Freitag, 28. Juni 2013

Levantinische Denkweisen von Milet bis zur Wall Street

In dem Beitrag überschrieben ‚Von Milet nach Toledo‘ gab ich meine Version der abendländischen Geistesgeschichte zum Besten. Ich glaubte, ich hätte so etwas wie eine kohärente Erzählung, eine Story. Wie man sich doch täuschen kann. Selten erschien es, als ob zwei oder drei Bücher eines Autors ausgereicht hätten, um mein Weltbild total zu verändern. In diesem Falle ist es mein Geschichtsbild. Mir ist schon lange klar, dass Geschichte nichts anderes ist als eine Erzählung. Wie oft habe ich schon meine Zuhörer überrascht, wenn ich Teile der abendländischen Geschichte geringfügig anders erzählte, als sie in den Geschichtsbüchern stand, die während meiner Jugend in der Schule benutzt wurden. Dieser Blog enthält eine Reihe von Kostproben in Form historischer Essays.

Ein bekannter Grund dafür, warum Geschichte immer sehr einseitig erzählt wird, ist die Tatsache, dass sie (fast) immer von den Siegern erzählt wird. Fast jedes Jahrhundert kannte geistige oder meistens auch blutige Auseinandersetzungen. Meistens gab es Unterlegene, die oft glücklich waren, dass man sie überhaupt am Leben ließ. Alle Erzählungen, wie viel besser die Argumente (und die Streitkräfte) der Sieger waren, blieben meistens unwidersprochen. Eng damit zusammen hängt der regionale Blickwinkel. Viele Bekannte, die aus andern Teilen Deutschlands stammen als ich, wundern sich manchmal über die von mir benutzte Sichtweise der deutschen Geschichte. Ein typisches Beispiel ist die Rolle Preußens. Dass ein Rheinländer oder Bayer kein besonderer Verehrer preußischen Heldentums ist, wird oft als Kuriosität empfunden.

Was mir innerhalb Deutschlands durchaus geläufig war, hatte ich (fälschlicherweise) nicht beachtet, was die abendländische Geschichte anbetraf. Die geistigen und militärischen Sieger des Abendlandes waren bekanntlich zuerst auf der griechischen Halbinsel und in Kleinasien die Griechen gegen die Perser, dann auf dem italienischen Stiefel und im östlichen Mittelmeer die Römer gegen die Phönizier (besser bekannt als Karthager), dann weiter im Westen wieder die Römer jetzt gegen die Gallier und Germanen. Erst seit Karl dem Großen (und Alkuin von York) etablierten sich die Germanen im westlichen Europa als die kulturellen Sieger. Sie schauten zunächst nur nach Rom, bis dass einige Jahrhunderte später auch die Welt der Griechen wiederentdeckt wurde. An Phönizier und Perser dachte zunächst kaum jemand mehr, von Ägyptern, Indern und andern Kulturen ganz zu schweigen.

Levante

Die drei Bücher, die ich im Folgenden besprechen werde, wurden in New York geschrieben. Der Blick auf die Welt und auf die Weltgeschichte erfolgt jedoch immer wieder von der Levante aus. Die Levante ist die Ostküste des Mittelmeers. Es ist die ursprüngliche Heimat der Phönizier. Die Phönizier hatten Niederlassungen, sowohl an der kleinasiatischen Nordküste, wie an der afrikanischen Südküste des Mittelmeers. Nach dem Untergang Karthagos breitete sich zuerst das Griechentum unter Alexander dem Großen in diesen Gebieten aus. Später waren es die Römer, vor allem zurzeit von Kaiser Augustus. Sowohl Griechen wie Römer hatten Kontakte zu den Ägyptern. Es entstanden Zentren der Hochkultur, zuerst in den phönizischen Städten Byblos, Sidon und Tyros, danach in Alexandrien und Antiochien und schließlich in Byzanz, dem späteren Konstantinopel.

Das Oströmische Reich mit seiner Hauptstadt Konstantinopel bestand bis ins 15. Jahrhundert. An seine Stelle trat für etwa 400 Jahre das Osmanische Reich. Beide, Ostrom und die Hohe Pforte, waren keine Nationalstaaten, sondern Imperien bestehend aus einem Vielvölkerverbund. Eines der wirtschaftlichen Zentren, sowohl Ostroms wie des Osmanischen Reiches, war die Levante. Erst nach dem Ersten Weltkrieg wurde das Gebiet zunächst zwischen den Einflusszonen Englands im Süden und Frankreichs im Norden aufgeteilt. Aus dem englischen Teil gingen die heutigen Staaten Ägypten, Saudi Arabien, Jordanien, Palästina und Israel hervor. Aus dem französisch dominierten Teil gingen Syrien und der Libanon hervor.

Autorprofil

Der Autor, um den es im Folgenden geht, heißt Nassim Nicholas Taleb (*1960), und ist gebürtiger Libanese. Er stammt aus einer alten christlichen Politiker- und Diplomatenfamilie. Er verließ seine Heimat, um in den USA zu studieren. Er blieb nach dem Studium dort und wurde unter anderem Derivatehändler an der Wall Street. Nach langer Durststrecke erwies sich die Finanzkrise von 2008 als seine große Gewinnchance. Seither ist er wirtschaftlich unabhängig. Zurzeit ist er Professor an der New York University und an der London Business School. Taleb spricht fließend Englisch, Französisch und Arabisch. Außerdem beherrscht er Italienisch, Spanisch, Griechisch, Latein, Hebräisch und Aramäisch.

Literarischer Durchbruch

Das Buch, mit dem der Autor 2008 bekannt wurde, hatte den Titel ‚Der Schwarze Schwan‘. Taleb benutzte darin ein auf den schottischen Philosophen David Hume (1711-1776) zurückgehendes Bild, um klarzumachen, dass Induktion keine sichere Schlussweise ist. Selbst wenn man Tausende weiße Schwäne gesehen hat, ist das kein Beweis, dass es nur weiße Schwäne gibt. Aber nur ein einziger schwarzer Schwan reicht aus, um die Existenz schwarzer Schwäne zu beweisen. (Inzwischen hat man schwarze Schwäne in Tasmanien beobachtet.) Taleb versteht unter einem schwarzen Schwan ein unvorhersehbares, seltenes Ereignis, das wir aber nicht ausschließen können. Sein Standardbeispiel ist die Lehman-Pleite und der nachfolgende Börsenzusammenbruch. Taleb nennt die Denkweise, die keine schwarzen Schwäne zulässt, auch die Truthahn-Logik. Ein Truthahn, der von seinem Metzger gemästet wird, hält diesen mit zunehmender Sicherheit für ein ihm freundlich gesinntes Wesen. An Thanksgiving kommt die Überraschung. Kein Truthahn überlebt, um andere zu warnen. Ein Börsianer darf nicht so tun, als ob es keine schwarzen Schwäne gibt. Generell kann man Daten nutzen, um eine Behauptung zu entkräften, jedoch niemals um sie zu beweisen.

Erstlingswerk

Das erste Buch dieses Autors heißt ‚Narren des Zufalls‘. Es erschien im Jahre 2001. Darin vertritt der Autor die Meinung, dass der  Einfluss von Glück oder Zufall auf unser Leben und unsere Anlageentscheidungen meist unterschätzt wird. Während Glück von erfolgreichen Menschen oft als eigenes Geschick interpretiert wird, halten sie die Rolle des Zufalls für Bestimmung. Solche Menschen seien glückliche Narren. Er will sie nicht loswerden. Sie sollten sich nur dieser Tatsache bewusst werden. Er selbst gehöre oft dazu. Wie Daniel Kahnemann, der aus derselben Weltgegend (Israel) stammt, nachwies, können wir Menschen mit Zufall nicht gut umgehen. Wir versuchen alles zu rationalisieren, meistens rückwirkend. Von dem was Kahneman kognitive Verzerrungen nennt, sieht Taleb vor allem die narrative Verzerrung am Werk. Bei Kahneman hieß es dazu:

Wir versuchen immer aus der Vergangenheit eine kohärente und kausale Geschichte zu machen. Wir überschätzen unser Wissen über die Welt. Wir bemühen uns die Vergangenheit zu verstehen und weigern uns, Zufall als dominierend anzuerkennen.

Dabei machen wir sehr oft Rückschau-Fehler, d.h. wir beurteilen die Vergangenheit mit Wissen von heute. Genau wie Kahneman ist Taleb der Meinung, dass unser Gehirn nicht mit Wahrscheinlichkeiten umgehen kann. So halten fast alle Leute ein Erdbeben in Nordamerika für ein geringeres Risiko als ein Erdbeben in Kalifornien, wohlwissend dass Kalifornien ein Teil Nordamerikas ist.  Ein Toter durch die Vogelgrippe erregt mehr Aufsehen als der Tote durch einen Verkehrsunfall, obwohl letztere wesentlich häufiger sind. Man bewertet Risiken oft rein emotional. Taleb ist der Ansicht, dass Kahneman (und sein verstorbener Kollege Tversky) das wirtschaftliche Denken der Welt bereits mehr beeinflusst haben als John Keynes und Milton Friedman zusammen.

Griechisches Erbe

Taleb hält viele der Grundideen, von denen der Westen sich leiten ließ, stärker von Utopien geprägt als von echtem Weltverständnis. Der Grund: Das Abendland wurde von dem ‚dogmatischen Rationalismus‘ des hellenistischen Zeitalters geprägt, ein Thema, das auch im neuen Buch Talebs eine große Rolle spielt (siehe unten). Eine Drillform, die das Denken besonders kujonierte, nannten sie Logik. Dieses Erbe führte dazu, dass wir für Symbolismus anfällig wurden. So glaubten einige, dass Nasenkratzen ausreichen würde, um Regen herbeizuführen. Oder anders gesagt, für viele Menschen ist eine schlechte Erklärung besser als keine. Europa hatte eine Chance heil über die Runden zu kommen, hätte man auf Montaigne (1533 – 1592) statt auf Descartes (1596 – 1650) gehört. Danach suchte man nur noch nach der Maschine im Menschen.

Die Geschichte lehrt uns, dass Dinge, die nie zu geschehen scheinen, doch geschehen. Diese ‚seltenen Ereignisse‘ widerlegen die Annahme, dass sich die Natur  oder die Wirtschaft kontinuierlich entwickeln. Sie lassen sich aus Zeitreihen nicht vorhersagen. Seltene Ereignisse mögen eine geringe Wahrscheinlichkeit haben. Sie ist jedoch > 0. Man muss sich auch gegen sie absichern, sonst kommt es zu Katastrophen (engl. Blow ups). Bevor die Aufklärung übernahm, verfügte die Menschheit nur über Heuristiken, also eine Art von Trickkiste. Ganz langsam beginnt der Westen einzusehen, dass man mit Logik allein nicht alle Probleme lösen kann. Andere Kulturen haben dies nie behauptet. Zwei Beispiele, die eindeutig in diese Richtung zeigen, werden mit den Begriffen Pfadabhängigkeit und Netzwerk-Effekt beschrieben. Das eine bedeutet, dass historische Fakten in Betracht gezogen werden, das andere berücksichtigt psychologische Gegebenheiten.

Der Philosoph Karl Popper, mit dem wir uns auch in diesem Blog beschäftigt haben, hat den Autor sehr beeinflusst. Popper habe der Wissenschaft ihre absolutistische Autorität genommen. Nach ihm sind Theorien nie richtig. Sie sind entweder schon falsifiziert oder noch zu falsifizieren. Den Ausführungen Poppers zum Trotz nehmen wir dennoch die Wissenschaft viel zu ernst. Popper unterlief der Fehler, dass er annahm, dass die Falsifikation immer fehlerfrei ist.

Meisterwerk

Das dritte Buch mit dem Titel ‚Antifragilität‘ betrachtet der Autor als sein Meisterwerk. Es umfasst 668 Seiten und erschien im Jahre 2012. Der Titel ist eine Wortschöpfung, abgeleitet von fragil, also zerbrechlich. Das Buch fasst quasi sein Weltwissen zusammen. Es ist eine Abrechnung mit Allem, was schlecht ist, und Allen, die ihm zuwider sind. Es beginnt im Altertum und endet in unseren Tagen. Dazwischen gibt es, wie schon in den anderen Büchern, autobiografische Einlagen. Dass wir Europäer so denken, wie wir es tun, gehe auf die altgriechischen Klassiker (Platon, Aristoteles) und deren Interpreten, die Araber, zurück. Deren Sichtweise habe uns nicht nur genutzt.

Thales von Milet

Schon am Beispiel des Thales von Milet (um 624 – 547 vor Chr.) sei eine ganz eindeutige Verfälschung nachweisbar. Ich bringe diese Geschichte ausführlich, weil sie besser als alle anderen die Botschaft des Buches verdeutlicht. Thales war phönizischer Abstammung. Während seine Freunde alle als Händler erfolgreich waren, hänselten sie ihn, weil er eine brotlose Kunst betreibe, das Philosophieren. Thales rückte die Dinge daraufhin kurz zurecht. Er kaufte Optionen (bitte den Begriff merken!) auf alle Ölmühlen in Milet und der vorgelagerten Insel Chios. Als im darauffolgenden Jahr die Olivenernte besonders ergiebig ausfiel, nahm er die Option wahr. Er wurde daraufhin ein reicher Mann und konnte für den Rest des Lebens Philosophie betreiben. Soweit Talebs Version der Geschichte.

Was ist uns armen Abendländern bezüglich dieser Geschichte überliefert worden? Antwort: Nur was in das Weltbild der griechischen Klassiker passte. Es gibt zwei Versionen. In der einen halfen die Götter. In der andern Version, die Aristoteles erzählte, war es die Wissenschaft. Thales sei in der Lage gewesen, das Wetter der Region (aus den Sternen) und damit die Olivenernten vorherzuberechnen. Das kann aber heute noch niemand (!). Dass es Zufall war, wird einfach ausgeschlossen, bzw. uminterpretiert.

Lehre der Stoa

Talebs Lebensregeln erinnern an die Philosophie der Stoiker. Immer wieder bezieht er sich auf Seneca (1 - 65 n. Chr.). Es sei entschuldbar, dass man Erdbeben, Tsunamis, Revolutionen usw. nicht vorhersagen kann. Es sei jedoch nicht entschuldbar, so zu bauen oder zu tun, als ob es sie nicht gäbe. Besser als zu versuchen Habgier auszulöschen, sei es die Wirtschaft so umzubauen, dass Habgier ihr nichts anhaben kann. Man darf sich nicht verschulden, weder gegenüber anderen Leuten, noch gegenüber dem Schicksal. Besitz schafft Asymmetrie. Man wird dadurch gegen Verlust empfindlicher als gegen entgangenen Gewinn. Man muss sich geistig von Besitz lösen, ebenso wie von Emotionen. Man muss Furcht in Klugheit umwandeln, Schmerz in Information. Fehler, die man macht, sollte man als Chancen sehen, als Anstöße zum Lernen. Reichtum sei der Sklave des Weisen und der Herrscher des Narren.

Grenzen des Wissens

Fast ebenso stark argumentiert er gegen eine Überbetonung des Wissens und der Wissenschaftlichkeit. Was nicht messbar und vorhersagbar ist, bleibt es, egal wie gut die Mathematik ist, die wir beherrschen. Ein System, das auf der Notwendigkeit beruht, Wahrscheinlichkeiten berechnen zu können, muss zusammenbrechen. Der direkte Weg von der Wissenschaft zur Technik und dann in die Praxis wurde als Ideal von Francis Bacon (1561 – 1626) propagiert. Es funktionierte bisher nur ein einziges Mal, nämlich beim Bau der Atombomben. Nach dieser Logik müsse die Mathematik in Verbindung mit der Ornithologie den Vogelflug zustande gebracht haben. Manche Wissenschaftspublizisten versuchen,  ̶  in analogen Fällen  ̶  den Laien einzureden, dass es nur so und nicht anders gewesen sein kann. Dass Bildung Wohlstand zur Folge habe sei ein Epiphänomen, d.h. nicht kausal erklärbar. Es sei eher umgekehrt. Als Beispiele nennt er Ägypten für hohe Bildung bei niedrigem Wohlstand, und die USA mit niedriger Bildung bei hohem Wohlstand.

Hanteln und Handeln

Sowohl an der Börse wie im Leben allgemein gelte der Grundsatz: Überleben geht vor Gewinnen. Das ist ein elementares Beispiel von Pfadabhängigkeit. Daher empfiehlt er für alle Formen von Anlagen eine so genannte Hantel-Strategie. Man legt die Gewichte nicht in die Mitte, sondern an die beiden Enden. Übersetzt in die Investor-Sprache: Man soll nicht alles auf das mittlere Risiko setzen; lieber einen Teil auf ein geringes Risiko und einen Teil auf ein hohes. Die Gefahr, dass man alles verliert, ist dann geringer. Bei einer Hantel werden Fragilitäten (siehe unten) entfernt. 


Auch Montaigne habe eine Hantelstrategie verfolgt. Bei ihm hieß sie: Zuerst handeln, dann reflektieren. Volatilität im Markt ist eine Form von Unordnung. Manchen Menschen widerstrebt es, sich Unordnung auszusetzen. Alles Nicht-Lineare ist entweder konvex oder konkav je nach Intensität des Stressors. Wir können die Funktion f(x) manipulieren, auch wenn wir x nicht kennen. Wir können beides ‚behanteln‘, d.h. uns dagegen wappnen. Immer wieder lässt er jüdische Spruchweisheiten einfließen, etwa diese: Triff Vorsorge für das Schlimmste; das Beste erledigt sich von selbst.
  
Bei Thomas von Aquin stehe der Satz, der Handelnde bewege sich nie ohne Ziel. Als Quelle gibt Thomas jedoch korrekterweise nicht Aristoteles an, sondern dessen arabischen Interpreter Ibn Rushd (Averroes). Taleb nennt dies die Touristen-Strategie. Ein Tourist folgt immer seinem Plan. Das Gegenstück sei der Flaneur. Der verändert laufend seine Ziele auf rationale Art. Er ist nicht Gefangener seines Planes. Immer wieder wird Steve Jobs zitiert. Hier ist es der Satz: Menschen wissen nicht, was sie wollen, bevor man es ihnen gibt. Jobs war für ihn eine Lichtgestalt in der ansonsten unverstandenen Geschäftswelt, dazu noch mit levantinischen Vorfahren.

Optionen als Geschäft

Was den USA bisher zum Erfolg verhalf, sind nicht ihre Rohstoffe oder ihre Wissenschaft.  Es sei die Tatsache, dass sie besser als andere Länder wüssten, was Optionalität ist und wie man mit ihr umgeht. Thales von Milet, der oben erwähnt wurde, erwarb eine Option auf Olivenpressen. Optionen sind asymmetrisch. Sie sind ein Recht, aber keine Pflicht. Vor allem benötigt man kein Wissen über die Zukunft. Man muss nur in der Lage sein, günstige Resultate zu erkennen, und zwar in dem Moment, in dem sie eintreten. Die Kosten des Irrtums sind bekannt und klein.


Als einfache Formel ausgedrückt, kann man sagen: Option = Asymmetrie + Rationalität. Optionen sind Ersatz für fehlendes Wissen. Sie sind die beste Waffe der Antifragilität. Wie in der Grafik dargestellt, ist der Zusammenhang zwar nicht-linear, aber konvex. Die Enden der Kurve zeigen nach oben. Der Verlauf im negativen Bereich ist strikt limitiert, nicht jedoch der positive Teil. Die Asymmetrie zwischen Vor- und Nachteilen ist klar erkennbar. Je mehr Unsicherheit herrscht, desto stärker kann eine Option sich auswirken.

Triade der Widerstandsfähigkeit

Der Kern des Buches ist die Beschreibung einer ‚Triade‘ von Eigenschaften, die Strukturen, Dinge oder Unternehmungen haben können. Die relevanten Eigenschaften sind:
  • Fragil: Sie erleiden Schaden durch Fehler, Störungen oder Variabilität
  • Robust: Sie sind unempfindlich gegenüber Fehlern, Störungen oder Variabilität
  • Antifragil: Sie profitieren von Fehlern, Störungen oder Variabilität
Was mit dem Schlagwort Risiko-Management beschrieben wird, habe im Allgemeinen wenig Substanz. Es ist nämlich wenig sinnvoll, sich über Risiken Gedanken zu machen. Diese liegen nämlich stets in der Zukunft. Sie sind uns daher verborgen. Ebenso falsch ist es, nur in der Vergangenheit zu suchen. Alle aus der Vergangenheit abgeleiteten Schlussfolgerungen sind Induktionsschlüsse. Sie sehen keine seltenen Ereignisse vor, keine schwarzen Schwäne. Besser ist es sich auf die Feststellung der obigen Eigenschaften zu konzentrieren. Diese kann man hier und heute untersuchen. Die Triade liefere Hinweise, was man tun kann, um in einer Welt zu leben, die wir nicht verstehen.

Lebensweisheiten

Vieles, was die Länge des Buches ausmacht, sind Weisheiten allgemeiner Art. Er hat sie außer bei Stoikern (wie Seneca) noch bei Nietzsche, Wittgenstein, Jobs oder Yogi Berra (dem Coach der NY Yankees) gefunden. Einige, die mir besonders gefielen, seien herausgegriffen: 
  • In der Theorie gibt es keinen Unterschied zwischen Theorie und Praxis. In der Praxis schon. (Yogi Berra)
  • Vielleicht gibt es ein Reich der Weisheit, aus dem der Logiker verbannt ist. (Nietzsche)
  • Unsere Sprache ist nicht in der Lage die Wirklichkeit auszudrücken. (Wittgenstein)
Mehrere Themen, die er behandelt, liegen außerhalb seines Erfahrungsbereichs. Seine Aussagen sind dennoch interessant und beachtenswert. Das gilt z.B. für die Evolution. Sie bewege sich durch richtungslose, konvexe ‚Bricolage‘ (deutsch: Heimwerken) vorwärts, durch robustes Tüfteln, durch wiederholte, kleine, lokal begrenzte Fehler. Das sei das Gegenteil von dem, was die Wissenschaft betreibe, wenn sie top-down vorgehe. Aus dem Gedankengut der levantinischen Heilkunde stammt der Begriff der 'via negativa' (deutsch: negativer Weg). Etwas wegzunehmen sei meist besser als etwas hinzufügen. Fasten könne oft nützlicher sein als Essen. Die moderne Medizin ignoriere zu leicht die Selbstheilungskraft der Natur. Man solle einen Arzt nicht unter Druck setzen, für jedes kleine Übel gleich ein Medikament zu verschreiben. Oft helfe dies lediglich der Pharma-Industrie.

Zeitkritik

Seitenweise wettert er gegen Neomanie. Das ist die Leidenschaft für das Moderne um seiner selbst willen. Sein Motto heißt, was lange bestanden hat, hat bewiesen, dass es gut ist. Deshalb empfiehlt er griechische und römische Autoren. Gerne lasse er alles weg, was es bei seinen Vorfahren nicht gab. Je älter eine Technologie ist, desto länger würde sie sich halten. Eine Technologie existiert nämlich informationell, nicht physisch. Im Gegensatz zum Menschen altert sie nicht organisch. Bei allen Techniken, die in die Natur eingreifen (wie die Gentechnik), sieht er die Beweislast bei denen, die etwas Neues machen. Die Mutter Natur wisse nämlich mehr als wir Menschen. Dass er sich mit papiernen Büchern wohler fühlt als mit E-Books, ist schon fast schrullig [Ich las keines seiner Bücher auf Papier]. Völlig überraschte mich, dass er am Schluss geradezu Gift und Galle in Richtung einiger anderer Autoren verspritzt, so auf Thomas Friedman und Joseph Stiglitz.

Fazit und Plädoyer

Das Buch ist eine vehemente Anklage gegen 'Fragilisten' aller Art: unkündbare Beamte, Wissenschaftler, Journalisten, den Teil des medizinischen Establishments, der vor allem die Pharma-Industrie unterstützt. Noch streichen Banker weiterhin Boni ein für den Teil der Geschäfte, der Gewinne abwirft. Der Steuerzahler trägt immer noch die Verluste. Die Idee eines Rückhol-Bonus hat sich nicht durchgesetzt. Viele Banker benutzen verborgene Optionen auf Kosten der Firma oder der Gesellschaft. Wir benötigen Politiker, die Verantwortung für das Gemeinwohl übernehmen, Wissenschaftler, die sich zu ihren Fehlschlägen genauso bekennen wie zu ihren Erfolgen und Journalisten, die nicht nur durch Sensationen Aufmerksamkeit erheischen, sondern ehrlich informieren. Wir benötigten Alltagshelden, die sich für andere opfern und die bei ihren Unternehmungen die eigene Haut aufs Spiel setzen. Von ihnen hängt die Antifragilität einer Gesellschaft ab, nicht von Bankern, 
Kritikern, Spekulanten oder Drohnenlenkern.


Nachbemerkung am 29.6.2013:

Im vorangehenden Text habe ich nicht immer klar zum Ausdruck gebracht, was Talebs Meinung und was meine Meinung ist. Das ist nicht weiter schlimm. Im Zweifelsfall kann man annehmen, dass unsere Sicht nicht allzu verschieden ist.

Zufällig las ich dieser Tage einige Seiten in Josef Werles Seneca für Zeitgenossen. Der folgende Satz fiel mir auf: "Mit dem fünfzigsten Jahre begebe ich mich in den Ruhestand. Mit dem sechzigsten mach' ich mich frei von jeder amtlichen Tätigkeit". Nassim Taleb scheint dies fast gelungen zu sein. Mit Interesse las ich auch die Biografie Senecas. Es ist erschütternd, wie das Leben mit ihm umsprang. Er war reich, hatte Zugang zum römischen Kaiserhaus und wirkte als Erzieher des jugendlichen Nero. Nachdem dieser erwachsen war, zeigte sich dessen Wahnsinn. Zuerst ließ er seine Mutter Agrippina ermorden. Anschließend erteilte er den Befehl, dass Seneca Selbstmord verüben müsse. Die Macht von Senecas Worten hat seinen Körper jedoch bereits mehr als 2000 Jahre überlebt. Ähnlich erging es Senecas Zeitgenossen Jesus von Nazareth.

2 Kommentare:

  1. Am 28.6.2013 schrieb Calvin Arnason aus Portland, Oregon:

    To the Taleb book I would like to add his maxim regarding evaluating company performance: Don't neglect the graveyard of failed companies/strategies in your calculation of performance distribution. Most investment funds only look at the survivors. And his evaluation of unpredictable historical risks of casinos was very good.

    Winston Churchill knew what history was. He said: "History will be kind to me for I intend to write it."

    There are different kinds of 'heros' "who offer themselves for others and put their own skin at risk." There is George Washington, an effective hero of the first order in the traditional sense, and then there is a whole collection of radicals who managed the disaster of the French Revolution who also fit the description of Opfer und Haut. Clearly the USA at any rate needs a large number of different 'heros' than it currently has. And can anyone earnestly believe that the broad political leadership of Germany today compares favorably with that of the years 1950-1985 ???

    Another book that you might find interesting is
    How Civilizations Die: (And Why Islam Is Dying Too) by David Goldman (Sep 19, 2011). He abuses data correlation for sure. But it is worth reading for the surprising data on Muslim birthrate and his assertion of the importance of religion in sustaining civil life. He comes out of the same Wall Street maelstrom as Taleb.

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  2. Am 29.6.2013 schrieb Peter Hiemann aus Grasse:

    Nassim Taleb erreicht mit seiner These des „antifragilen“ Denkens vermutlich viele Leser, die nach neuen Möglichkeiten für erfolgversprechende Entscheidungen Ausschau halten. Kahnemans Aussage „Taleb hat meinen Blick auf die Welt verändert" scheint mir übertrieben und dient wohl vor allem, Talebs Buch „Antifragilität: Anleitung für eine Welt, die wir nicht verstehen“ zum Erfolg zu verhelfen. Kahneman gilt als Autorität, weil er 2002 für seine Untersuchungen "for having integrated insights from psychological research into economic science, especially concerning human judgment and decision-making under uncertainty" einen halben Sveriges Riksbank Prize in Economic Sciences in Memory of Alfred Nobel erhalten hat.

    Ob Talebs und Kahnemans Arbeiten einen wichtigen Beitrag zu den Themen „Evolutionäre Psychologie“ oder „Soziokulturelle Evolution“ leisten, kann ich nicht einschätzen.

    Ich kann Talebs Gedankengänge gut nachvollziehen. Ich teile Talebs Ansicht, dass viele menschliche Situationen Anlass für komplexe Entscheidungsprozesse geben, die nicht nur auf einer Analyse beruhen sollten, ob es sich bei existierenden oder zukünftigen Situationen um
    „fragile“ oder „robuste“ Zustände handelt, die obendrein als „berechenbar“ erachtet werden könnten. Die entscheidende Frage scheint mir: Wieweit reichen die menschlichen Fähigkeiten, mit unvorhersehbaren Veränderungen umzugehen?

    Ich vermute, dass das menschliche Gehirn nicht darauf eingerichtet ist, um in chaotischen Situationen (Stresssituationen) die Quelle für zukünftige vorteilhafte Situationen zu erachten. Alle evolutionstheoretischen Überlegungen sprechen dafür, dass evolutionäre Selektionsmechanismen dafür „sorgen“, existierende Funktionssysteme stabil zu halten oder bei Irritationen (Variationen) zu restabilisieren. Entsprechend werden sich angeborene mentale Eigenschaften wie zum Beispiel Ängstlichkeit auf menschliche Entscheidungsprozesse und menschliches Verhalten bestimmend (selektierend) auswirken. Entsprechend werden sich Massenphänomene wie Schwarmverhalten (vor allem auch bei politischen und ökonomischen Verhaltensweisen) erklären lassen.

    Dem Thema, welche Rolle mentale Zustände für menschliches Verhalten spielen, widmeten sich Journalisten 2010 ausgiebig in einer SPIEGEL Titelgeschichte: http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-74184597.html. Diese Geschichte erwähnt Steven Spielberg als „erfolgreichsten Regisseur aller Zeiten“ und Bill Gates als „für viele Jahre reichsten Mann der Welt“.

    Übrigens beschreibt der Neurowissenschaftlers David Linden (John Hopkins University in Baltimore, USA) in seinem Buch „Das Gehirn, ein Unfall der Natur, und warum es dennoch funktioniert“ (Originalausgabe 2007 unter dem Titel „The Accidental Mind. How Brain Evolution has given us Love, Memory, Dreams and God“), dass das menschliche Gehirn das Resultat einer Bastelei der biologischen Evolution ist, alles andere als das Resultat eines vorausschauenden perfekten „Designers“.

    Es wird sich als vorteilhaft erweisen, historische kulturelle und gesellschaftliche Entwicklungen unter evolutionären Gesichtspunkten zu betrachten. Spekulative Motivationen haben bei dieser Geschichte sicher eine erhebliche Rolle gespielt. Sie waren entscheidend für gesellschaftliche Veränderungen, die sich durch wissenschaftliche, technologische und ökonomische Möglichkeiten ergeben haben.

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