und 17. Jahrhundert hätte das gesamte Handelsvolumen noch in zwei moderne Supertanker gepasst. Heute ist die zur Verfügung stehende Tonnage grenzenlos und die Transportkosten sind minimal. Die Ausbreitung des Christentums folgte den Heeren und Handelsrouten. Erfolge und Misserfolge wurden akribisch dokumentiert, so zum Beispiel vom Jesuitenorden. Dessen Zugang zum chinesischen bzw. mongolischen Hof war kein Problem, da man Wissen besaß, das begehrt war. Der Konvertierungserfolg blieb jedoch versagt.

Wenn das Internet als Verbindung zwischen Kontinenten hervorgehoben wird, wird leicht vergessen, dass die Verkabelung der Kontinente eine lange Vorgeschichte hat. Eine Weile waren Weltausstellungen der Maßstab für den Austausch von Kulturen. Fernreisen von Leuten wie Georg Forster und Alexander von Humboldt begeisterten zwischen 1770 und 1820 die Welt. Heute kann jeder Student oder Rentner dieselben Strecken zurücklegen. Eine Vielzahl von Leistungen und Maßstäben werden heute weltweit koordiniert. Zwei Beispiele sind sportliche Leistungen und Wettbewerbe, sowie das Shanghai-Ranking der Unis.

Globalisierung kann aktiv betrieben werden, sei es um Märkte zu erweitern oder um Ideen zu verbreiten. Sie kann auch erlitten werden, etwa durch die Verbreitung von Pandemien oder durch die Angleichung von Löhnen und Preisen. Sie wirkt im Sinne einer Konvergenz von Sitten und Gebräuchen, sowie einem Durchmischen von Ethnien und Sprachen.

Weltöffentlichkeit und Weltgemeinschaft

Auch den Begriff der Weltöffentlichkeit sollte man im Plural benutzen. Osterhammel sieht ein Beispiel in Friedrich Hölderlins (1770-1843) Schaffen. Der um 1770 begonnene Freiheitskampf der Griechen gegen die Türken hatte es ihm angetan. Sein Prosawerk Hyperion und mehrere Gedichte befassen sich damit. Genau wie Immanuel Kant sein Königsberg so hatte Hölderlin in seinen späten Jahren Tübingen nicht verlassen. Englische Autoren lieferten ihm die Details, mit denen er sich am Tübinger Neckarufer beschäftigte.

Ein Kosmopolit ist ein Mensch, dessen Interesse die ganze Welt umfasst. Als erstes ist er bereit, die Andersartigkeit anderer Menschen und anderer Kulturen anzuerkennen. Viel schwerer ist es von der Anerkennung zu Verantwortung überzugehen. Wieso soll ich mich verantwortlich für jemanden fühlen, der bewusst anders sein will als ich?

Aus Kants Altersschrift ‚Zum Ewigen Frieden von 1795 soll Woodrow Wilson 1919 einige Ideen geschöpft haben, die ihn zu Gründung des Völkerbunds bewogen. Den Anlass gab jedoch der erste Weltkrieg, dessen Schrecken die Welt entsetzten. Man glaubte in Zukunft derartige Gemetzel verhüten zu können. Es waren Deutschland, Italien und Japan, die in den 1930er Jahren den Völkerbund herausforderten und in aushöhlten. Die nach 1945 gegründeten Vereinten Nationen (UN) stehen in dessen Tradition.

Die UN hat in die letzten sechs Jahrzehnten die Weltpolitik mehr oder weniger geprägt. Sie hatte Erfolge und Misserfolge. Sie hat auch Hoffnungen geschaffen, die sich nicht erfüllen ließen. Es sind nicht nur die Großmächte China, Russland und die USA, die eigene Wege gehen wollen oder Interessen haben, die denen der übrigen Staaten entgegenstehen. Auch Kooperationen außerhalb der UN haben es nicht immer leicht. Man denke nur an den Sport und das Doping-Problem.

Von der Weltordnung zum Weltgewissen

Es war das Ergebnis langer Verhandlungen am Ende des 30-jährigen Krieges, die zur Westfälischen Weltordnung führte. Es war dies eine rein prozedurale, wertneutrale Weltordnung. Die darin vereinbarte Nichteinmischung in fremde Staaten ist immer noch die Basis des heutigen Völkerrechts. Wie Henry Kissinger ausführte, sind das minimalistische Vereinbarungen. ‚Macht ohne Moral führt zum Kräftemessen, Moral ohne Ausgewogenheit zu Kreuzzügen‘ meinte er.

Seit langem gibt es Diskussionen darüber, wie das Völkerrecht mit humanistischen Elementen angereichert werden kann. Am weitesten gehen in dieser Hinsicht die im Jahre 2005 definierte Schutzverantwortung (engl. responsibility to protect, Abk. R2P). Sie entsprang aus den Erfahrungen des Jahres 1994 in Ruanda, wo bei einem rein innerstaatlichen Gemetzel über eine halbe Million Menschen starben. Das Massaker von Srebenica von 1995 hatte eine ähnlich aufrüttelnde Wirkung. Es werden drei Pflichten unterschieden: 
  • Pflicht zur Prävention: Sie zielt auf die Vermeidung von Situationen, in denen es zu schweren Menschenrechtsverletzungen kommt, insbesondere durch den Aufbau einer guten Verwaltung und die Bekämpfung tiefverwurzelter Ursachen für Konflikte.
  • Pflicht zur Reaktion: Sie verpflichtet zu einer Beseitigung bzw. Unterbindung von Menschenrechtsverletzungen. Mittel hierzu sind nicht-militärische Zwangsmaßnahmen der Staatengemeinschaft wie Waffenembargos und das Einfrieren von Bankkonten.
  • Pflicht zum Wiederaufbau: Sie verpflichtet schließlich zu einer Konfliktnachsorge. Wichtigste Mittel sind hierbei das Entwaffnen und Versöhnen ehemals verfeindeter Gruppen sowie der Wiederaufbau zerstörter Infrastruktur. 
Dieser Vorschlag ist weit davon entfernt, zum bindenden Gesetzes-Code zu werden. Zum einen wird hier ein Widerspruch zur UN-Charter gesehen, andererseits wird wegen der Involvierung des Sicherheitsrates der politischen Willkür Tür und Tor geöffnet. Sofern Vetomächte wie die USA, China oder Russland beteiligt sind, kann die Weltgemeinschaft zum Debattierclub degenerieren – und nicht nur dann.

Durch die Nürnberger Prozesse wurde 1945 bekanntlich juristisches Neuland beschritten. Es wurden Politiker und Militärs verurteilt, die kein für sie à priori geltendes Recht verletzt hatten. Da ist der Haager Strafgerichtshof besser dran. Bisher wurden allerdings nur Urteile gegen Afrikaner oder Serben gefällt. Die Angehörigen der Großmächte bleiben verschont.

Schritt zurück oder Wendepunkt?

Die Richtung schien bisher immer zu mehr Globalisierung zu führen. Sie ist quasi ein Synonym für Modernität. Auch das ist nicht mehr sicher. Seit 2000 gibt es eindeutige Trends zur Deglobalisierung. Es findet eine Fragmentierung der Welt statt. Dazu bedarf es nicht erst eines Donald Trump. Auch die Wirtschaftskrise von 2008 verschaffte den Nationalstaaten eine neue Bedeutung.

Die USA haben ihre Rolle als Weltpolizist abgetreten. Weder in Afrin noch in Ost-Ghouta sind sie beteiligt, zumindest nicht direkt. Wenn es so scheint, als ob Erdogan und Putin an ihre Stelle traten, ist dies keine Verbesserung egal auf welcher Seite sie stehen. Gegen die Politik der USA wurde wenigstens hin und wieder auf unseren Straßen protestiert. Wenn sich protestieren nicht mehr lohnt, ist dies ein sehr bedrohliches Zeichen.

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