Samstag, 22. Juni 2013

Informatisches Denken als Teil der Allgemeinbildung

In dem Beitrag über Informatik in Schulen wurde der Begriff ‘Computational Thinking’ kurz erwähnt. Obwohl ich ihn dort quasi als bekannt voraussetzte, möchte ich hier erneut darauf eingehen. Der Ausdruck wurde im Jahre 2006 von Jeannette Wing in ihrem Artikel in den Communications der ACM (Vol. 49,3) geprägt. Das war vor sieben Jahren. Ich habe in Deutschland einen einzigen Vortrag gehört, der darauf einging (Barbara Paech 2010 in Stuttgart). Wahrscheinlich liegt dies aber an mir.

Das Thema selbst passt in den Rahmen dessen, was ich bereits zweimal diskutierte. Da mir ein Kollege einen Bericht über eine Tagung in den USA schickte, die zum zweiten Mal das Thema behandelte, habe ich mich auch noch einmal damit befasst. Bei den Zitaten, die folgen, mache ich etwas völlig Ungewöhnliches. Ich übersetze auch den für die USA neuen Fachbegriff ins Deutsche. Das Recht dazu nehme ich mir, weil wir mit dem Wort Informatik einen Begriff haben, um den die Amerikaner uns nur beneiden können. Manche unserer amerikanischen Kollegen sind nämlich die Spöttelei der Astronomen leid. Zu sagen, man betreibe ‚computer science‘ klänge doch so, als ob Astronomen sagen würden, dass sie sich mit ‚telescope science‘ befassten. Das Wort Informatik hat diese Konnotation nicht.

Sicht der Jeanette Wing

Beginnen möchte ich mit einem übersetzten Zitat. Im Gegensatz zum englischen Original fällt dabei einiges ins Gewicht, was wir im Deutschen kaum so sagen würden.

Informatisches Denken ist eine grundlegende Fähigkeit für alle Menschen, sie ist nicht nur für Informatiker wichtig. Neben Lesen, Schreiben und Rechnen sollten wir informatisches Denken zu den analytischen Fähigkeiten eines jeden Kindes hinzufügen. So wie die Druckerpresse die Ausbreitung der drei Rs [Abkürzung für engl. Reading, (W)Riting, (A)Rithmetic] erleichterte, so ist die Vision angemessen, dass Rechnen und Rechner die Ausbreitung des informatischen Denkens erleichtern. Informatisches Denken umfasst die Lösung von Problemen, die Entwicklung von Systemen, und das Verständnis menschlichen Verhaltens, indem sie diese auf die grundlegenden Konzepte zurückführt, auf denen die Informatik aufbaut. Informatisches Denken umfasst eine Reihe von geistigen Werkzeugen, die die ganze Breite der Informatik reflektieren.

Die Diskussion in Deutschland scheint mir dadurch gekennzeichnet, dass man zu den Gedanken von Jeannette Wing auf Distanz geht. Anscheinend trauen wir Informatiker uns nicht, den Philologen und Psychologen zu sagen, wie Kinder denken lernen sollen. Dabei ist es höchstens ein einziger Punkt im obigen Zitat, an dem wir uns stören sollten, nämlich dass Informatik Mittel dazu liefert oder bereit hält, um das Verhalten von Menschen zu verstehen. Vielleicht gibt es sogar auf dieser Seite des Atlantiks einige Kollegen, die Jeannette Wing in diesem Punkte Recht geben. Ich gehöre nicht dazu.

Wie andere Autoren vor und nach ihr, ringt Jeannette Wing damit zu erklären, was es ist, was die Menschheit von Informatikern lernen kann. Nach ihrer Meinung besteht die Welt der Informatiker aus Problemen, für deren Lösungen Algorithmen oder  ̶  genauer gesagt  ̶  künstlich herbeigeführte Prozesse in Frage kommen. Dass überall im Leben Prozesse eine Rolle spielen, liegt auf der Hand. Das Wort ist zu allumfassend. Es gibt Prozesse in der Astronomie, Physik, Chemie und Biologie, aber auch in Gesellschaften, vor Gericht, in der Technik und im Geistesleben.

Informatiker haben als Erstes verstanden, dass man Prozesse, um sie zu verstehen, von vielen Dingen befreien muss. Abstrahieren nennen das einige Kollegen. Der tatsächliche oder der abstrahierte Prozess muss dann beschrieben werden. Informatiker nennen das Spezifikation. Manchmal wird das Präfix ‚Ist‘ oder ‚Soll‘ dazugeschrieben. Wer das tut, bringt zum Ausdruck in welcher Richtung er die Beweisverpflichtung sieht. Im Falle der Ist-Spezifikation besteht die Beweispflicht zwischen Realität und Beschreibung. Im Falle der Soll-Spezifikation gibt es eine doppelte Unsicherheit. Einmal muss die Spezifikation die eigentliche Absicht des Autors darstellen, zum Zweiten muss das erzeugte Produkt, also der neue Prozess, der Spezifikation entsprechen. Mit dieser Problematik haben Informatiker fast immer zu kämpfen. Im einen Falle spricht man von Validierung, im andern von Verifizierung. Ähnlich wie in der Erkenntnistheorie Poppers gibt es nur Programme, für die Fehler bekannt sind, und solche, für die keine mehr bekannt sind. Das Debugging ist nie zu Ende. Auch viele Informatiker haben Probleme, dies zu verstehen.

Jeannette Wing hebt hervor, wie sehr Ingenieurdenken in der Informatik eine Rolle spielt. Informatiker fragen nämlich, ob ungefähre Lösungen gut genug sind, und ob negative oder positive Suchfehler oder Fehlalarme vorliegen. Rekursive Denkansätze können helfen, oder Parallelverarbeitung. Daten können Typen repräsentieren, mehrere Namen können dasselbe Objekt bezeichnen. Programme können außer, dass sie einen falschen Algorithmus richtig oder einen richtigen falsch darstellen, noch andere Fehler haben. Es kann zwar funktional richtig (im doppelten Sinne, d.h. bezogen auf die eigentliche Absicht oder auf die Spezifikation), aber ineffizient oder unelegant sein.

Komplexe Aufgaben werden in Teilaufgaben zerlegt und die Lösungen zusammengefügt. Modularisieren ist enorm wichtig, nicht nur wegen der Aufteilung der Entwicklung, sondern auch um Optionen zu gewähren. Wir vertrauen einem komplexen System, ohne es im Detail zu verstehen. Für jede Aufgabe gibt es eine andere optimale Darstellung. Die für das Verständnis geeignete Struktur kann auch für die Arbeitsaufteilung hilfreich sein. Im Hinblick auf die Laufzeit ist oft eine andere Struktur optimal als für das Verständnis und die Entwicklung. Laufzeit kann durch zusätzlichen Speicher erkauft werden und umgekehrt. Man kann Dinge vorab berechnen oder jedes Mal neu, usw. usw.

Informatiker denken bezüglich Prävention, Schutz und Wiederherstellung in Worst-Case-Szenarien. Sie versuchen Schadensbegrenzungen und Fehlerkorrekturen durch Redundanz zu erreichen. Informatiker denken mit Hilfe von Heuristiken, um zu einer Lösung zu kommen. Sie planen Lernen ein und berücksichtigen Unsicherheit. Die wichtigste Operation ist Suchen, Suchen und nochmals Suchen. Man erhält Listen von Lösungen, auch Treffer genannt, und muss diese bewerten, d.h. in eine Ordnung bringen.

Jeannette Wing wendet sich nicht nur an Informatiker, sondern an alle Fachgebiete, insbesondere an Pädagogen. Zum Schluss schreibt sie.

Statt zu jammern, dass zu wenig Leute Informatik studieren, sollten die Professoren der Informatik einen Kursus für alle Studienanfänger anbieten mit dem Titel "Wie Informatiker denken". Wir sollten alle Studierenden den Methoden und Modellen der Informatik aussetzen. Statt zu klagen über den Rückgang des Interesses an der Informatik oder den Rückgang der Mittel für die Forschung in der Informatik, sollten wir das Interesse der Öffentlichkeit wecken und sie für das intellektuelle Abenteuer Informatik begeistern. Wir würden so die Faszination, den Respekt und die Allmacht der Informatik bekannt machen, mit dem Ziel informatorisches Denken alltäglich zu machen.

Hierzu muss sagen, dass im Gegensatz zu Deutschland in den USA die Studentenzahlen in Informatik weiter im Fallen sind. Fast glaube ich, dass uns europäischen Informatikern der Mut fehlt, so für unser Fach zu werben, wie es Jeannette Wing tat. Vielleicht benötigen wir dazu eine mutige Frau. Sollte sie ausländischer oder gar asiatischer Abstammung sein, vielleicht würde das sogar helfen.

Heutige Situation

Die erwähnte Tagung in den USA im Jahre 2010 befasste sich mit den pädagogischen Aspekten des ‚Computational Thinking‘. An ihr nahmen eingeladene Experten verschiedener Fachgebiete teil. Physiker, Biologen, Journalisten und andere. Mehrere Themen klangen an. Immer wieder hieß es, man benötige eine bessere Definition, um was es genau ginge, und möglichweise eine Fortschreibung dieser Definition, wenn sich die Informatik weiterentwickele. Drei Werkzeuge wurden ausführlich vorgestellt, nämlich Scratch, Globaloria und Storytelling Alice. Davon war mir nur Scratch bisher bekannt. Auch kam die allseits bekannte Klage vor, dass es ein großes Problem sei, im Lehrplan Platz zu finden.

Informatiker als Werkzeugmacher

Einer der Teilnehmer (P. Henderson) wies darauf hin, dass es bereits lange vor Jeannette Wing Informatiker gab, die über die Besonderheit ihres Faches nachdachten. Als Beispiel wurde Fred Brooks genannt mit dem Beitrag: „Computer Scientist as Toolsmith“, den er anlässlich der Verleihung des Allen Newell Awards der ACM im Jahre 1996 (CACM 39,3) hielt. Brooks war damals noch wesentlich bescheidener, aber nicht weniger aussagekräftig. Bei ihm scheint seine lange Industrie-Erfahrung durchzuscheinen.

Brooks betonte unter anderem den Unterschied zwischen einer Naturwissenschaft und einer Ingenieurdisziplin. Die Wissenschaft bemühe sich um die Entdeckung neuer Tatsachen und Gesetze. Der Ingenieur habe das Ziel, etwas Nützliches zu konstruieren. Brooks fasste den Unterschied in seinem berühmt gewordenen Satz zusammen: Der Wissenschaftler baut, um zu studieren, der Ingenieur studiert, um zu bauen. Informatik sei teils Naturwissenschaft, vor allem aber eine Ingenieurdisziplin. Ihr Gegenstand sind Computer, Algorithmen und Software-Systeme. Im Gegensatz zu anderen technischen Disziplinen sind viele unserer Produkte physikalisch nicht greifbar, so z. Bsp. Algorithmen, Programme und Software-Systeme. Seinen forschenden Kollegen gab er damals folgende Ratschläge:
  • Die akademische Forschung soll sich an relevante Probleme wagen, nicht nur an Übungen oder Spielzeug-Probleme.
  • Wir sollten ehrlich über Erfolg und Misserfolg reden, so dass wir uns nicht so leicht etwas vormachen.
  • Wir sollten immer das ganze Problem im Blick haben, nicht nur die leichten oder die mathematischen Teile.
  • Der Blick auf das ganze Problem wiederum zwingt uns dazu, zu lernen oder neue Informatik-Lösungen zu entwickeln, oft in Bereichen, die wir sonst nie angesprochen hätten.
Fred Brooks war mein Bereichsleiter während meiner Abordnung zur IBM in Poughkeepsie, N.Y. Nach seinem Wechsel an die University of North Carolina habe ich ihn einmal in Chapel Hill, N.C., besucht. Danach traf ich ihn immer wieder bei Fachtagungen.

Historischer Querbezug

Ein anderer Teilnehmer der Tagung (U. Wilensky) hatte eine schöne historische Analogie für den Einfluss neuer Notationen auf das Denken der Menschen: Vor der Einführung der arabischen Ziffern sei es so gut wie unmöglich gewesen, Multiplikationen und Divisionen durchzuführen. Das war etwa um das Jahr 1000 unserer Zeitrechnung. Sich vorzustellen, dass man bis dahin keine Flächenberechnungen machen konnte, fällt uns schwer. Wer mehr dazu wissen möchte, kann meinen Essay zu Gerbert d’Aurillac oder Papst Silvester II. lesen. Es sind solche Querbeziehungen zwischen meinen Interessengebieten, über die ich mich immer wieder freue.

Am 23.6.2013 schrieb Hartmut Wedekind aus Darmstadt:

Seit PISA muss man akzeptieren, dass Pädagogik, und damit auch ihre methodische Komponente, die Didaktik, zu einem empirischen Fach geworden ist, in dem ein messbarer Nachweis verlangt wird.


Wer also über „Computational Thinking“ als  einen neuen Beitrag zur Allgemeinbildung nachdenkt, sollte sich Gedanken machen, wie ein Test für diese vierte Spalte [neben Lesen, Naturwissenschaft und Mathematik] aussehen sollte. Der Entwickler einer solchen vierten Testreihe wird feststellen, dass Diverses, was er einbringen will, schon längst von den drei anderen  Testreihen abgedeckt wurde. Die PISA-Spezialisten werden sagen „Im Westen nichts Neues“.

Wie wäre es, wenn die im Westen, vor allen Dingen auch die USA (letztes Drittel in Mathematik in der PISA-Reihenfolge), mal darüber nachdenken, wie eine qualitative Verbesserung in den klassischen drei Spaten erzielt werden kann, bevor man einen neue vierte Spalte hinzufügt. Qualität geht bekanntlich vor Quantität.

Wie wäre es z.B., wenn man sich zwecks Qualitätsverbesserung an einer „Logischen Propädeutik“ orientieren würde und Pädagogik nicht nur empirisch, sondern auch rational, d.h. konstruktiv begreifen würde. Das wäre doch mal etwas Aufregendes. Eine „Logische Propädeutik“, wohlgemerkt, ist spaltenübergreifend.


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