Harry Marsh Sneed (Jahrgang
1940) ist seit Jahrzehnten mit Software Engineering und Reengineering, mit Software-Qualitätssicherung
und speziell Software-Testen und Testautomatisierung betraut und einer der
führenden Experten auf dem Gebiet. Dies nicht zuletzt auch aufgrund seiner
Autoren- und Koautorenschaft an 22 einschlägigen Fachbüchern und zahllosen
Fachartikeln und -vorträgen über vier Jahrzehnte. Sneed erwarb 1969 einen
MPA-Grad (Master of Public Administration and Information Science) an der
University of Maryland in den USA. Nach Tätigkeiten im US Navy Department und
in den 1970ern über mehrere Jahre u.a. bei Siemens in München, auch schon zu
Software-Qualitätssicherung, wurde er Firmengründer und Geschäftsführer sowie Laborleiter
in Budapest. Insb. ab den 1980er Jahren wurde er damit hochpräsent in der fachlichen
Softwarequalitätssicherungsszene wissenschaftlich wie praktisch.
Harry Sneed verlagerte den Mittelpunkt seiner
Aktivitäten ab den 1990ern wieder mehr nach Schweiz, Deutschland, Österreich
zurück und schloss sich schließlich dem Wiener Unternehmen ANECON an, weiterhin
zu Software-Qualitätssicherung. Er ist darüber hinaus seit Jahren als
Lehrbeauftragter und Dozent an verschiedenen Universitäten tätig, so etwa an
der Universität Regensburg. Zu den vielen Preisen und Auszeichnungen, die an
ihn verliehen wurden, gehören der Deutsche Preis für Softwarequalität 2011 (für
sein Lebenswerk), der International Software Testing
Excellence Award von der ISTQB 2013, die GI-Fellowship 2005, die
IEEE-Auszeichnung für bahnbrechende Leistungen im Bereich Software-Reengineering 1996 und der Stevens
Award für seine Beiträge auf dem Gebiet der Softwarewartung im Jahre 2009.
Klaus
Küspert (KK):
Herr Sneed, Sie sind in der Informatikwelt nun seit etwa 45 Jahren engagiert
und mit prägend vor allem im Bereich Software-Qualitätssicherung. Können Sie
uns zu Beginn bitte ein paar Sätze zu Ihren entsprechenden Anfängen sagen, wie
kamen Sie also mit der Informatik („Computer Science“ oder „Information
Systems“ in den USA) in Berührung: War es schon im Studium in Teilen oder unmittelbar
danach?
Harry
Sneed (HS): Ich
hatte nie vor, in der Informatik zu arbeiten. Ich kam 1965 aus dem
Militärdienst und wollte mein Studium beenden. Mein Ziel war, Beamter zu
werden. Deshalb das Studium in Public Administration. Information Science kam
später hinzu. Nach meinem Bachelor-Abschluss an der Universität Maryland im
Jahre 1967 habe ich mich beim US Civil Service beworben. Die einzige offene Stelle
war als Programmierer im US Navy Department. Ich musste, um diese Stelle zu
bekommen, im Graduate Studium das Fach Information Sciences neben dem Fach
Public Administration belegen. Ich wurde also praktisch gezwungen, Wirtschaftsinformatik
zu studieren. Dafür hat das Navy Department mein Studium unterstützt. Ich habe
in der Woche drei Tage im Navy Research Center gearbeitet und zwei Tage an der
Universität Maryland studiert. Fortran-Programmieren habe ich schnell gelernt.
Mein Auftraggeber war ein ehemaliger deutscher U-Boot-Wissenschaftler, der nach
dem Krieg in Amerika sein Auskommen fand. Wir haben gut zusammengearbeitet. Er
hat die Vorgaben gemacht und ich habe sie in Fortran-Code umgesetzt. Es ging um
Flottenverteidigungssysteme. Das hat mich interessiert. Meine Fortran-Programme
sind über die Zeit immer besser geworden. Der deutsche Wissenschaftler hatte
mit mir viel Geduld. Nebenbei habe ich Programmierkurse im Navy Department
besucht und kam so immer mehr ins Fach.
KK: Wie kam es dann für Sie zum Wechsel
aus den USA nach Deutschland und schließlich zu Ihrer Beschäftigung bei Siemens
in München (und war das gegen Ende dann gerade schon zu Neuperlach-Zeiten
(„Datasibirsk“) oder alles noch davor)?
HS: Ich hatte eine deutsche Frau. Ich
hatte sie während meiner Soldatenzeit in Deutschland kennen gelernt. Sie ist
mit mir nach Amerika gekommen. Wir hatten in Amerika am Anfang eine schwere
Zeit. Ich habe neben meinem Studium auf dem Bau gearbeitet. Wir mussten sehr
bescheiden leben und konnten uns keine Krankenversicherung leisten. Die
Sicherheit und den Lebensstandard in Deutschland hat sie vermisst. Also wollte
sie schon sehr bald nach Deutschland zurück. Nachdem ich die Stelle beim US
Navy Department hatte, ging es uns besser, aber sie hatte schon den Beschluss
gefasst, zurückzukehren. Obwohl ich schon eine Promotionsstelle an der Uni
Maryland hatte, habe ich ihr versprochen, ich würde mich um eine Stelle in
Deutschland kümmern. 1969 hat sie für mich eine Stellensuche als
Systemanalytiker in einer Informatikzeitschrift platziert und ich bekam darauf
33 Angebote. Sie ist danach vorausgegangen und hat die Termine organisiert. Ein
Jahr später bin ich ihr nachgefolgt.
Von
den 33 Angeboten habe ich mich für die Hochschulinformationssystem GmbH (HIS)
in Hannover entschieden. Ich wollte weiterhin nahe an den Hochschulen sein. Ich
hatte immer noch die Absicht, zu promovieren, aber es sollte nicht dazu kommen.
Zuerst habe ich an mehreren deutschen Hochschulen Projekte unter namhaften
deutschen Professoren durchgeführt: Prof. Mertens in Erlangen –
Studenteninformationssystem, Prof. Krüger in Karlsruhe – Raumverwaltungssystem
und Prof. Grochla in Köln – Finanzverwaltungssystem. In dieser Zeit habe ich
mein erstes deutsches Buch „Informationssysteme für die Hochschulverwaltung“ im
de Gruyter Verlag geschrieben. Gleichzeitig habe ich meine ersten
deutschsprachigen Fachartikel verfasst, in der Informatikzeitschrift und in
Online – Zeitschrift für Datenverarbeitung. Dann hat Siemens Hannover mir angeboten,
zu ihnen zu kommen. Sie hatten einen Auftrag in Göttingen, die Stadtverwaltung
zu automatisieren. Das Projekt hat mich gereizt und ich bin hingegangen. Das
Projekt war ein großer Erfolg und ich wurde von der Stadt geehrt. Kurz danach
hat Siemens mir eine Stelle in der Zentrale in München angeboten. Ich habe sie
angenommen und bin mit meiner Frau nach München gezogen. Damals war die
Siemens-IT noch in Schwabing. Dort habe ich im Datenbankbereich das Projekt für
die Query-Sprache geleitet.
KK: Im Jahre 1968 war ja auf der
berühmten Garmisch-Fachtagung jener Zeitpunkt gewesen, wo erstmals explizit und
sozusagen nachhaltig von der „Softwarekrise“ gesprochen wurde. Würden Sie
sagen, dass jene Siemens-Aktivitäten der 1970er, deren wesentlicher Teil Sie ja
mit waren, darauf zurückzuführen sind, also die nun stärkere Betonung von
Software-Qualität und deren Sicherstellung?
HS: Ich habe die Berichte über die
Garmisch-Tagung mit großem Interesse verfolgt. Schon 1971 bin ich von HIS aus
auf die IFIP-Konferenz in Ljubljana gegangen. Dort habe ich einige der
Teilnehmer der Garmischer Konferenz persönlich kennengelernt. Das hat mich sehr
inspiriert. Als ich 1974 zu Siemens nach München kam, war die Idee des
Software-Engineering dort schon im Aufblühen begriffen. Ich habe mit meinen
Fachartikeln und DV-Kursen beigetragen. Ich habe zu dieser Zeit auch ein Buch
über strukturierte Programmierung herausgebracht. Ich muss sagen, Siemens hat
mich in meiner Arbeit sehr unterstützt. Schon als Projektleiter für Siemens habe
ich begonnen, mich mit Testen zu befassen, als ich merkte, dass 50% des
Projektaufwands durch den Test beansprucht wurden. Mein erstes Seminar über
Softwaretest habe ich bei Siemens 1976 gehalten. Daraufhin hat der Leiter des ITS-Projekts
(Integriertes Transport System), Dieter Höft, mich ersucht, den Test im Projekt
zu übernehmen. Es sollte in dem Projekt einen Qualitätsmanager und einen
Test-Teamleiter geben. Es gab aber leider keine Tester. Niemand wollte diesen
Job machen. Also bin ich auf Ungarn ausgewichen. Das ungarische Institut SZKI
hatte damals schon mit Siemens zusammengearbeitet – Personal gegen Rechner. Gleichzeitig
traf ich auf einer Testkonferenz in London den Vertreter eines anderen
ungarischen Instituts SZAMOK. Auch dieses Institut hat Tester angeboten. Ich
habe nicht lange gezögert und habe zusammen mit dem amerikanischen Testexperten
Dr. Ed Miller das Siemens-Testlabor in Budapest aufgebaut.
KK: Mit jenen Budapest-Aktivitäten waren
Sie ja Pionier gewissermaßen, zu einer Zeit, als die Öffnung und
Durchlässigkeit zwischen Ost und West noch mehr als 10 Jahre entfernt (und
nicht absehbar) waren. Könnten Sie zu jener sicher extrem spannenden
Zeitperiode bitte noch etwas mehr sagen und Eindrücke vermitteln?
HS: Ich bin nach Budapest gegangen, weil
sie dort einen Siemens-Rechner und gut ausgebildetes Personal mit deutschen
bzw. englischen Sprachkenntnissen hatten. Die Institutsleiter und das
Außenhandelsministerium waren auch bereit, das Projekt zu unterstützen. Wir
konnten uns auf einen Festpreis für Testleistungen einigen – 75 DM pro
dokumentiertem Testfall und 150 DM pro nachgewiesenem Fehler, wobei wir eine
Testüberdeckung von mindestens 85% Zweigüberdeckung erreichen mussten. Für
dieses Projekt habe ich das erste deutsche Testwerkzeug – Prüfstand – aufgrund
des ersten amerikanischen Testwerkzeuges RXVP – Research Evaluation and
Verification Package – entwickelt und im ITS-Projekt eingesetzt. Dr. Miller hatte
das RXVP-Projekt geleitet und uns in Ungarn beraten. Ich bin jede Woche mit
einem Magnetband voller neuer Softwaremodule nach Budapest geflogen. Dort
wurden die Module zunächst analysiert und nachdokumentiert. Die Testfälle
wurden aus dem Programmodell abgeleitet, ein Testfall für jeden Pfad durch den
Kontrollflussgraph. In dieser Hinsicht war ich wirklich ein Pionier: das erste
kommerzielle Testlabor, das erste Test-Outsourcing-Projekt, der erste modellbasierte
Test und das erste Testautomatisierungsprojekt in Deutschland. Natürlich gab es
Vorgänger in den USA, nämlich im Ballistic-Missile-Defense-Projekt (BMD), wo
auch modellbasiert und automatisiert getestet wurde. Das BMD-Projekt mit RNets
und RXVP war unser großes Vorbild.
Dies
also war der Anfang meiner Zusammenarbeit mit den ungarischen Recheninstituten.
Natürlich wurde ich vom BND überwacht und auf der ungarischen Seite musste ich
mich ein paar Mal vor der Sicherheitspolizei verantworten. Nach der
Veröffentlichung eines umstrittenen Artikels über das Testprojekt wurde ich
kurzzeitig in Gewahrsam genommen. Das hat mich nicht aufgehalten. Von der
deutschen Seite bekam ich auch Unterstützung, nämlich vom Bundespräsidenten
Weizsäcker, der sich in einem Brief bei mir bedankte für meine Bemühungen, die
Helsinki-Vereinbarungen umzusetzen. Es gab natürlich Firmen wie MBB,
die die Zusammenarbeit mit uns verweigerten, aber es gab genug andere, wie Bertelsmann,
BMW und Thyssen, die uns ihre volle Unterstützung anboten. Wir haben über viele
Jahre Räume und Rechenkapazität in Gütersloh gehabt, wo wir unsere Werkzeuge
ungehindert weiter entwickeln konnten.
KK: Um schon mal die Brücke etwas zu den
Hochschulen zu schlagen: Ich nehme an, dass sie seit den 1970ern dann auch
schon mehr und mehr mit Informatik-Hochschulabsolventen zu tun hatten, die also
den damals neuen und sich rapide ausbreitenden Informatikstudiengang komplett
durchlaufen hatten – sei es in Ungarn, sei es im Westen Europas. Wie waren Ihre
Erfahrungen: Brachten diese Absolventen von den Universitäten zumindest etwas
„awareness“ für Software-Qualitätssicherung mit oder vielleicht oft nicht mal
das?
HS: Ich habe mit
Informatik-Hochschulabsolventen in verschiedenen europäischen Ländern zu tun
gehabt, vor allem in Ungarn, Deutschland, Österreich und in der Schweiz. In den
1970er Jahren war der Stand der Informatikausbildung auf einem bescheidenen
Niveau. In Ungarn gab es sehr gute Mathematiker und Leute mit guten Fremdsprachenkenntnissen.
Auch Mathematik ist eine Sprache, eine Sprache der Zahlen. Informatik ist
eigentlich eine Sprachwissenschaft. Man hat mit vielen Sprachen zu tun:
Spezifikationssprachen, Entwurfssprachen, Programmiersprachen, Testsprachen und
mittlerweile auch mit Prozessmodellierungssprachen. Da haben Kontinentaleuropäer
einen gewissen Vorteil gegenüber Amerikanern und Engländern, die in der Regel
nur ihre Muttersprache beherrschen. Die meisten Kontinentaleuropäer sind
gezwungen, sich mit vielen Sprachen auseinander zu setzen. Das macht sie für
die Informatik besser geeignet. Dazu kommt das inzwischen solide Grundstudium
in Informatik. Dieses ist zwar etwas theorielastig und die Studenten müssen
ihre praktischen Kenntnisse erst im Beruf erwerben, aber es kann nur so sein.
Welche Praxis soll man denn an der Uni lehren, es gibt nicht die Praxis, sondern viele Formen der
Praxis und sie wechseln alle fünf Jahre. Demzufolge bleibt eine gute
theoretische Ausbildung die einzige und – mit einigen praktischen Übungen in irgendeiner
Praxis – die beste Lösung.
In
der Theorie sollten Studenten lernen, dass eine 100% korrekte Lösung nicht
einmal theoretisch erreichbar ist und praktisch schon gar nicht. Ein
imperfektes Wesen, was der Mensch nun einmal ist, kann keine perfekten Artefakte
konstruieren. In anderen Lebensbereichen kommen wir mit den vielen kleinen
Inkonsistenzen und Unebenheiten gut zurecht. In der Softwaretechnologie werden
wir dafür unerbittlich bestraft. Der Test ist notwendig, um wenigstens die krassesten
Inkonsistenzen und Unebenheiten zu entfernen, ehe der Benutzer darauf kommt. Da
wir jedoch nicht wissen können, wie viele solche Mängel eine Software enthält, tappen
wir im Dunkeln. Wir müssten eine potentiell unendliche Anzahl Mängel in einer
endlichen Zeit aufdecken. Da wir dies nicht schaffen können, sind Entwickler
und Tester permanent frustriert. Die meisten jungen Informatiker überschätzen
sich selbst maßlos und unterschätzen die Schwierigkeiten der
Softwareentwicklung um einige Potenzen. Die Uni sollte ihnen mehr Bescheidenheit
beibringen, damit sie ihre Grenzen früher erkennen. Dann würden nicht etliche
nach wenigen Jahren den Entwicklerberuf aus Frustration an den Nagel hängen.
KK: Sie hatten nach den Budapest-Jahren
verschiedene berufliche Stationen in Deutschland und der Schweiz, bevor Sie
sich ANECON anschlossen, wo Sie dann über
Jahre tätig waren. Sagen Sie unseren Lesern des Interviewtexts bitte etwas zu
ANECON und zu Ihren Tätigkeiten dort?
HS: Nach dem Zusammenbruch des
Sozialismus war mir die Basis meiner Existenz genommen. Die ungarischen
Institute, in denen ich inzwischen ein Zuhause gefunden hatte, wurden über Nacht
abgewickelt. Viele meiner Mitarbeiter sind ins Ausland gegangen. Ich musste mein
Zimmer im Burgviertel von Budapest gegen eine Gartenlaube in der Vorstadt
tauschen. Ich fühlte mich als Verlierer der Geschichte, aber das Leben ging
irgendwie weiter. Es kam ein Anruf aus Zürich.
Die
UBS (eine bekannte Schweizer Bank)
suchte einen Auftragnehmer für ein Migrationsprojekt. Mit dem verbliebenen Rest
meiner Mitarbeiter aus den beiden zusammengebrochenen Instituten bin ich nach
Zürich gezogen. Dort in der UBS haben wir ein Software-Reengineering-Kompetenzzentrum
eingerichtet. Es gab jede Menge an Reengineering- und Migrationsprojekten. Mit
dem Test und der Qualitätssicherung war es für mich vorläufig vorbei. Mein
beruflicher Schwerpunkt hatte sich verlagert. Die Jahre in Zürich waren mein
wissenschaftlicher Höhepunkt. In dieser Zeit bin ich international bekannt
geworden und nicht für Test und Qualitätssicherung, sondern für Reverse- und
Reengineering. Ich bekam eine Auszeichnung von der IEEE und durfte meinem alten
Arbeitgeber, dem US-Verteidigungsministerium, als Berater für ihre
Software-Reengineering-Prozesse dienen. Für meinen Beitrag zum Gebiet der
Softwarewartung bekam ich später den internationalen Stevens Award. Leider ging
die schöne Zeit in der Schweiz zu Ende, als die Fremdenpolizei sich weigerte,
unsere Arbeitsbewilligungen zu verlängern. Das hatte damit zu tun, dass der
alte IT-Leiter, der uns angefordert hatte, abtreten musste.
Also
habe ich versucht, wieder in Deutschland Fuß zu fassen. Testprojekte habe ich
keine mehr bekommen, auch keine QS-Beratungsaufträge, nur ein paar Migrations-
bzw. Kapselungsprojekte hier und dort: im FISCUS-Projekt, für die deutschen
Sparkassen in Münster und Hannover, für die bayerische Landesversicherung und
die Kommunalverwaltung Bayerns. Meistens handelte es sich um alte
Assemblersysteme, die im Vorfeld des Jahrtausendwechsels umgestellt werden
mussten. Als es solche Projekte nicht mehr gab, war ich gezwungen, wieder ins
Ausland zu gehen, als Tester und Qualitätsprüfer für ein großes Bankenprojekt
in Wien. Dort habe ich für die Firma SDS Testwerkzeuge entwickelt und Statistiken
über die Qualität, Quantität und Komplexität der Software geführt. Meine alten
Werkzeuge habe ich auf C++ und Java umgestellt. Bei der SDS habe ich zahlreiche
Kostenschätzungen und Produktivitätsanalysen durchgeführt.
Dabei
bin ich das eine und andere Mal zu weit gegangen und habe gegen die österreichische
Arbeitsverfassung verstoßen. Als es später zu einer Entlassungswelle kam, stand
mein Name ganz oben auf der Liste des Betriebsrats. Ich musste wieder einen neuen
Arbeitgeber finden. Das hat wieder eine Weile gedauert. Ich habe überall in
Deutschland versucht, Anschluss zu finden, aber ich musste erkennen, dass meine
Zeit in Deutschland zu Ende war. Auf einer Metrikkonferenz in Magdeburg habe
ich eine junge Dame von der Firma ANECON kennengelernt. Sie wollte mir helfen,
bei ANECON als Testexperte einzusteigen. Sie hat Wort gehalten und ich bin, wie
das Schicksal es so will, wieder in Wien gelandet.
Bei
ANECON habe ich mich an vielen Testprojekten beteiligt, unter anderem als
Test-Teamleiter für die österreichische Wirtschaftskammer, als Testanalytiker
für den Freistaat Sachsen in Dresden, als Lastenheftprüfer und Ghost Writer für
das Bundesamt für Wasserbau und Binnenschifffahrt in Ilmenau und als Testwerkzeugentwickler
für eine Bank in Wien. Ich habe in meiner Zeit bei der ANECON mindestens acht
Messprojekte durchgeführt. Das Größte war für ein Versicherungsunternehmen in
Stuttgart, wo ich mit meinen letzten beiden ungarischen Mitarbeitern 70 Millionen
Codezeilen in 13 verschiedenen Sprachen vermessen habe.
Mein
erster Kunde für die ANECON war eine Telekommunikationsfirma, bei der ich
Fehler in der Kommunikation zwischen Frontend und Backend gesucht habe. Daten
sind bei der Datenübertragung verloren gegangen. Es hat lange gedauert, bis ich
darauf gekommen bin, dass das Produkt MQ Series die Nachrichten über 32 KB
einfach kommentarlos abschnitt. Sie waren zu Recht nicht besonders glücklich
mit meiner Leistung. Zehn Jahre später habe ich bei der gleichen Firma einen
Grundkurs über Testprozesse gehalten. Dabei soll ich rassistische Bemerkungen
habe fallen lassen. Wieder war dieser Kunde mit meiner Leistung nicht besonders
erfreut. Daraufhin hat ANECON mich entlassen. Es war auch allmählich Zeit. Ich war
nämlich damals bereits 74 Jahre alt.
KK:
Durch Ihre vielen
Jahre als Dozent auch an Hochschulen: Wie sehen Sie die Berücksichtigung und
den Stellenwert in der Lehre dort von Software-Qualitätssicherung heute? Wenn
Sie möchten, können Sie gerne dabei differenzieren zwischen Informatik und
Wirtschaftsinformatik oder zwischen den verschiedenen Ländern, wo Sie Einblick
gewonnen haben – es waren ja einige Länder..
HS: Meine Karriere als Hochschullehrender
begann in Italien im Jahr 1999. Die italienischen Professoren, die mich aus der
Reengineering Community kannten, haben mich eingeladen, am Masters Programm für
Berufstätige in Benevento teilzunehmen. Es war ein von der EU gefördertes Weiterbildungsprojekt.
Für fünf Jahre habe ich immer im Frühjahr eine Woche dort unterrichtet –
Reengineering, Softwaremessung und Kostenkalkulation. Wir haben viele
Gruppenarbeiten unter meiner Betreuung gemacht. Im Gegensatz zu Deutschland
waren rund 50% der Teilnehmer weiblich und es waren meistens die Frauen, die in
den Gruppen den Ton angegeben haben. Die Männer waren mehr in einem Mitläufermodus.
Vielleicht fehlte ihnen die Begeisterung für meine Themen.
In
Deutschland hat Prof. Franz Lehner von der Universität Regensburg einen Antrag
an das bayerische Kultusministerium gestellt, dass ich an der Uni dort auch
ohne Promotion lehren dürfte. Es gab ein Gutachterverfahren, wobei mir die
alten Beziehungen zu den Hochschulprofessoren aus der HIS-Zeit zu Gute kamen.
Der Antrag wurde genehmigt und ich begann im Sommersemester 2000 am Lehrstuhl
für Wirtschaftsinformatik I, Software Engineering für Wirtschaftsinformatiker zu
lehren. Fünf Jahre später ist Franz Lehner zur Uni Passau gewechselt, aber ich
blieb unter Günther Pernul weiter an der Uni Regensburg. Für zwei Jahre habe
ich auch in Passau gelehrt und von dort aus auch noch an der Corvinius-Universität
in Budapest im Rahmen eines Austauschprogramms.
Gleichzeitig
habe ich begonnen, für Prof. Jürgen Ebert an der Uni Koblenz zu lehren. Dort
habe ich Softwaretest und -messung gelehrt, abwechselnd im Sommer- und im Wintersemester.
Im Frühjahr 2002 begann ich auch noch an der Universität Szeged in Ungarn für
Prof. Tibor Gyimóthy zu lehren. In Szeged lehrte ich abwechselnd Test und
Wartung eine Woche pro Semester. Das war alles zu viel für mich. Ich musste
Passau aufgeben. In Budapest hätte ich gerne weiter gelehrt, aber das
Austauschprogramm wurde zurückgefahren. Also blieben mir „nur“ Regensburg, Koblenz
und Szeged übrig. Zurzeit lehre ich noch an den Universitäten Regensburg und
Dresden in Deutschland sowie an den Fachhochschulen Hagenberg und Wien in
Österreich.
Bald
merkte ich den Unterschied zwischen den Ländern. In Ungarn sind die Studenten
und Studentinnen – in der ungarischen Wirtschaftsinformatik gibt es viele
Frauen im Gegensatz zur Kerninformatik, wo fast nur Männer sind – theoretisch
stark, aber praktisch etwas unbeholfen. Das liegt daran, dass die Hochschulen unterfinanziert
sind und kein Geld für moderne Werkzeuge haben. Ich habe meine Werkzeuge bereitgestellt,
aber die Studenten waren nicht gewohnt, überhaupt mit Werkzeugen zu arbeiten.
In Koblenz waren die Studenten theoretisch schwächer. Das lag wahrscheinlich an
der Bildungspolitik. Bei denselben Prüfungen wie in Regensburg schnitten sie um
10 bis 20% schlechter ab. Sie waren nicht gewohnt, auswendig zu lernen. Die
Bayern kamen bis auf wenige Ausnahmen immer an die 100%. Den Bayern und den
Ungarn konnte ich die gleiche Prüfung geben. Für die Rheinländer musste ich
eine andere Prüfung schreiben. In Ungarn sind die Englischsprachkenntnisse
besser. Die Ungarn sind gezwungen, Sprachen zu lernen, um im Leben weiter zu
kommen. In Bayern haben sie das nicht nötig. Es reicht, wenn sie Hochdeutsch
sprechen. Ich hatte gelernt, mein Lehrniveau den Studenten anzupassen. Das hat
schon in Italien begonnen.
Jetzt,
da ich an Fachhochschulen in Wien und in Hagenberg lehre, muss ich unterschiedliche
Standards setzen. In Wien ist fast die Hälfte der Studenten mit
Migrationshintergrund. Das heißt, sie müssen drei Sprachen beherrschen – ihre
Muttersprache, Deutsch im Betrieb und dann noch Englisch in der Schule. Natürlich
sind sie benachteiligt. Ich muss ihnen entgegenkommen. In Hagenberg sind die
Englischkenntnisse sehr gut. Sie sind auch praktisch sehr versiert, weil die
Fachhochschule dort mit den modernsten Mitteln ausgestattet ist. Die Englischunterricht
in den Schulen in Oberösterreich scheint besser zu sein als im benachbarten
Bayern.
Schließlich
unterrichte ich seit drei Jahren an der Technischen Universität Dresden, jedes
Sommersemester 32 Stunden. Dort sind die Studenten praktisch sehr begabt, aber
theoretisch etwas schwächer als die Bayern. Ich merke, es hapert mit der
Grundausbildung. Es wird in Sachsen zumindest früher nicht so viele gute
Englischlehrer gegeben haben. Mit den Übungen kommen die Sachsen gut zurecht.
Sie sind praktisch veranlagte Menschen. Jetzt reicht es an Ländervergleichen,
sonst handele ich mir wieder einen Rassismus-Vorwurf ein.
KK: In Deutschland hat das Thema
Software-Qualitätssicherung ja auch durch die Fraunhofer-Institute stark an
Bedeutung zugenommen in den letzten zwei Jahrzehnten, ich denke etwa an das IESE in Kaiserslautern und auch an
weitere Einrichtungen. Sehen Sie das auch so als weiteren „Schub“ für das
Gebiet und sind die Spuren aus Ihrer Praxissicht schon deutlich sichtbar
geworden?
HS: Das IESE in Kaiserslautern hatte ja
schon immer einen Schwerpunkt in der Qualitätssicherung. Der Gründer und langjährige
Leiter Prof. Dieter Rombach hatte an meiner alten Universität Maryland bei Victor
Basili gearbeitet. Er genießt in Amerika einen exzellenten Ruf als Fachmann für
Metrik und Messung. Prof. Peter Liggesmeyer am IESE,
der heutige geschäftsführende Institutsleiter, war einige Zeit in Maryland, um
das Institut dort aufzubauen. Es besteht weiterhin eine enge Beziehung zwischen
dem IESE und der Universität Maryland, was Forschung auf dem Gebiet der
Qualitätssicherung anbetrifft. Prof.
Liggesmeyer, der heutige Präsident der GI, hatte schon seinen
Promotionsschwerpunkt im Softwaretest
und hat sehr früh einen Ruf als Testexperte gewonnen. Als er noch
wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Bochum war, hatte ich mit ihm
zu tun. Ich weiß nicht, zu welchem Grad ich ihn beeinflusst habe. Jedenfalls
hat er sich in den 1980er Jahren für meine Arbeit auf dem Gebiet des Testens
stark interessiert.
Vor mir auf meinem Schreibtisch blicke ich auf sein Buch
„Modultest und Modulverifikation“, das er mir damals geschenkt hat. Dann habe
ich das Gebiet verlassen und der Kontakt, auch der mit Prof. Rombach, war nicht
mehr so stark. Ich denke, das IESE wird weiterhin das Qualitätsbewusstsein in
Deutschland und über Deutschland hinaus durch seine Konferenzen und Veröffentlichungen
stark prägen. Ich meine, das IESE hat auch ein mächtiges Wort in der
Forschungspolitik mit zu reden. Zusammen mit dem Lehrstuhl von Prof. Manfred
Broy an der TU München setzen sie die Latte für Softwarequalität weltweit.
Daneben ist auch die GI-Fachgruppe für Test, Analyse und Verifikation (TAV) von
Software zu erwähnen. Sie gehört zu den stärksten GI-Fachgruppen. Außerdem ist
die ISTQB nirgendwo so stark wie in Deutschland und die ASQF geht jetzt in die
USA. Man könnte sogar behaupten, Deutschland sei die Heimat der
Softwarequalität.
KK:
Sie waren ja auch
immer ein konstruktiv-kritischer Beobachter des Software-Engineering allgemein
und nicht zuletzt auch der Programmiersprachen und eben Programmierung. Wie ist
Ihre Sicht auf die Programmiersprachenthematik heute?
HS: Meine Meinung zu den
Programmiersprachen ist, dass wir uns im Kreis drehen. Früher gab es
internationale Ausschüsse, die mit Expertengremien über Programmiersprachen
entschieden haben. FORTRAN, ALGOL und COBOL waren Produkte solch
wissenschaftlicher Gremien. Die für meine Begriffe hervorragende Sprache ADA
ist auf diese Weise entstanden, eine syntaktisch sauber definierte Sprache.
Pascal und Modula 2 waren auch musterhafte Sprachen, die aus der Welt der
Wissenschaft kamen.
Dann
hat die Industrie die Federführung bei der Sprachentwicklung an sich gerissen.
Ergebnisse davon sind C++, Java, C# und eine Reihe weborientierter Sprachen wie
PHP, Python, Ruby usw. Die Wissenschaft hat die Kontrolle über die
Sprachentwicklung schon lange verloren. Ein jeder kann eine neue Sprache in die
Welt setzen und wenn es ihm gelingt, eine Schar treuer Anhänger für seine Sache
zu begeistern, breitet sich diese Sprache wie eine Epidemie über die Welt aus,
als ob wir nicht schon genug Sprachen hätten. In der Programmiersprachwelt
haben wir den wahren Turm von Babel. Vielleicht ist das die Strafe für die
ungebändigte Machtgier der rivalisierenden Konzerne, denn wer die Sprache
bestimmt, bestimmt, wie die Menschen denken. Sehr oft führt die Wahl einer
proprietären Sprache in eine Sackgasse, siehe das Schicksal vieler 4GL-Sprachanwender.
Heute müssen diese Anwender mit hohen Kosten den Weg zurück zu einer
Standardsprache finden. Es ist wirklich schade, dass die Sprachentwicklung
derart auseinander gelaufen ist.
KK: Machen wir bitte mal einen Blick in
die Zukunft, Teil 1: Welches sehen Sie als die Hauptherausforderungen in Bezug
auf Software-Qualitätssicherung vor uns liegen? Was lässt sich dabei vielleicht
noch mehr an Automatisierung machen als bisher?
HS: Ich sehne mich nach dem Tag, an dem nicht mehr getestet
werden muss, wenn nur der Source Code analysiert, verifiziert und validiert
wird. Der Code bestimmt alles, was an einem Rechner oder in einem Rechnernetz geschieht.
Also muss es möglich sein, an Hand des Codes festzustellen, ob ein System sich
korrekt verhalten wird oder nicht. Wir brauchen eben Spezifikationssprachen,
mit denen wir den Code vergleichen können. Das ist wahrlich keine einfache Anforderung,
aber das endlose Herumtesten ist auch keine. Wir brauchen Automaten, um das
korrekte Verhalten anderer Automaten zu beurteilen. Ich hoffe, dass dieser Tag
bald kommt, aber ich bin unsicher, wie lange wir brauchen, um ihn zu erreichen.
Es gibt schon erfreuliche Entwicklungen auf diesem Gebiet, Software, die sich
selbst kontrolliert und merkt, wenn sie sich fehlverhält. Das müssen wir
stärker forcieren, vor allem jetzt, wo so viele menschliche Tätigkeiten automatisiert
werden.
KK: Zum Schluss und Blick in die Zukunft,
Teil 2: Als Sie vor zwei Jahren einen stark besuchten und von Studierenden und
darüber hinaus rege beachteten Vortrag bei uns an der Universität Jena hielten,
berichteten Sie im Nachgespräch von Ihren Promotionsabsichten – bzw. es war
wohl schon konkreter als „nur“ Absichten. Was man als Unruheständler eben so
alles tut.. Darf ich fragen zum Status, wächst die Dissertationsschrift – und
was kommt danach?
HS: Ich habe immer bereut, dass ich
damals in Maryland nicht gleich promoviert habe. Dieses Versäumnis hat mich die
ganzen Jahre geplagt. In Amerika zählt, wie viel Geld Du hast, in Europa zählt,
welchen Bildungsgrad Du erreicht hast. Es stört mich, dass ich hier in dieser
Wertehierarchie den Gipfel nie erreicht habe. Ich bin vieles gewesen und nichts
geworden. Im Jahre 2012 habe ich in einem Promotionsausschuss an der
Universität Amsterdam mitgewirkt. Der Kandidat – ein polnischer Gaststudent –
hat über die Analyse von Mainframe-Applikationen geschrieben. Da ich einer der
letzten Experten in Europa für dieses Thema bin, wurde ich eingeladen, die
Arbeit zu begutachten. Da kam aber wiederum die Frage auf, ob ich als nicht Promovierter
über eine Promotionsarbeit entscheiden dürfte. Dort habe ich den Entschluss
gefasst, doch noch zu promovieren.
Ich
habe mit Professor Chris Verhoef gesprochen, den ich schon lange aus den Wartungs-
und Reengineering-Konferenzen kannte. Wir haben vereinbart, dass wir erst
mindestens fünf Veröffentlichungen in international anerkannten Zeitschriften
und Konferenzen gemeinsam publizieren. Dieses Jahr sollte ich dieses Ziel
erreichen. Ein letzter Artikel wurde von der IEEE Software akzeptiert. Es wird
demnächst erscheinen. Damit habe ich schon über 450 Papers und Artikel in
deutscher und englischer Sprache publiziert. In der Zwischenzeit sammele ich fleißig
Material für meine Dissertation. Das Thema ist automatisierte Softwaremigration. Nach meiner Entlassung von der ANECON habe
ich eine neue Aufgabe als Migrationsberater für das österreichische Bundesland Burgenland
gefunden. Das Projekt ist die Fallstudie für meine Arbeit. Ich habe schon den alten
Code in Visual Age und PL/I vermessen, nachdokumentiert und ein Repository aufgebaut.
Der Visual Age Code muss re-implementiert werden. Den PL/I-Code will ich
versuchen, automatisch nach Java umzusetzen. Mit COBOL ist mir das schon mal
für den Flughafen Wien gelungen. Ich hoffe nur, dass ich es durchhalte. Ich
habe inzwischen meinen 75. Geburtstag gefeiert und arbeite gleichzeitig an
einem letzten Buch – Endstation Wien. Das Buch schildert meine IT-Projekterfahrungen
im deutschsprachigen Raum von der HIS bis zur ANECON. Das muss auch erzählt
werden.
KK: Lieber Herr Sneed, ganz herzlichen
Dank für diese Tour d’Horizon über 45 Jahre Software-Engineering, hoch
spannend. Ich denke, es wird viele interessieren.
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