Donnerstag, 13. Juni 2013

Forschung oder Entwicklung – was hat Priorität?

Neulich schrieb mir ein Kollege, den ich an sich sehr schätze, aber nicht nennen möchte: ‚Da Sie, wie ich Ihrem Blog entnehmen konnte, Informatikforschung als überflüssig ablehnen, müssen Sie konsequenterweise auch das Publizieren für überflüssig halten. Zu dieser konsequenten Haltung kann ich Sie nur beglückwünschen.‘ Anstatt nur zu sagen: ‚Sie verstehen mich falsch, lieber Kollege‘, möchte ich etwas ausholen und außerdem meine Antwort öffentlich geben. Vermutlich bezog sich der Kollege auf den Beitrag vom 18. Februar 2011 mit dem Titel ‚Forschen ist wichtig, darf jedoch nicht überfordert werden‘. Dort hatte ich unter anderem geschrieben:

Forschung – so heißt es − vermehrt das Wissen, das wir benötigen, um unsere Welt immer besser zu verstehen. Schaden kann das sicher nicht. Ob es aber die beste Art ist, die (beschränkten) geistigen und finanziellen Ressourcen eines Landes einzusetzen, das darf hinterfragt werden. 

Nichts von dem, was ich damals sonst noch geschrieben hatte, möchte ich heute verändern. Ich möchte nur einige Punkte ergänzen oder vertiefen. Ich will nochmals versuchen, meine Sicht näher zu erklären. Ob ich jemanden überzeugen kann, steht auf einem andern Blatt. Genau genommen, habe ich darauf wenig Einfluss.

Forschung

So wie unser akademische System heute ausgelegt ist,  ̶  zumindest im Umfeld derjenigen Fachgebiete, zu denen auch die Informatik gehört  ̶  kann ein junger Mensch sich für eine wissenschaftliche Laufbahn nur qualifizieren, wenn er durch Forschungsleistungen hervorsticht. Nicht nur steht diese Tätigkeit hoch im Ansehen der Gesellschaft [im Fernsehen vergeht kein Tag, an dem ‚Forscher‘ nicht dieses oder jenes festgestellt haben], die Ergebnisse können schön, beeindruckend, ja revolutionär sein. Die Ergebnisse vieler, jedoch nicht aller Forschungsarbeiten kann man nur sichtbar machen, indem man in ‚angesehenen‘ Journalen oder auf ‚anerkannten‘ Fachtagungen veröffentlicht. In dieser Bewertung der Situation stimme ich allen meinen akademischen Kollegen voll zu. Zu definieren, was bei Fachzeitschriften als ‚angesehen‘ und bei Tagungen als ‚anerkannt‘ gilt, überlasse ich gerne den Akademikern. Übrigens bemüht sich die GI gerade darum, für die Akademiker unter ihren Mitgliedern, hier etwas für Klarheit zu sorgen. Zu hoffen ist, dass Informatiker bei der Darstellung ihrer Ergebnisse die ‚neuen Medien‘ wie Fernsehen und Internet nicht ganz vergessen.

Zur Klarstellung möchte ich zwei Punkte hinzufügen. (1) Nicht nur das, was vom Steuerzahler finanziert wird, ist ernst zu nehmende Forschung. Auch die private Wirtschaft, sei es der Fahrzeugbau oder die Chemie, betreibt Forschung. Das Ergebnis wird allerdings nicht danach bewertet, in welchem Fachorgan es publiziert wurde. Was Hochschulen als Forschung verstehen, dient meist vorwiegend der Karriere-Pflege des wissenschaftlichen Nachwuchses. Es ist wirtschaftlich und technisch oft uninteressant bzw. irrelevant (siehe unten). (2) Die wichtigste Veröffentlichungsform für Forschungsergebnisse mit technischer Relevanz  ̶  man spricht dann meistens von Erfindungen  ̶  sind die Patentanmeldungen. Wer dies nicht glaubt, sollte sich beim Fachinformationszentrum (FIZ) Karlsruhe erkundigen, welche ihrer Datenbanken am meisten benutzt werden. Hier führen nämlich die Patent-Datenbanken mit großem Abstand. Jede deutsche Fachzeitschrift wäre stolz, bekäme sie einen Bruchteil dieser Leserschaft, von den Einnahmen ganz zu schweigen. Davon könnte Springer alle seine Informatik-Zeitschriften bequem finanzierten. [Die GI ist übrigens Gesellschafterin des FIZ Karlsruhe].

Entwicklung

Der Schritt, der erforderlich ist, um aus einer Idee ein Produkt oder eine Dienstleistung zu erzeugen, heißt Entwicklung. Auch dieses Verständnis sollte man ruhig beibehalten. Die Hochschulen haben satzungsgemäß auf diesem Gebiet nichts zu suchen. Dass eine Fachgesellschaft, die in Anspruch nimmt, nicht nur die Hochschulen zu vertreten, sich bei diesem Thema trotzdem schwer tut, ist sehr bedauerlich. Nach einer ersten 5-jährigen Testphase hat die GI sich nur mit Mühe dazu durchringen können, wenigstens über das Thema Entwicklung auf ihrer Jahrestagung fünf Minuten lang zu reden. Ich meine die Verleihung des Innovationspreises der GI, durch den zum ersten Mal keine Schreibarbeiten ausgezeichnet werden, sondern einzelne Produkte oder Dienstleistungen. Mit meinem Vorschlag, die Orientierung der GI weiter in Richtung Entwicklung zu lenken, fand ich keine Zustimmung. Kriterien für ein für GI-Mitglieder wichtiges ‚Informatik-Produkt des Jahres‘ zu definieren, überfordert offensichtlich alle Kolleginnen und Kollegen, die in der GI das Sagen haben. Wie heißt es so schön: Da könnte man sich möglicherweise die Finger schmutzig machen oder sogar verbrennen. Falls man als Ordinarius Angst hat, sich durch Unwissen zu blamieren, könnte man in diesem Falle die jüngeren Mitarbeiter bitten, die Auswahl zu treffen.

Was ich leider immer wieder ins Gedächtnis meiner Hochschul-Kollegen zurückrufen muss, sind fast Plattitüden. Für einen Entwickler sind Publikationen in Fachzeitschriften und auf Tagungen wirklich sekundär. Sie bedeuten bestenfalls zusätzliche Werbung unter Nicht-Fachleuten. Man sichert sich seine Priorität an Ideen nicht durch Publikationen in Fachzeitschriften, sondern durch ein Produkt. Ist das Produkt im Markt verfügbar, dann kann einem niemand mehr mit einer darin verwirklichten Idee zuvorkommen. Man ist dadurch allerdings nicht gegen Nachahmer geschützt. Will man dem vorbeugen, muss man die Erfindung durch ein Patent schützen lassen. Geht man diesen Weg, ist eine Vorab-Veröffentlichung schädlich. Als Entwickler muss man nicht unbedingt wissen, was die Mitbewerber für unwichtig halten, also veröffentlicht haben. Man muss jedoch wissen, was sie für so wichtig halten, dass sie es geschützt haben. Wer sagt, dass Zeitschriften wichtig sind, hält Entwickler für unwichtig.

Zwischenformen zwischen Forschung und Entwicklung

Wir müssen leider davon ausgehen, dass sich an der generellen, von der Mathematik stark beeinflussten Ausrichtung der Informatik in Deutschland so schnell nichts ändert. Daher könnte es sinnvoll sein, über Zwischenformen zwischen Forschung und Entwicklung nachzudenken. Eine wäre, es Hochschulen zu ermöglichen, Prototypen für Produkte und Dienstleistungen zu erstellen. Sie müssten mehr Geld bekommen als bisher, um auch Feldtests mit echten Benutzern durchführen zu können.

Dabei stoßen wir sehr schnell an eine Grenze, speziell was Forschung in der Informatik selbst (manchmal auch Kerninformatik genannt) betrifft. Je weiter man die Forschung in Richtung Entwicklung treibt, umso kritischer wird es, dass industrielle Partner vorhanden sind, die aus dem Prototypen ein Produkt machen. Es gibt zwar in der Folklore den Spruch vom Prototypen, der als Produkt ausgeliefert wurde. Nur in den seltensten Fällen geht dies gut. Am besten ist es, Kooperationen mit der Industrie so früh wie möglich zu starten. Dabei sollte dies sich nicht darauf beschränken, von der Industrie nur Geld zu nehmen. Sollte in einem solchen gemeinsamen Projekt öffentliches Geld eingesetzt werden, sollte die Industrieseite sich verpflichten, das Ergebnis in die eigene Entwicklungsarbeit einfließen zu lassen. Der Fall, dass es keine verwertbaren Ergebnisse gibt, könnte dennoch Anlass für eine Publikation werden, sofern jemand den Mut hat, das Scheitern zu analysieren.

Anpassung des Bewertungssystems

Langfristig ist es vorstellbar, dass sich die Informatik mit ihrer Zwitterrolle zwischen Ingenieurwesen einerseits und Betriebswirtschaft und Mathematik andererseits besser zurechtfindet. Man könnte dann, auch für die akademische Qualifikation Entwicklungsleistungen zur Anerkennung mitheranziehen. Ich weiß dies zwar nicht genau. Ich gehe jedoch davon aus, dass bei Architekten auch seine Design-Leistung bewertet wird, nicht nur seine Literaturstudien. Wieweit Erfindungen und andere technische Leistungen heute überhaupt bei Berufungen von Informatikern eine Rolle spielen, ist mir unklar.

Ganz entscheidend für ein (teilweise) technisches Fachgebiet wie die Informatik ist jedoch, dass es sich von der Überbetonung von Zeitschriften und Tagungen freimacht. Das primäre Medium für technische Veröffentlichungen ist (und bleibt) der Patentantrag. Ich hatte Kollegen in der Software-Entwicklung mit zehn und mehr erteilten Patenten, aber null Veröffentlichungen in Fachzeitschriften. Sie bildeten die Elite, denen andere Mitarbeiter nachstrebten. Dass die Rolle von Software-Patenten in Europa immer noch umstritten ist, bewies der Deutsche Bundestag erst vor einer Woche. Er verabschiedete eine Erklärung, die darauf abzielt, Software-Entwicklungen in Deutschland unmöglich zu machen. Dass die Software-Industrie diese Diskussion längst hinter sich gelassen hat, habe ich in einem früheren Blog-Eintrag nachgewiesen. Selbst das Beispiel, das die Fraunhofer-Gesellschaft (mit MP3) gegeben hat, scheint die Hochschulen nicht zu beeindrucken. Sie konzentrieren sich weiterhin auf die Generierung von ‚nicht-schützenswerten‘ Ideen. Man verzeihe mir diese Verdeutlichung.

Verallgemeinerte Sicht

Woran unsere Gesellschaft als Ganzes noch eine Weile zu kauen hat, ist die Überwindung der in der Vergangenheit von Geisteswissenschaftlern (einschließlich Theologen) dominierten Weltsicht. Seit Darwin müssen sie anerkennen, dass die belebte Natur sich nach Gesetzen entwickelt, die weder bei Aristoteles noch bei Thomas von Aquin zu finden waren. Die von C. P. Snow erkannte Zweiteilung der Kulturen war erst ein Zwischenschritt. Noch traut sich der Homo faber, der zum Ingenieur mutierte Handwerker, nicht den Mund aufzumachen. Die Philosophen (und Theologen) sind zwar auf dem Rückzug, nicht jedoch Physiker und Mathematiker. Viele Physiker beschäftigen sich vorwiegend mit esoterischen Fragestellungen (Multiversen, symmetrischem Zeitpfeil und dgl.). Besonders talentierte Mathematiker versuchen die Goldbachsche Vermutung zu widerlegen oder suchen nach der größtmöglichen Primzahl. Die Computer, die man für solche Aufgaben einsetzen kann, können nicht groß genug sein.

Dabei ist die Welt voller  Probleme, die man angehen sollte, bevor die Naturwissenschaften die letztgültige Erklärung gefunden haben. Der Homo faber kann bereits tätig werden, bevor das letzte Welträtsel gelöst ist. Er baute elektrische Maschinen, bevor klar war, in welcher Richtung der Strom fließt. Er sieht seine Aufgabe nicht darin, die Welt zu erklären, sondern darin, die Existenz des Menschen zu erleichtern. So lange man sagt, Wissenschaft ist Wissenschaft, egal mit was sie sich beschäftigt, wird diese Einsicht nicht durchbrechen. Es scheint fast so, als ob es Leute gäbe, die ein Interesse daran haben, dass alles beim Alten bleibt, von denen man dies eigentlich nicht erwarten würde. Viele Informatiker, die ich kenne, scheinen dazu zu gehören.

Meine Antwort

Nach diesen Ausführungen wage ich es, die im Titel enthaltene Frage eindeutig zu beantworten. Wenn immer es gelingt, ein offensichtliches Problem der Menschheit zu lösen, spielt dabei Forschung nur eine untergeordnete Rolle. Wir müssen nicht wissen, warum etwas funktioniert. Es reicht aus, bekannte Heuristiken anzuwenden. Es muss aber jemand bereit und in der Lage sein, eine Lösung zu konstruieren. Konstruieren ist ein anderes Wort für Entwickeln. Wer jedoch sagt, Entwickeln ist trivial oder eine Sache für Geringqualifizierte, weiß nicht wovon er spricht. Dass es nicht den Nimbus hat, den Forschen hat, ist eine Fehlleistung unserer Gesellschaft, die ihr schon lange teuer zu stehen kommt. Die deutsche Informatik hat sich seit der Einführung des universitären Studiums in dieser Rille verfangen.

Diese hier angegebene Priorität, d.h. Entwickeln vor Forschen, gilt auf vielen Gebieten. Sie gilt für den Deichbau, also das Eindämmen von Wassermassen, aber auch für die Behebung von Schäden, die von Unwettern oder Erdbeben angerichtet wurden. Sie gilt vor allem für die Eindämmung von Pandemien, die Bekämpfung von Dürren und Hungersnöten und sogar für die Lösung von sozialen und politischen Konflikten.

Zusammenfassung

Forschung kann keinen sich selbsttragenden Arbeitsplatz schaffen. Entwickeln auch nicht. Es kommt der Sache jedoch viel näher. Läuft das Projekt nämlich wie es soll, hat man etwas in der Hand, das möglicherweise einen Bedarf befriedigt. Wer nicht in der Lage ist zu entwickeln, sei es aus rechtlichen, intellektuellen oder aus Kapazitäts- oder Motivationsgründen, für den ist Forschen eine Alternative. Forschen kann sehr interessant sein, ja manchmal sogar spannender als die Entwicklung.

Um meine Freunde unter den Akademikern zu beruhigen, möchte ich hinzufügen, wenn ich von Priorität rede, meine ich kein Entweder-Oder, keine Exklusion (engl. exhaustive or preemptive priority). Es geht nur darum zu sagen, wohin im Zweifelsfall das Pendel ausschlagen sollte. Es ist dasselbe Wunschdenken, das ich im anderen Beitrag dieser Woche so ausdrückte: 

Uns fehlen die kreativen Macher. Vermutlich schenken wir denjenigen Leuten zu wenig Anerkennung, die bereit sind, Verantwortung zu übernehmen oder sogar ein Risiko einzugehen. Unser Ideal ist zu sehr der kontemplative Theoretiker und nicht der zerstörende Innovator. 

Wenn ich diese Idee mit bekannten Namen verknüpfe, dann stehen mir ein Heinz Nixdorf, Bill Gates und Steve Jobs geistig näher als ein Immanuel Kant, Alan Turing oder Jacques Derrida. Etwas Amerika ist mir lieber als zu viel Europa.

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