Mit politischer Prostitution bezeichnet der Kolumnist der Süddeutschen Zeitung (SZ) Heribert Prantl in einer Video-Botschaft die Vorgänge in Thüringen um die Wahl des FDP-Politikers Thomas Kemmerich zum Ministerpräsidenten dieses Landes. Einige Tage später schrieb Prantl dazu in der SZ unter dem Titel: Die Selbstvergiftung der Demokratie. Hier präzisierte er seine Argumente. Mehrere andere Leitartikel und Diskussionsrunden behandelten das gleiche Ereignis.
Wahlergebnis
vom 28.10. 2019
Die in letzten
Herbst durchgeführte Landtagswahl hatte folgendes Ergebnis gebracht (in
Prozentpunkten):
Linke 31,0%
+2,8
AfD 23,4% +12,8
CDU 21,7% -11,8
SPD
8,2% -4,2
Grüne 5,2% -0,5
FDP
5,0% +2,5
Sonstige 5,5%
-1,6
Die Differenzen
in der rechten Spalte stellen Vergleiche zur Landtagswahl 2014 dar. Wegen der
von der SPD eingefahrenen Verluste fehlten der von Bodo Ramelow, einem Linken,
geleiteten Koalition aus Grünen, Linken und SPD die erforderlichen Stimmen. Die
CDU hatte sich auf gleiche Distanz von Linken und AfD festgelegt.
Was war
danach passiert?
Allen
Außenstehenden erschien es, als ob Bodo Ramelow keine Eile hätte. Er schien auf
ein Tolerierungsangebot der CDU zu warten. Diese dachte jedoch nicht daran sich
zu bewegen. Völlig überrascht schienen alle Beteiligten zu sein, als es der AfD
gelang, den Vorsitzenden der FDP-Fraktion, Thomas Kemmerich, zur Kandidatur für
das Amt des Ministerpräsidenten zu bewegen.
Am 5. Februar
2020 wurde er zum Ministerpräsidenten des Freistaates Thüringen gewählt.
Bereits am Folgetag trat er für eine vorgezogene Neuwahl des Landtages ein und
kündigte seinen Rückzug an. Am 8. Februar 2020 trat er offiziell
zurück und bekleidet das Amt seitdem nur noch geschäftsführend. Die AfD
überlege sich jetzt, ob sie eines ihrer Mitglieder zur Wahl vorschlagen sollte.
Wie
wurde es bewertet und von wem?
Erst
nach der Wahl in Thüringen wurde deren Bedeutung klar erkannt, sowohl im Inland
wie im Ausland. In geheimer Wahl hatte neben seiner eigenen Fraktion und der
CDU auch die Fraktion der AfD für den Kandidaten gestimmt. Sofort sprachen
Historiker, Politologen und der Zentralrat der Juden von einem „Tabubruch“. Sie
erinnerten an die Weimarer Republik, wo Nazis dies öfters gelang.
Bei
‚Hart aber fair‘ diskutierte letzten Montag die versammelte politische Prominenz
des Landes darüber, wie man sich an der Stelle von Thomas Kemmerich hätte
verhalten müssen. Norbert Röttgen (CDU), Thomas Oppermann (SPD), Cem Özdemir
(Grüne), sowie die Politologen Karl-Rudolf Korte und Martina Weisband gaben
Ratschläge zum Besten. In maximal einer Sekunde hätte das Nein erfolgen müsse,
meinte Kevin Kühnert, der Jungstar der Linken.
Welche
Konsequenzen hatte dies?
Fragt
man, welche Konsequenzen dieser Akt hatte, so tritt erst das wahre Dilemma
unseres Staatsgebildes zutage. Besonders beschämend war die Reaktion der FDP.
Ihr Vorsitzender Christian Lindner (*1979) hatte den
Schritt aktiv mit vorbereitet. Bekanntlich tut er sich gerne mit klugen
Sprüchen hervor. Ein allseits bekanntes Beispiel lautet: ‚Es ist besser, nicht
zu regieren, als falsch zu regieren‘. Als ihm in diesem Falle Kritik zu Ohren
kam, verlangte er eine Vertrauensabstimmung seines Parteipräsidiums. Sie wurde
ihm prompt und uneingeschränkt erteilt.
Die
CDU-Vorsitzende Annegret
Kamp-Karrenbauer
(*1962) unternahm einen
Beschwichtigungsversuch bei den lokalen Parteigrößen in Erfurt. Als dieser erfolglos
verlief, schien ihr Maß der Misserfolge überzulaufen. Sie kündigte den Rückzug
von allen Parteiämtern bis zum Jahresende an, also in 297 Tagen.
Es ist
kein Trost, dass die SPD schon seit über einem Jahr nur interne
Personaldiskussionen durchführt. Das neue Führungsduo Norbert Walter-Borjans (*1952) und Saskia Esken (*1961) erinnert an
das Märchenpaar Hänsel und Gretel. Es läuft wie blind durch einen großen Wald
und zaubert Vorschläge für höhere Steuern aus der Tasche und das in einer Zeit,
wo der Staat in Steuerüberflüssen ertrinkt. Die Ideologie hat halt Vorrang und
wird bedient, egal ob ein Bedarf besteht.
Was
sehe ich dahinter?
Das
Bild, das unsere so genannte politische Klasse gerade von sich gibt, ist
zutiefst betrüblich. In den beiden oben erwähnten Fällen, mag es weder an Eifer
noch an Willen fehlen, um sich für die Gesellschaft zu engagieren. Was fehlt,
ist die charakterliche Reife und Kompetenz. Man muss sich fragen, ob unsere
Besessenheit für Jugendscharm und Geschlechterbilanz nicht dazu führt, dass
andere Maßstäbe zu kurz kommen oder ganz verloren gehen.
Der
Fall des derzeitigen FDP-Vorsitzenden erinnert mich an eine Zeit, als seine
Vorgänger durch Jagdgesellschaften und Kollegenfeiern von sich reden machten.
Die Gespräche und Konsumgewohnheiten, die ans Tageslicht kamen, waren nicht so,
dass wir Kinder in sie eingeweiht werden sollten oder konnten. Übrigens gab es
diese Phänomene sowohl auf der kapitalistischen wie auf der sozialistischen
Seite des Systems.
Wie
wird es weitergehen?
Heute
Morgen (13.2.2020) las ich, dass Bodo Ramelow weiter damit rechnet, mit
CDU-Stimmen zum Ministerpräsidenten Thüringens gewählt zu werden. Da kann ich
mich nur wundern oder anders gesagt: Ramelow hofft auf Wunder. Nach weiteren
drei Monaten des Wartens wird ihm nur noch eine Wahlmöglichkeit übrig bleiben,
nämlich die AfD. In Ruhe und grinsend wartet diese auf ein Angebot, während die
anderen Parteien sich zerfleischen und gegenseitig aufreiben. Genau das wäre
eine Wiederholung der unglücklichen Weimarer Zeit vor rund 100 Jahren.
Peter Hiemanns
Sicht
Nach
diesen Hinweisen auf aktuelle Politiker und Sachverhalte überraschte mich Peter
Hiemann mit kritischen Gedanken zu einer bestimmten politischen Richtung. Ich
füge seinen Essay ‚Liberalität‘ hier ein.
Liberalität
Gedanken von Peter
Hiemann, Grasse
Es
hatte sich lange herumgesprochen, dass ein großer Unterschied zwischen
verantwortungsvoller Liberalität und Meinungsfreiheit existiert. Während es
sich lohnt, unter der Flagge 'Meinungsfreiheit' eigenen Interessen nachzugehen,
verlangt 'Liberalität' verantwortungsvolles Handeln. Meinungsfreiheit nehmen Leute gerne in
Anspruch, wenn sie sich zur Gruppe der
Privilegierten zählen. Viele Mitbürger, die
von egozentrischen politischen und ökonomischen Denk- und
Verhaltensweisen Nachteile in Kauf nehmen, haben ebenfalls alle Optionen der
Meinungsfreiheit, sie haben aber wenig Gelegenheit, liberale Grundrechte in
Anspruch zu nehmen. 2020 wird offensichtlich, dass sich die existierende
Parteienlandschaft in einem Umbruch befindet, weil sie den Unterschied
.zwischen Meinungsfreiheit und
verantwortungsvoller Liberalität missachtet.
In
Westdeutschland gilt die Regel: Um zu
Wohlstand zu gelangen, muss man sich bemühen, zu sogenannten 'Mitte' der
Gesellschaft zu gehören:
- Für die konservativ orientierten Parteien CDU/CSU bedeutet das, sich von sozialistisch und national orientierten Randparteien wie Die Linken oder die AfD gleichermaßen nicht zusammenzuarbeiten.
- Für die sozialdemokratisch orientierte SPD bedeutet das, 'althergebrachten' Ideale der 'Arbeiterklasse' in der 'Mitte' zu verankern. Dabei übersieht die SPD das viele modern ausgebildete Mitbürger von der SPD nicht mehr repräsentiert wird..
- Für die Freien Demokraten bedeutet das, dass Mitbürger verpflichtet sind, unternehmerische Kreativität wahrzunehmen.
In
Ostdeutschland gelten andere Regeln: 1990 entstand in der DDR während der Zeit der Wende und
friedlichen Revolution die politische aktive Gruppe Das Bündnis 90. Sie war ein
Zusammenschluss von Vertretern der Bürgerbewegungen und Oppositionsgruppen in
der noch existierenden DDR, während der Zeit der Wende und friedlichen
Revolution. 1991 wurde die politische Partei Das Bündnis 90, die mit 2,9 Prozent
nur im ersten gemeinsamen Deutschen Bundestag aufgrund einer Ausnahmeregelung
vertreten war. 1993 ging Bündnis 90 gemeinsam mit Die Grünen in der heutigen
Partei Bündnis 90/Die Grünen auf. Die
Partei Bündnis 90 / Die Grünen
sind 2020 vom Umbruch der existierenden Parteienlandschaft nicht betroffen.
In Westdeutschland erhält die Partei großen
Zuspruch – vermutlich weil sie frühzeitig die Zeichen der Zeit erkannte:
- Fatale Folgen der Umweltveränderungen durch global agierende, die Ökonomie dominierende Großkonzerne.
- Gravierende soziologische Veränderungen traditioneller Arbeitsverhältnisse
- Das Bemühen um die sogenannte 'Mitte' der Gesellschaft ergab politisch immer weniger Sinn
- Die Vereinigung von Vertretern West- und Ostdeutschlands vermied innerparteiliche destruktive, polarisierende Kontroversen
In
Ostdeutschland konkurriert Die
Partei Bündnis 90 / Die Grünen
mit Wählern der Partei Die Linken, deren Vertreter vorwiegend idealen
Vorstellungen der gescheiterten DDR verhaftet sind und bei der Wiedervereinigung
nicht beachtet wurden:
- Sozial orientierte Einrichtungen wie Politkliniken wurden aufgelöst
- Die strikte Trennung von Staat und Religion wurde aufgegeben
- Die Umwandlung volkseigener Betriebe in Privatbesitz begünstigte westdeutsche Unternehmen und führte zu großer Arbeitslosigkeit.
- Bei Besetzung der Führungskräfte von Unternehmen und Behörden wurden westdeutsche Personen bevorzugt.
Ein
wesentlicher Unterschiede zur westdeutschen Gesellschaft betrifft die
demokratische Grundeinstellung: Vertrete der Bürgerbewegungen und
Oppositionsgruppen der DDR erhielten bei der Wahl zum ersten gemeinsamen
Deutschen Bundestag lediglich 2,9
Prozent der Stimmen. Vermutlich darf man annehmen, dass 2020 viele ostdeutsche Mitbürger der
politischen Meinungsfreiheit mehr Bedeutung zumessen als demokratisch
orientierter Liberalität. Diese Vermutung ist gewagt, und dürfte Teil
existierender Ressentiments zwischen West- und Ostdeutschen sein.
Wer
hätte.es 2020 für möglich gehalten, dass
sich Landtagsabgeordnete der FDP,
und der CDU mit Vertretern der AfD verabreden, um einen
Ministerpräsidenten der 5 Prozent Partei FDP zu wählen, der außerstande
ist, eine demokratisch orientierte
Regierung zu bilden und sich in die Abhängigkeit des AfD Landesvorsitzenden Björn
Hocke begibt, der nachweislich nazistische Vorstellungen vertritt? Und das
alles rechtfertigten FDP und CDU mit der Meinungsfreiheit der
Landtagsabgeordneten, obwohl es es sich um eine Verletzung politischer
verantwortungsvoller demokratischer Liberalität handelte.
Der
gewählte FDP Ministerpräsident hat mittlerweile seinen Rücktritt erklärt. Jetzt
gilt es die Bevölkerung sowohl West- als
auch Ostdeutschlands demokratische Meinungsbildung zurückzugewinnen.
Es
genügt nicht, sich an gewohnten Prinzipien zu orientieren und demokratische
Missstände zu kritisieren. Es kommt darauf an, dass sich alle Beteiligen -
Politiker, Unternehmer, Journalisten und Bürger - bemühen, konstruktive
Vorstellungen demokratischer Denk- und Verhaltensweisen zur Geltung zu bringen.
Die
derzeit anstehenden Diskussionen werden spannend sein aber auch Gelegenheiten
bieten, autoritären Denk- und Verhaltensweisen (vorwiegend vermittels 'sozialer
Medien') Vorschub zu leisten. Donald Trump und Boris Johnson (und auch andere)
lassen grüßen.
Peter Hiemann schrieb: Nur wenige Beiträge der TV-Diskussionsrunden widmen sich historisch bedingten Ursachen der verfahrenen demokratischen Krisensituation (nicht nur in Thüringen).
AntwortenLöschenEs ist erwünscht, dass individuelle Einschätzungen dargestellt werden, um unterschiedliche Meinungen zu verdeutlichen – eine konstruktive Denk- und Verhaltensweise. Individuelle Einschätzungen, die lediglich das Wahlverhalten im Thüringer Landtag in Frage stellen oder kritisieren sind eher destruktiv – sie nutzen der AfD. Es genügt nicht, sich bei individuellen Einschätzungen auf Meinungsfreiheit zu beziehen, aus welchem Grund auch immer.
Am Beispiel parlamentarischen Verhaltens in Thüringen ist deutlich geworden, dass viele an der verfahrenen Situation Verantwortlichen – Politiker, Unternehmer, Journalisten und Bevölkerung – liberale, demokratische Denk- und Verhaltensweisen missachtet haben. Die einzige Möglichkeit, aus der verfahrenen Situation (nicht nur in Thüringen) herauszukommen, sehe ich darin, zukünftig liberale, demokratisch orientierte Vorstellungen konstruktiv zur Geltung zu bringen. Die allzeit verfügbaren Smartphones und mediale Vernetzungen werden politische Rahmenbedingungen erfordern, um demokratische Grundrechte zu schützen.
Wir alle stehen vor schwierigen, aber interessanten Zeiten – nicht nur in Deutschland.
Heute hat sich Christian Lindner im deutschen Bundestag entschuldigt für sein Verhalten und das der FDP in der Thüringer Affäre um die Wahl von Thomas Kemmerich. Eine Entschuldigung ist wohl das Einfachste. Dass eine ganze Partei zurücktritt, das ist in unserer Verfassung nicht vorgesehen.
AntwortenLöschenWir machen es uns zu leicht, wenn wir nur auf die FDP schimpfen. Auch das sagt Heribert Prantl. Leider hat er Recht. Wir benehmen uns nämlich fast alle wie die FDP. Wir verharmlosen die AfD.
AntwortenLöschenZu AKK zumindest ein Nachwort: Für ein Leben als Kanzler-Kandidatin ist der Mensch (AKK) nicht schlecht genug. Ob es für die Landesverteidigung reicht, wird sich noch zeigen.
Klaus Küspert aus St. Leon-Rot schrieb: Ich leide still mit den Thüringer Freunden und Bekannten. Eine Fortsetzung der weitgehend erfolgreichen Arbeit der letzten fünf Jahre auf Landesebene seitens Ramelow, Tiefensee, Taubert et al. wäre zu begrüßen. Sei es durch zeitnahe direkte Wiederwahl von Bodo Ramelow im Landtag, sei es durch Übergangslösung mit anschließender baldiger Neuwahl des Landtags mit dann zu erwartenden klareren Mehrheitsverhältnissen.
AntwortenLöschenGestern, am 4.3.2020, bekam Thüringen endlich eine neue Regierung. Gewählt wurde Bodo Ramelow (Linke) mir einfacher Mehrheit im dritten Wahlgang. Dieselbe Option gab es bereits gleich nach der Wahl.
AntwortenLöschenZustimmung fand Ramelow dafür, dass er sich nach der Wahl nicht von Björn Höcke, seinem Gegenspieler, gratulieren ließ.
Linkes Glück: So sehr ich es Bodo Ramelow gönne, wieder Ministerpräsident zu sein, ihm muss es aber ganz schön aufgestoßen sein, was gerade prominente Mitglieder seiner Partei fordern, nämlich dass wir 1% unserer Mitbürger erschiessen, weil sie viel Geld haben. Auch der Parteivorsitzende Bernd Riexinger ist nicht besser. Er würde die 1% in von ihm ausgewählten Jobs Zwangsarbeit verrichten lassen. Die 1% sind immerhin über 800.000 Menschen. Wer solche Parteifreunde hat, der benötigt keine Feinde.
AntwortenLöschenPeter Hiemann aus Grasse schrieb: Menschen denken und handeln entsprechend unterschiedlicher Situationen durchaus unterschiedlich:
AntwortenLöschen- Sie denken destruktiv und agieren aggressiv,
- oder sie denken ideologisch und agieren rituell,
- oder sie denken offen und agieren konstruktiv.
Ideologisch eingestellte Menschen – ob Vertreter religiöser Institutionen, Vertreter politischer Parteien, Vertreter der Presse oder Vertreter der sogenannten 'bürgerlichen Mitte' – verhalten sich durchaus aggressiv oder konstruktiv entsprechend unterschiedlicher Situationen.
Wir alle wollen individuelle Ansichten geltend machen. Oft wird dabei übersehen, dass mentale unterschiedliche Einstellungen sowohl von unterschiedlichen Sachthemen als auch von unterschiedlichen emotionalen Verfassungen geprägt sind. Bodo Ramelow agiert konstruktiv.