Samstag, 18. April 2015

Erinnerungen an Friedrich L. Bauer (1924-2015)

Der Tod des Kollegen Friedrich Ludwig Bauer (meist als F. L. Bauer bezeichnet) ruft Gedanken wach an manche gemeinsame Begegnungen und die Entwicklung der deutschen Hochschulinformatik allgemein. Beides ist für mich nicht voneinander zu trennen. Bauer galt als der unbestrittene Nestor der deutschen Informatik. Mit dem Titel Nestor, der an einen griechischen Teilnehmer des Troja-Feldzugs erinnert, verbindet man eine Persönlichkeit, die man als den „Altmeister“ einer Wissenschaft oder den Begründer eines bestimmten Verfahrens oder einer Denkrichtung ansieht.



Bauer war in Regensburg, der Hauptstadt der Oberpfalz, geboren. Er hatte Mathematik, Theoretische Physik und Astronomie an der TU München studiert. Nach zwei Jahren in Mainz war er ab 1963 ordentlicher Professor für Mathematik an der TU München. Er war Mitglied der Bayrischen Akademie der Wissenschaften und war Träger mehrerer bayrischer und anderer Auszeichnungen. Er wirkte bevorzugt in und für Bayern, aber auch weit darüber hinaus. Er wurde 1989 emeritiert.

Der Laudatio entsprechend, die Heinz Zemanek 1987 [4] anlässlich von Bauers Ernennung zum GI-Ehrenmitglied hielt. lässt sich Bauers Wirken unter vier Überschriften gliedern: Lehrer und Forscher, Autor und Historiker, Organisator der Informatik in Deutschland, Internationale Figur. Dieser Gliederung will ich folgen, setze dabei aber meine persönlichen Akzente.

Lehrer und Forscher

Bauers Name war mir seit seiner Mitarbeit an der PERM bekannt. Die PERM (Abk. für Programmgesteuerte elektronische Rechenanlage München) wurde in den Jahren 1952-1956 an der TU München unter der Leitung von Hans Piloty gebaut. Zu zwei der Hardware-Entwickler (Walter Proebster, Hans Otto Leilich) hatte ich später lange und intensive Kontakte. Nach einer gemeinsamen Zeit im Forschungslabor Zürich der IBM wurde Proebster Nachfolger von Karl Ganzhorn (1921-2014) als Leiter des Böblinger Labors. Leilich wurde Professor in Braunschweig. Obwohl nicht sehr zuverlässig, konnte die PERM Programme ausführen. Um deren Entwicklung und Darstellung machten sich Bauer und sein Freund Klaus Samuelson Gedanken.

Obwohl es mit COBOL und Fortran effektive Sprachen für den kaufmännischen Bereich einerseits und den technisch-wissenschaftlichen Bereich andererseits gab, ergriff eine Gruppe europäischer Numeriker die Initiative zur Definition einer Sprache, die besser als Fortan geeignet sei, um mathematische Algorithmen auf Papier zu veröffentlichen. Diese Zielsetzung geriet jedoch bald in Vergessenheit. Algol 58 und später Algol 60, so hieß die von Bauer, Peter Naur, Heinz Rutishauser und andern definierte Sprache und wurde die bevorzugte Programmier- und Publikationssprache an europäischen Universitäten. Sie sollte außerdem die befürchtete Dominanz der Industrie auf diesem aufstrebenden Feld verhindern bzw. brechen. Bauers Schüler Manfred Paul und Rüdiger Wiehle schrieben einen der ersten Algol-Compiler für die IBM 7090 zusammen mit Kollegen (wie David Gries) an der University of Illinois.

Bauers Bekanntheit resultiert unter anderem daher, dass er das bei dem Schulrechner Stanislaus und später bei der PERM angewandte Kellerprinzip zur Verarbeitung klammerfreier Formeln 1955 zum Patent anmeldete. Es ist eines der ersten Software-Patente überhaupt. Bauers Ernennung zum ‚Computer Pioneer‘ durch die IEEE im Jahre 1988 bezieht sich auf diese Erfindung. Erst mit den MP3-Patenten von Karlheinz Brandenburg und Kollegen gab es 50 Jahre später einen deutschen Beitrag zur technischen Seite der Informatik, der vergleichbares Aufsehen erreichte.

Wie sehr es Bauer am Herzen lag, die akademische Ausbildung in ganz Bayern zu fördern, zeigt sich darin, dass er von 1984 bis 1995 Direktor der Ferienakademie der Universität Erlangen und der TU München war. In Gasthöfen im Sarntal trafen sich Professoren und ausgewählte Studenten aus mehreren Fachbereichen jährlich zu einem mehrwöchigen wissenschaftlichen Seminar.

Autor und Historiker

Bauers Wirken als Autor hat sich vor allem in mehreren Lehrbüchern niedergeschlagen. Den größten Einfluss hatte zweifellos die zweibändige Einführung in die Informatik [1], die er mit Gerhard Goos zusammen verfasste. Er vertritt darin eine so genannte Top-Down-Lehrmethode. Diese geht vom Allgemeinen zum Speziellen. Sie stellt Grundbegriffe der Programmierung an die Spitze. Angeblich mache dies von den Zufälligkeiten der technischen Entwicklung frei. Es zwinge den Anfänger zum Nachdenken, anstatt sofort brauchbares Wissen (Patentlösungen) zu besitzen. Für die Übungsbeispiele wurde von Bauer/Goos anfangs Algol 68 empfohlen. ‚Eine begrifflich ebenso reichhaltige wie differenzierte Sprache mache den Übergang zu andern Sprachen sehr leicht‘ – so hieß es. Bauers Publikationen zur Kryptologie [5] sind Standardwerke der Informatik. Durch seine Beschäftigung mit diesem Gebiet konnte er sogar Vertreter des Geheimdiensts in seine Vorlesung locken.

Von seiner Tätigkeit als Historiker ist vor allem seine Arbeit für die Computer-Ausstellung des Deutschen Museums zu nennen. Zusammen mit Alfred Krösa, einem früheren Böblinger Hardware-Entwickler, schuf er drei separate Ausstellungen, nämlich für Informatik und Automatik (1988), für Mikroelektronik (1990) und das Mathematische Kabinett (1999). Ich erinnere mich sehr gerne an eine persönliche Führung, die Bauer mir gab. Einige der Böblinger Maschinen, die im Interview mit Edwin Vogt erwähnt sind, hatten es dorthin geschafft. Im Informatik-Spektrum, dessen Mitherausgeber er war, pflegte er über mehrere Jahre hinweg eine Rubrik ‚Historische Notizen‘. Darin griff er immer wieder einzelne Themen aus der Frühgeschichte der Computerei auf. Einige dieser Essays erschienen gesammelt in papierner Buchform. Bauer verfasste auch eine kurze Geschichte der Informatik, die 2009 erschien. Ich möchte dieses Buch nur oberflächlich einordnen. Nach meiner Meinung ist es vergleichbar mit einem Buch, in dem man die Geschichte des Automobil- oder Maschinenbaus nur aus der Sicht der entsprechenden Hochschulwissenschaft darstellen würde. Eine solche Geschichte ist vermutlich leichter zu schreiben und zu lehren als eine Geschichte, die Industrie und Wirtschaft mit einschließt.

Sehr lebhaft erinnere ich mich an eine Tagung im Jahre 2000 im Heinz-Nixdorf-Forum in Paderborn [6]. Zusammen mit amerikanischen Historikern versuchte man, für Software eine historische Perspektive zu definieren. Bauer war der Star der Veranstaltung. Er benutzte seinen Vortrag, um alle seine frühen Arbeiten (Stanislaus, Kellerprinzip) ins rechte Licht zu rücken. Geradezu visionär war seine Schlussthese: ‚Software is the winner in modern technology. Hardware may be considered as the inevitable evil.‘ Dass der Dialog mit den Historikern auch mich reizte, beweist ein Satz, der sogar Eingang in den Epilog zur Tagung fand, den Michael Mahoney (1939-2008) verfasste: ‘New engineering knowledge is valuable, so don´t look for it on the streets. … The knowledge of engineers (including that of software engineers) expresses itself more in products than in papers’. Der damals in Princeton lehrende Mahoney hatte einen sehr guten Kontakt zu Bauer und den andern deutschen Informatik-Pionieren, da er einen Teil seines Studiums in München verbracht hatte.

Organisator der Informatik in Deutschland

Bauers Verdienste für den Aufbau des Studienganges Informatik sind unbestritten. Seit 1967 bot er an der TU München zunächst eine Vorlesung zur ‚Elektronischen Informationsverarbeitung‘ an. Aus dem Diplommathematiker mit Nebenfach Informationsverarbeitung wurde schließlich 1972 der Diplom-Informatiker. Er kämpfte sogar vor Gericht für die Freigabe des Begriffs Informatik, der von der SEL AG in Stuttgart für ein Werksgebäude belegt war  ̶  allerdings ohne Erfolg.

Im Jahre 1969 ergriff Bauer die Initiative zur Gründung der Gesellschaft für Informatik (GI), nachdem die Bundesregierung sich zur Förderung des Informatikstudiums entschlossen hatte. Er übernahm zwar selbst kein Amt in der GI, beeinflusste aber sehr stark ihren Weg, vor allem durch seine Schüler und Münchner Kollegen (Brauer, Broy, Denert, Deussen, Goos, Jessen, Paul, Seegmüller, u.a.). Als Folge davon wurde die Informatik in Deutschland ein Kind der Mathematik, wie dies auch von Broy [7] gesehen wird. ‚Wäre es nicht besser gewesen, wenn die Elektrotechnik sich dieser Aufgabe [d. h. Gründung der Informatik] angenommen hätte?‘ so fragt Broy, gibt aber selbst keine Antwort. Obwohl auch ich schon öfters Antworten zu dieser Frage zu geben versucht habe, würde es hier zu weit führen, darauf einzugehen. Erwähnen möchte ich, dass der Erfolg, den die Informatik dank Bauers Engagement zweifellos erzielte, auch Neider hervorrief. Nicht alle Fachgebiete oder alle Universitäten konnten von dem öffentlichen Interesse, das die Informatik erzielte, in gleicher Weise profitieren.

Internationale Figur

Bauers Bekanntheitsgrad im Ausland wird durch die beiden Software-Engineering-Tagungen in Garmisch [2] und Rom [3] bestimmt. Beide Tagungen wurden von Bauer initiiert. Als Mathematiker hätte Bauer erkannt,  ̶  und seinen Kollegen vermittelt  ̶  dass Informatik im Grunde eine Ingenieurkunst ist. Die Tagungen und ihre Berichte lenkten das internationale akademische Interesse auf die Frage der systematischen und industriellen Software-Entwicklung. Seither gibt es an vielen Orten neben der Informatik (oder den Computerwissenschaften) einen zweiten Studiengang, Software Engineering genannt. In Deutschland ging nur die Universität Stuttgart (von Jochen Ludewig angeregt) diesen Weg.

Als Bauers eigene Beiträge zur Diskussion in Garmisch werden meist die folgenden zwei Sätze zitiert: ‚What is needed is not classical mathematics, but mathematics. Systems should be built in levels and modules which form mathematical structure' (S.37 von [2]). Bauer beschränkte sich darauf, die stärkere Anwendung formaler Methoden zu fordern und zu fördern. Gelegentlich verlangte er sogar, dass Entwickler nur dann einen Auftrag akzeptieren sollten, wenn der Auftraggeber bereit sei, Vor- und Nachbedingungen eines Anwendungsprogramms formal zu spezifizieren. Nach meiner Meinung ist das eine Position, die nicht nur von Bauer vertreten wurde. Sie ignoriert leider die Möglichkeit von Definitionsfehlern. Außerdem widerstrebt es vielen Mathematikern, dass ‚gut genug für den Zweck‘ ein gutes Prinzip ist  ̶  zumindest aus Ingenieur-Sicht. Dass Bauer in solchen Fragen wirklich über seinen Schatten als Mathematiker sprang, ist mir nicht bekannt.

Die TU München stiftete Bauer zu Ehren den Friedrich L. Bauer-Preis für Informatik. Er wird seit 1992 vergeben. Der erste Träger war Zohar Manna (Jahrgang 1939) aus Israel. Manna und sein Kollege Amir Pnueli (1941-2009) gelten als Bauers Geistesverwandte, da auch sie ihr Lebenswerk der mathematischen Grundlegung der Informatik widmeten.

Persönliche Interaktionen

Meine Einladung zu der Garmisch-Konferenz verdankte ich nicht Bauer,  ̶  auf dessen Bildschirm ich erst später wahrgenommen wurde  ̶  sondern Louis Bolliet aus Grenoble, den ich aus der gemeinsamen Zeit in New York City kannte. Ich war ja nur ein Industrievertreter, dazu noch von einer amerikanischen Hardware-Firma, und nicht von Siemens oder Telefunken. Später war ich öfters in München, und zwar als vom BMFT bestellter Gutachter eines Sonderforschungsbereiches, den Bauer leitete. Es entstand daraus später ein Projekt, mit dem mein Kollege Horst Remus, damals bei IBM in Santa Teresa, CA, mehrere Jahre lang kooperierte.

Viele Kollegen kennen die Geschichte, die ich bereits vor vier Jahren in diesem Blog erzählte. Ich war im Jahre 1977 zu einem Kolloquiumsvortrag in München eingeladen, in dem ich es wagte, eine Arbeit von Bauers Freund Peter Naur zu kritisieren. Als ich mich bei der Jahrestagung der GI in Berlin im Jahre 1978 in einem eingeladenen Vortrag zu der Bemerkung hinreißen ließ, dass sich die Industrie  ̶  anders als die Wissenschaft  ̶  keine Software leisten könnte, in der nach der externen Veröffentlichung auf 25 Programmzeilen 15 Fehler nachgewiesen werden, war ich nach Bauers Meinung zu weit gegangen. Es kam zu einer bewegten Diskussion. Ich rechnete es ihm und seinen Münchner Kollegen hoch an, dass ich nach meiner Frühpensionierung im Jahre 1993 dennoch eine Professorenstelle an der TU München angeboten bekam. Ich betrachte heute viele von Bauers Schülern als gute Freunde und Kollegen. Sie setzen Bauers Werk fort.

Zusammenfassung

Kein Mensch kann in allem Vorbild sein – nicht einmal Fritz Bauer. So hatte es Heinz Zemanek in seiner Laudatio formuliert. Nur am Anfang einer neuen Erfindung wüchsen Universal-Figuren heran wie er.

Die Informatik weltweit verliert mit Bauer einen unermüdlichen Antreiber und Ideengeber, einen verlässlichen Wegweiser und Aufpasser. Die deutsche Informatik muss ohne seine wachende Sorge auskommen, die Münchner Informatik ohne ihren Übervater. Das Informatik-Spektrum verliert einen der ursprünglichen Herausgeber nach 38 Jahren. Sein Wirken wird Spuren hinterlassen, primär in Deutschland, aber auch international. Diese sind erheblich und fast alle positiv. Wer viel tut, eckt eher an, als jemand der wenig tut. Wer Großes versucht, dem misslingt auch schon einmal Einiges. Dessen war sich F.L. Bauer bewusst. Sein Andenken wird Ansporn sein.

Zusätzliche Referenzen
  1. Bauer, F. L., Goos, G.: Informatik – Eine einführende Übersicht. 2 Bände; 4. Auflage; Heidelberg 1991
  2. Naur, P., Randell, B. (eds.): Software Engineering: Report on a Conference Sponsored by the NATO Science Committee. Garmisch October 7-11, 1968: NATO Scientific Affairs Division 1969.
  3. Randell, B., Buxton, J. N., (eds.): Software Engineering Techniques: Report of a Conference Sponsored by the NATO Science Committee, Rome October  27-31, 1969; NATO Scientific Affairs Division 1970 
  4. Zemanek, H.: Laudatio für F. L. Bauer anlässlich der Verleihung der Ehrenmitgliedschaft in der Gesellschaft für Informatik am 22. Oktober 1987. Informatik Spektrum 11(1988). 3-8.
  5. Bauer, F.L.: Entzifferte Geheimnisse. Methoden und Maximen der Kryptologie. 3. Auflage. Berlin 2000
  6. Bauer, F. L.: A Computer Pioneer’s Talk: Pioneering Work in Software During the 50s in Central Europe. In: Hashagen, U., Keil-Slawik, R., Norberg, A. (eds.): History of Computing: Software Issues. Heidelberg 2003. 11-22.
  7. Broy, M.: Von der Ingenieurmathematik zur Informatik. Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Friedrich L. Bauer zum achtzigsten Geburtstag. Informatik Spektrum 27 (2004).367-370

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