Der Tod
des Kollegen Friedrich Ludwig
Bauer
(meist als F. L. Bauer bezeichnet) ruft Gedanken wach an manche gemeinsame
Begegnungen und die Entwicklung der deutschen Hochschulinformatik allgemein.
Beides ist für mich nicht voneinander zu trennen. Bauer galt als der
unbestrittene Nestor der deutschen Informatik. Mit dem Titel Nestor, der an einen
griechischen Teilnehmer des Troja-Feldzugs erinnert, verbindet man eine
Persönlichkeit, die man als den „Altmeister“ einer Wissenschaft oder den
Begründer eines bestimmten Verfahrens oder einer Denkrichtung ansieht.
Bauer
war in Regensburg, der Hauptstadt der Oberpfalz, geboren. Er hatte Mathematik, Theoretische
Physik und Astronomie an der TU München studiert. Nach zwei Jahren in Mainz war
er ab 1963 ordentlicher Professor für Mathematik an der TU München. Er war Mitglied
der Bayrischen Akademie der Wissenschaften und war Träger mehrerer bayrischer
und anderer Auszeichnungen. Er wirkte bevorzugt in und für Bayern, aber auch
weit darüber hinaus. Er wurde 1989 emeritiert.
Der
Laudatio entsprechend, die Heinz Zemanek 1987 [4] anlässlich von Bauers Ernennung
zum GI-Ehrenmitglied hielt. lässt sich Bauers Wirken unter vier Überschriften
gliedern: Lehrer und Forscher, Autor und Historiker, Organisator der Informatik
in Deutschland, Internationale Figur. Dieser Gliederung will ich folgen, setze
dabei aber meine persönlichen Akzente.
Lehrer
und Forscher
Bauers
Name war mir seit seiner Mitarbeit an der PERM bekannt. Die PERM (Abk. für Programmgesteuerte
elektronische Rechenanlage München) wurde in den Jahren 1952-1956 an der TU
München unter der Leitung von Hans Piloty gebaut. Zu zwei der
Hardware-Entwickler (Walter Proebster, Hans Otto Leilich) hatte ich später lange
und intensive Kontakte. Nach einer gemeinsamen Zeit im Forschungslabor Zürich
der IBM wurde Proebster Nachfolger von Karl
Ganzhorn (1921-2014) als Leiter des Böblinger Labors. Leilich wurde
Professor in Braunschweig. Obwohl nicht sehr zuverlässig, konnte die PERM
Programme ausführen. Um deren Entwicklung und Darstellung machten sich Bauer und
sein Freund Klaus Samuelson Gedanken.
Obwohl
es mit COBOL und Fortran effektive Sprachen für den kaufmännischen Bereich einerseits
und den technisch-wissenschaftlichen Bereich andererseits gab, ergriff eine
Gruppe europäischer Numeriker die Initiative zur Definition einer Sprache, die
besser als Fortan geeignet sei, um mathematische Algorithmen auf Papier zu
veröffentlichen. Diese Zielsetzung geriet jedoch bald in Vergessenheit. Algol 58
und später Algol 60, so hieß die von Bauer, Peter Naur, Heinz Rutishauser und
andern definierte Sprache und wurde die bevorzugte Programmier- und
Publikationssprache an europäischen Universitäten. Sie sollte außerdem die befürchtete
Dominanz der Industrie auf diesem aufstrebenden Feld verhindern bzw. brechen.
Bauers Schüler Manfred Paul und Rüdiger Wiehle schrieben einen der ersten
Algol-Compiler für die IBM 7090 zusammen mit Kollegen (wie David Gries) an der
University of Illinois.
Bauers
Bekanntheit resultiert unter anderem daher, dass er das bei dem Schulrechner Stanislaus
und später bei der PERM angewandte Kellerprinzip zur Verarbeitung klammerfreier
Formeln 1955 zum Patent anmeldete. Es ist eines der ersten Software-Patente
überhaupt. Bauers Ernennung zum ‚Computer Pioneer‘ durch die IEEE im Jahre 1988
bezieht sich auf diese Erfindung. Erst mit den MP3-Patenten von Karlheinz
Brandenburg und Kollegen gab es 50 Jahre später einen deutschen Beitrag zur technischen
Seite der Informatik, der vergleichbares Aufsehen erreichte.
Wie
sehr es Bauer am Herzen lag, die akademische Ausbildung in ganz Bayern zu
fördern, zeigt sich darin, dass er von 1984 bis 1995 Direktor der
Ferienakademie der Universität Erlangen und der TU München
war. In Gasthöfen im Sarntal trafen sich Professoren und ausgewählte Studenten aus
mehreren Fachbereichen jährlich zu einem mehrwöchigen wissenschaftlichen
Seminar.
Autor
und Historiker
Bauers
Wirken als Autor hat sich vor allem in mehreren Lehrbüchern niedergeschlagen.
Den größten Einfluss hatte zweifellos die zweibändige Einführung in die Informatik
[1], die er mit Gerhard Goos zusammen verfasste. Er vertritt darin eine so genannte
Top-Down-Lehrmethode. Diese geht vom Allgemeinen zum Speziellen. Sie stellt
Grundbegriffe der Programmierung an die Spitze. Angeblich mache dies von den Zufälligkeiten
der technischen Entwicklung frei. Es zwinge den Anfänger zum Nachdenken, anstatt
sofort brauchbares Wissen (Patentlösungen) zu besitzen. Für die Übungsbeispiele
wurde von Bauer/Goos anfangs Algol 68 empfohlen. ‚Eine begrifflich ebenso
reichhaltige wie differenzierte Sprache mache den Übergang zu andern Sprachen
sehr leicht‘ – so hieß es. Bauers Publikationen zur Kryptologie [5] sind
Standardwerke der Informatik. Durch seine Beschäftigung mit diesem Gebiet
konnte er sogar Vertreter des Geheimdiensts in seine Vorlesung locken.
Von
seiner Tätigkeit als Historiker ist vor allem seine Arbeit für die
Computer-Ausstellung des Deutschen Museums zu nennen. Zusammen
mit Alfred Krösa, einem früheren Böblinger Hardware-Entwickler, schuf er drei
separate Ausstellungen, nämlich für Informatik und Automatik (1988), für
Mikroelektronik (1990) und das Mathematische Kabinett (1999). Ich
erinnere mich sehr gerne an eine persönliche Führung, die Bauer mir gab. Einige
der Böblinger Maschinen, die im Interview mit Edwin Vogt erwähnt sind, hatten
es dorthin geschafft. Im Informatik-Spektrum, dessen Mitherausgeber er war,
pflegte er über mehrere Jahre hinweg eine Rubrik ‚Historische Notizen‘. Darin
griff er immer wieder einzelne Themen aus der Frühgeschichte der Computerei
auf. Einige dieser Essays erschienen gesammelt in papierner Buchform. Bauer
verfasste auch eine kurze Geschichte der Informatik, die 2009 erschien. Ich
möchte dieses Buch nur oberflächlich einordnen. Nach meiner Meinung ist es
vergleichbar mit einem Buch, in dem man die Geschichte des Automobil- oder Maschinenbaus
nur aus der Sicht der entsprechenden Hochschulwissenschaft darstellen würde.
Eine solche Geschichte ist vermutlich leichter zu schreiben und zu lehren als
eine Geschichte, die Industrie und Wirtschaft mit einschließt.
Sehr
lebhaft erinnere ich mich an eine Tagung im Jahre 2000 im Heinz-Nixdorf-Forum
in Paderborn [6]. Zusammen mit amerikanischen Historikern versuchte man, für
Software eine historische Perspektive zu definieren. Bauer war der Star der Veranstaltung.
Er benutzte seinen Vortrag, um alle seine frühen Arbeiten (Stanislaus,
Kellerprinzip) ins rechte Licht zu rücken. Geradezu visionär war seine
Schlussthese: ‚Software is the winner in
modern technology. Hardware may be considered as the inevitable evil.‘ Dass
der Dialog mit den Historikern auch mich reizte, beweist ein Satz, der
sogar Eingang in den Epilog zur Tagung fand, den Michael Mahoney (1939-2008) verfasste:
‘New engineering knowledge is valuable,
so don´t look for it on the streets. … The knowledge of engineers (including that of software
engineers) expresses itself more in products than in papers’. Der
damals in Princeton lehrende Mahoney hatte einen sehr guten Kontakt zu Bauer und
den andern deutschen Informatik-Pionieren, da er einen Teil seines Studiums in
München verbracht hatte.
Organisator
der Informatik in Deutschland
Bauers
Verdienste für den Aufbau des Studienganges Informatik sind unbestritten. Seit
1967 bot er an der TU München zunächst eine Vorlesung zur ‚Elektronischen Informationsverarbeitung‘
an. Aus dem Diplommathematiker mit Nebenfach Informationsverarbeitung wurde
schließlich 1972 der Diplom-Informatiker. Er kämpfte sogar vor Gericht für die
Freigabe des Begriffs Informatik, der von der SEL AG in Stuttgart für ein
Werksgebäude belegt war ̶ allerdings ohne Erfolg.
Im
Jahre 1969 ergriff Bauer die Initiative zur Gründung der Gesellschaft für
Informatik (GI), nachdem die Bundesregierung sich zur Förderung des
Informatikstudiums entschlossen hatte. Er übernahm zwar selbst kein Amt in der
GI, beeinflusste aber sehr stark ihren Weg, vor allem durch seine Schüler und
Münchner Kollegen (Brauer, Broy, Denert, Deussen, Goos, Jessen, Paul,
Seegmüller, u.a.). Als Folge davon wurde die Informatik in Deutschland ein Kind
der Mathematik, wie dies auch von Broy [7] gesehen wird. ‚Wäre es nicht besser
gewesen, wenn die Elektrotechnik sich dieser Aufgabe [d. h. Gründung der
Informatik] angenommen hätte?‘ so fragt Broy, gibt aber selbst keine Antwort. Obwohl
auch ich schon öfters Antworten zu dieser Frage zu geben versucht habe, würde
es hier zu weit führen, darauf einzugehen. Erwähnen möchte ich, dass der
Erfolg, den die Informatik dank Bauers Engagement zweifellos erzielte, auch
Neider hervorrief. Nicht alle Fachgebiete oder alle Universitäten konnten von
dem öffentlichen Interesse, das die Informatik
erzielte, in gleicher Weise profitieren.
Internationale
Figur
Bauers
Bekanntheitsgrad im Ausland wird durch die beiden Software-Engineering-Tagungen
in Garmisch [2] und Rom [3] bestimmt. Beide Tagungen wurden von Bauer
initiiert. Als Mathematiker hätte Bauer erkannt, ̶ und
seinen Kollegen vermittelt ̶ dass
Informatik im Grunde eine Ingenieurkunst ist. Die Tagungen und ihre Berichte lenkten
das internationale akademische Interesse auf die Frage der systematischen und
industriellen Software-Entwicklung. Seither gibt es an vielen Orten neben der
Informatik (oder den Computerwissenschaften) einen zweiten Studiengang,
Software Engineering genannt. In Deutschland ging nur die Universität Stuttgart
(von Jochen Ludewig angeregt) diesen Weg.
Als
Bauers eigene Beiträge zur Diskussion in Garmisch werden meist die folgenden
zwei Sätze zitiert: ‚What is needed is
not classical mathematics, but mathematics. Systems should be built in levels
and modules which form mathematical structure' (S.37 von [2]). Bauer
beschränkte sich darauf, die stärkere Anwendung formaler Methoden zu fordern und
zu fördern. Gelegentlich verlangte er sogar, dass Entwickler nur dann einen
Auftrag akzeptieren sollten, wenn der Auftraggeber bereit sei, Vor- und
Nachbedingungen eines Anwendungsprogramms formal zu spezifizieren. Nach meiner
Meinung ist das eine Position, die nicht nur von Bauer vertreten wurde. Sie
ignoriert leider die Möglichkeit von Definitionsfehlern. Außerdem widerstrebt
es vielen Mathematikern, dass ‚gut genug für den Zweck‘ ein gutes Prinzip ist ̶
zumindest aus Ingenieur-Sicht. Dass Bauer in solchen Fragen wirklich
über seinen Schatten als Mathematiker sprang, ist mir nicht bekannt.
Die TU
München stiftete Bauer zu Ehren den Friedrich L. Bauer-Preis für Informatik. Er
wird seit 1992 vergeben. Der erste Träger war Zohar Manna (Jahrgang 1939) aus Israel. Manna und
sein Kollege Amir Pnueli (1941-2009) gelten als Bauers Geistesverwandte, da auch
sie ihr Lebenswerk der mathematischen Grundlegung der Informatik widmeten.
Persönliche
Interaktionen
Meine Einladung
zu der Garmisch-Konferenz verdankte ich nicht Bauer, ̶ auf dessen Bildschirm ich erst später
wahrgenommen wurde ̶ sondern Louis Bolliet aus Grenoble, den ich aus der gemeinsamen Zeit in New York City kannte. Ich war ja nur ein Industrievertreter, dazu noch von einer amerikanischen
Hardware-Firma, und nicht von Siemens oder Telefunken. Später war ich öfters in
München, und zwar als vom BMFT bestellter Gutachter eines Sonderforschungsbereiches,
den Bauer leitete. Es entstand daraus später ein Projekt, mit dem mein
Kollege Horst Remus, damals bei IBM in Santa Teresa,
CA, mehrere Jahre lang kooperierte.
Viele
Kollegen kennen die Geschichte, die ich bereits vor vier Jahren in diesem Blog erzählte. Ich war im
Jahre 1977 zu einem Kolloquiumsvortrag in München eingeladen, in dem ich es wagte, eine Arbeit von Bauers Freund Peter Naur zu kritisieren. Als ich mich bei der Jahrestagung der
GI in Berlin im Jahre 1978 in einem eingeladenen Vortrag zu der Bemerkung
hinreißen ließ, dass sich die Industrie ̶ anders als die Wissenschaft ̶ keine Software leisten könnte, in der
nach der externen Veröffentlichung auf 25 Programmzeilen 15 Fehler nachgewiesen
werden, war ich nach Bauers Meinung zu weit gegangen. Es kam zu einer bewegten
Diskussion. Ich rechnete es ihm und seinen Münchner Kollegen hoch an, dass ich
nach meiner Frühpensionierung im Jahre 1993 dennoch eine Professorenstelle an
der TU München angeboten bekam. Ich betrachte heute viele von Bauers Schülern
als gute Freunde und Kollegen. Sie setzen Bauers Werk fort.
Zusammenfassung
Kein
Mensch kann in allem Vorbild sein – nicht einmal Fritz Bauer. So hatte es Heinz
Zemanek in seiner Laudatio formuliert. Nur am Anfang einer neuen Erfindung wüchsen
Universal-Figuren heran wie er.
Die
Informatik weltweit verliert mit Bauer einen unermüdlichen Antreiber und Ideengeber,
einen verlässlichen Wegweiser und Aufpasser. Die deutsche Informatik muss ohne seine
wachende Sorge auskommen, die Münchner Informatik ohne ihren Übervater. Das Informatik-Spektrum
verliert einen der ursprünglichen Herausgeber nach 38 Jahren. Sein Wirken wird
Spuren hinterlassen, primär in Deutschland, aber auch international. Diese sind
erheblich und fast alle positiv. Wer viel tut, eckt eher an, als jemand der wenig
tut. Wer Großes versucht, dem misslingt auch schon einmal Einiges. Dessen war
sich F.L. Bauer bewusst. Sein Andenken wird Ansporn sein.
Zusätzliche
Referenzen
- Bauer, F. L., Goos, G.: Informatik – Eine einführende Übersicht. 2 Bände; 4. Auflage; Heidelberg 1991
- Naur, P., Randell, B. (eds.): Software Engineering: Report on a Conference Sponsored by the NATO Science Committee. Garmisch October 7-11, 1968: NATO Scientific Affairs Division 1969.
- Randell, B., Buxton, J. N., (eds.): Software Engineering Techniques: Report of a Conference Sponsored by the NATO Science Committee, Rome October 27-31, 1969; NATO Scientific Affairs Division 1970
- Zemanek, H.: Laudatio für F. L. Bauer anlässlich der Verleihung der Ehrenmitgliedschaft in der Gesellschaft für Informatik am 22. Oktober 1987. Informatik Spektrum 11(1988). 3-8.
- Bauer, F.L.: Entzifferte Geheimnisse. Methoden und Maximen der Kryptologie. 3. Auflage. Berlin 2000
- Bauer, F. L.: A Computer Pioneer’s Talk: Pioneering Work in Software During the 50s in Central Europe. In: Hashagen, U., Keil-Slawik, R., Norberg, A. (eds.): History of Computing: Software Issues. Heidelberg 2003. 11-22.
- Broy, M.: Von der Ingenieurmathematik zur Informatik. Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Friedrich L. Bauer zum achtzigsten Geburtstag. Informatik Spektrum 27 (2004).367-370
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