Neulich schrieb mir ein Kollege, den ich an sich sehr schätze, aber
nicht nennen möchte: ‚Da Sie, wie ich
Ihrem Blog entnehmen konnte, Informatikforschung als überflüssig ablehnen,
müssen Sie konsequenterweise auch das Publizieren für überflüssig halten. Zu
dieser konsequenten Haltung kann ich Sie nur beglückwünschen.‘ Anstatt nur zu
sagen: ‚Sie verstehen mich falsch, lieber
Kollege‘, möchte ich etwas ausholen und außerdem meine Antwort öffentlich
geben. Vermutlich bezog sich der Kollege auf den Beitrag
vom 18. Februar 2011 mit dem Titel ‚Forschen
ist wichtig, darf jedoch nicht überfordert werden‘. Dort hatte ich unter
anderem geschrieben:
Forschung – so heißt es − vermehrt das Wissen, das wir
benötigen, um unsere Welt immer besser zu verstehen. Schaden kann das sicher
nicht. Ob es aber die beste Art ist, die (beschränkten) geistigen und
finanziellen Ressourcen eines Landes einzusetzen, das darf hinterfragt
werden.
Nichts von dem, was ich damals sonst
noch geschrieben hatte, möchte ich heute verändern. Ich möchte nur einige
Punkte ergänzen oder vertiefen. Ich will nochmals versuchen, meine Sicht näher
zu erklären. Ob ich jemanden überzeugen kann, steht auf einem andern Blatt.
Genau genommen, habe ich darauf wenig Einfluss.
Forschung
So wie unser akademische System
heute ausgelegt ist, ̶
zumindest im Umfeld derjenigen Fachgebiete, zu denen auch die Informatik
gehört ̶
kann ein junger Mensch sich für eine wissenschaftliche Laufbahn nur
qualifizieren, wenn er durch Forschungsleistungen hervorsticht. Nicht nur steht
diese Tätigkeit hoch im Ansehen der Gesellschaft [im Fernsehen vergeht kein
Tag, an dem ‚Forscher‘ nicht dieses oder jenes festgestellt haben], die
Ergebnisse können schön, beeindruckend, ja revolutionär sein. Die Ergebnisse vieler,
jedoch nicht aller Forschungsarbeiten kann man nur sichtbar machen, indem man
in ‚angesehenen‘ Journalen oder auf ‚anerkannten‘ Fachtagungen veröffentlicht. In
dieser Bewertung der Situation stimme ich allen meinen akademischen Kollegen voll
zu. Zu definieren, was bei Fachzeitschriften als ‚angesehen‘ und bei Tagungen
als ‚anerkannt‘ gilt, überlasse ich gerne den Akademikern. Übrigens bemüht sich
die GI gerade darum, für die Akademiker unter ihren Mitgliedern, hier etwas für
Klarheit zu sorgen. Zu hoffen ist, dass Informatiker bei der Darstellung ihrer
Ergebnisse die ‚neuen Medien‘ wie Fernsehen und Internet nicht ganz vergessen.
Zur
Klarstellung möchte ich zwei Punkte hinzufügen. (1) Nicht nur das, was vom
Steuerzahler finanziert wird, ist ernst zu nehmende Forschung. Auch die private
Wirtschaft, sei es der Fahrzeugbau oder die Chemie, betreibt Forschung. Das
Ergebnis wird allerdings nicht danach bewertet, in welchem Fachorgan es
publiziert wurde. Was Hochschulen als Forschung verstehen, dient meist vorwiegend
der Karriere-Pflege des wissenschaftlichen Nachwuchses. Es ist wirtschaftlich
und technisch oft uninteressant bzw. irrelevant (siehe unten). (2) Die
wichtigste Veröffentlichungsform für Forschungsergebnisse mit technischer
Relevanz ̶ man spricht dann meistens von
Erfindungen ̶ sind die Patentanmeldungen. Wer dies nicht
glaubt, sollte sich beim Fachinformationszentrum (FIZ) Karlsruhe erkundigen,
welche ihrer Datenbanken am meisten benutzt werden. Hier führen nämlich die
Patent-Datenbanken mit großem Abstand. Jede deutsche Fachzeitschrift wäre
stolz, bekäme sie einen Bruchteil dieser Leserschaft, von den Einnahmen ganz zu
schweigen. Davon könnte Springer alle seine Informatik-Zeitschriften bequem
finanzierten. [Die GI ist übrigens Gesellschafterin des FIZ Karlsruhe].
Entwicklung
Der
Schritt, der erforderlich ist, um aus einer Idee ein Produkt oder eine
Dienstleistung zu erzeugen, heißt Entwicklung. Auch dieses Verständnis sollte
man ruhig beibehalten. Die Hochschulen haben satzungsgemäß auf diesem Gebiet
nichts zu suchen. Dass eine Fachgesellschaft, die in Anspruch nimmt, nicht nur
die Hochschulen zu vertreten, sich bei diesem Thema trotzdem schwer tut, ist
sehr bedauerlich. Nach einer ersten 5-jährigen Testphase hat die GI sich nur
mit Mühe dazu durchringen können, wenigstens über das Thema Entwicklung auf
ihrer Jahrestagung fünf Minuten lang zu reden. Ich meine die Verleihung des Innovationspreises der GI, durch den
zum ersten Mal keine Schreibarbeiten ausgezeichnet werden, sondern einzelne
Produkte oder Dienstleistungen. Mit meinem Vorschlag, die Orientierung der GI weiter
in Richtung Entwicklung zu lenken, fand ich keine Zustimmung. Kriterien für ein
für GI-Mitglieder wichtiges ‚Informatik-Produkt
des Jahres‘ zu definieren, überfordert offensichtlich alle Kolleginnen und
Kollegen, die in der GI das Sagen haben. Wie heißt es so schön: Da könnte man sich möglicherweise die Finger
schmutzig machen oder sogar verbrennen. Falls man als Ordinarius Angst hat,
sich durch Unwissen zu blamieren, könnte man in diesem Falle die jüngeren
Mitarbeiter bitten, die Auswahl zu treffen.
Was
ich leider immer wieder ins Gedächtnis meiner Hochschul-Kollegen zurückrufen
muss, sind fast Plattitüden. Für einen Entwickler sind Publikationen in
Fachzeitschriften und auf Tagungen wirklich sekundär. Sie bedeuten bestenfalls
zusätzliche Werbung unter Nicht-Fachleuten. Man sichert sich seine Priorität an
Ideen nicht durch Publikationen in Fachzeitschriften, sondern durch ein Produkt.
Ist das Produkt im Markt verfügbar, dann kann einem niemand mehr mit einer darin
verwirklichten Idee zuvorkommen. Man ist dadurch allerdings nicht gegen
Nachahmer geschützt. Will man dem vorbeugen, muss man die Erfindung durch ein
Patent schützen lassen. Geht man diesen Weg, ist eine Vorab-Veröffentlichung
schädlich. Als Entwickler muss man nicht unbedingt wissen, was die Mitbewerber
für unwichtig halten, also veröffentlicht haben. Man muss jedoch wissen, was
sie für so wichtig halten, dass sie es geschützt haben. Wer sagt, dass
Zeitschriften wichtig sind, hält Entwickler für unwichtig.
Zwischenformen
zwischen Forschung und Entwicklung
Wir müssen
leider davon ausgehen, dass sich an der generellen, von der Mathematik stark
beeinflussten Ausrichtung der Informatik in Deutschland so schnell nichts
ändert. Daher könnte es sinnvoll sein, über Zwischenformen zwischen Forschung
und Entwicklung nachzudenken. Eine wäre, es Hochschulen zu ermöglichen, Prototypen
für Produkte und Dienstleistungen zu erstellen. Sie müssten mehr Geld bekommen
als bisher, um auch Feldtests mit echten Benutzern durchführen zu können.
Dabei
stoßen wir sehr schnell an eine Grenze, speziell was Forschung in der
Informatik selbst (manchmal auch Kerninformatik genannt) betrifft. Je weiter
man die Forschung in Richtung Entwicklung treibt, umso kritischer wird es, dass
industrielle Partner vorhanden sind, die aus dem Prototypen ein Produkt machen.
Es gibt zwar in der Folklore den Spruch vom Prototypen, der als Produkt
ausgeliefert wurde. Nur in den seltensten Fällen geht dies gut. Am besten ist
es, Kooperationen mit der Industrie so früh wie möglich zu starten. Dabei
sollte dies sich nicht darauf beschränken, von der Industrie nur Geld zu nehmen.
Sollte in einem solchen gemeinsamen Projekt öffentliches Geld eingesetzt
werden, sollte die Industrieseite sich verpflichten, das Ergebnis in die eigene
Entwicklungsarbeit einfließen zu lassen. Der Fall, dass es keine verwertbaren
Ergebnisse gibt, könnte dennoch Anlass für eine Publikation werden, sofern
jemand den Mut hat, das Scheitern zu analysieren.
Anpassung
des Bewertungssystems
Langfristig
ist es vorstellbar, dass sich die Informatik mit ihrer Zwitterrolle zwischen
Ingenieurwesen einerseits und Betriebswirtschaft und Mathematik andererseits
besser zurechtfindet. Man könnte dann, auch für die akademische Qualifikation Entwicklungsleistungen
zur Anerkennung mitheranziehen. Ich weiß dies zwar nicht genau. Ich gehe jedoch
davon aus, dass bei Architekten auch seine Design-Leistung bewertet wird, nicht
nur seine Literaturstudien. Wieweit Erfindungen und andere technische
Leistungen heute überhaupt bei Berufungen von Informatikern eine Rolle spielen,
ist mir unklar.
Ganz
entscheidend für ein (teilweise) technisches Fachgebiet wie die Informatik ist jedoch, dass
es sich von der Überbetonung von Zeitschriften und Tagungen freimacht. Das
primäre Medium für technische Veröffentlichungen ist (und bleibt) der
Patentantrag. Ich hatte Kollegen in der Software-Entwicklung mit zehn und mehr
erteilten Patenten, aber null Veröffentlichungen in Fachzeitschriften. Sie
bildeten die Elite, denen andere Mitarbeiter nachstrebten. Dass die Rolle von
Software-Patenten in Europa immer noch umstritten ist, bewies der Deutsche
Bundestag erst vor einer Woche. Er verabschiedete eine Erklärung, die darauf
abzielt, Software-Entwicklungen in Deutschland unmöglich zu machen. Dass die
Software-Industrie diese Diskussion längst hinter sich gelassen hat, habe ich
in einem früheren Blog-Eintrag nachgewiesen.
Selbst das Beispiel, das die Fraunhofer-Gesellschaft (mit MP3) gegeben hat,
scheint die Hochschulen nicht zu beeindrucken. Sie konzentrieren sich weiterhin
auf die Generierung von ‚nicht-schützenswerten‘ Ideen. Man verzeihe mir diese
Verdeutlichung.
Verallgemeinerte
Sicht
Woran
unsere Gesellschaft als Ganzes noch eine Weile zu kauen hat, ist die
Überwindung der in der Vergangenheit von Geisteswissenschaftlern
(einschließlich Theologen) dominierten Weltsicht. Seit Darwin müssen sie
anerkennen, dass die belebte Natur sich nach Gesetzen entwickelt, die weder bei
Aristoteles noch bei Thomas von Aquin zu finden waren. Die von C. P. Snow
erkannte Zweiteilung der Kulturen war erst ein Zwischenschritt. Noch traut sich
der Homo faber, der zum
Ingenieur mutierte Handwerker, nicht den Mund aufzumachen. Die Philosophen (und
Theologen) sind zwar auf dem Rückzug, nicht jedoch Physiker und Mathematiker. Viele
Physiker beschäftigen sich vorwiegend mit esoterischen Fragestellungen
(Multiversen, symmetrischem Zeitpfeil und dgl.). Besonders talentierte Mathematiker
versuchen die Goldbachsche
Vermutung zu widerlegen oder suchen nach der größtmöglichen Primzahl. Die
Computer, die man für solche Aufgaben einsetzen kann, können nicht groß genug
sein.
Dabei
ist die Welt voller Probleme, die man
angehen sollte, bevor die Naturwissenschaften die letztgültige Erklärung
gefunden haben. Der Homo faber kann bereits tätig werden, bevor das letzte
Welträtsel gelöst ist. Er baute elektrische Maschinen, bevor klar war, in
welcher Richtung der Strom fließt. Er sieht seine Aufgabe nicht darin, die Welt
zu erklären, sondern darin, die Existenz des Menschen zu erleichtern. So lange
man sagt, Wissenschaft ist Wissenschaft, egal mit was sie sich beschäftigt,
wird diese Einsicht nicht durchbrechen. Es scheint fast so, als ob es Leute
gäbe, die ein Interesse daran haben, dass alles beim Alten bleibt, von denen
man dies eigentlich nicht erwarten würde. Viele Informatiker, die ich kenne,
scheinen dazu zu gehören.
Meine
Antwort
Nach
diesen Ausführungen wage ich es, die im Titel enthaltene Frage eindeutig zu
beantworten. Wenn immer es gelingt, ein offensichtliches Problem der Menschheit
zu lösen, spielt dabei Forschung nur eine untergeordnete Rolle. Wir müssen
nicht wissen, warum etwas funktioniert. Es reicht aus, bekannte Heuristiken
anzuwenden. Es muss aber jemand bereit und in der Lage sein, eine Lösung zu
konstruieren. Konstruieren ist ein anderes Wort für Entwickeln. Wer jedoch
sagt, Entwickeln ist trivial oder eine Sache für Geringqualifizierte, weiß
nicht wovon er spricht. Dass es nicht den Nimbus hat, den Forschen hat, ist
eine Fehlleistung unserer Gesellschaft, die ihr schon lange teuer zu stehen
kommt. Die deutsche Informatik hat sich seit der Einführung des universitären
Studiums in dieser Rille verfangen.
Diese
hier angegebene Priorität, d.h. Entwickeln vor Forschen, gilt auf vielen
Gebieten. Sie gilt für den Deichbau, also das Eindämmen von Wassermassen, aber
auch für die Behebung von Schäden, die von Unwettern oder Erdbeben angerichtet
wurden. Sie gilt vor allem für die Eindämmung von Pandemien, die Bekämpfung von
Dürren und Hungersnöten und sogar für die Lösung von sozialen und politischen
Konflikten.
Zusammenfassung
Forschung
kann keinen sich selbsttragenden Arbeitsplatz schaffen. Entwickeln auch nicht.
Es kommt der Sache jedoch viel näher. Läuft das Projekt nämlich wie es soll,
hat man etwas in der Hand, das möglicherweise einen Bedarf befriedigt. Wer
nicht in der Lage ist zu entwickeln, sei es aus rechtlichen, intellektuellen
oder aus Kapazitäts- oder Motivationsgründen, für den ist Forschen eine Alternative. Forschen kann sehr interessant sein, ja manchmal sogar spannender als die Entwicklung.
Um meine Freunde unter den Akademikern zu beruhigen, möchte ich hinzufügen, wenn ich von Priorität rede, meine ich kein Entweder-Oder, keine Exklusion
(engl. exhaustive or preemptive priority). Es geht nur darum zu sagen, wohin im Zweifelsfall
das Pendel ausschlagen sollte. Es ist dasselbe Wunschdenken, das ich im anderen
Beitrag dieser Woche so ausdrückte:
Uns fehlen die kreativen Macher. Vermutlich schenken wir denjenigen Leuten zu wenig Anerkennung, die bereit sind, Verantwortung zu übernehmen oder sogar ein Risiko einzugehen. Unser Ideal ist zu sehr der kontemplative Theoretiker und nicht der zerstörende Innovator.
Uns fehlen die kreativen Macher. Vermutlich schenken wir denjenigen Leuten zu wenig Anerkennung, die bereit sind, Verantwortung zu übernehmen oder sogar ein Risiko einzugehen. Unser Ideal ist zu sehr der kontemplative Theoretiker und nicht der zerstörende Innovator.
Wenn ich diese Idee mit bekannten Namen verknüpfe, dann stehen mir
ein Heinz Nixdorf, Bill Gates und Steve Jobs geistig näher als ein Immanuel
Kant, Alan Turing oder Jacques Derrida. Etwas Amerika ist mir lieber als zu viel
Europa.
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