Freitag, 24. Juni 2016

Bildung ̶ ein Leerwort im Munde vieler Sonntagsredner

Es gibt Begriffe, die durch Übernutzung geradezu ihres Sinns entleert werden. Sie verkommen zur Worthülsen. Jeder füllt sie mit Inhalt, der ihm gerade passt. Leider kann ich nicht umhin, das Wort Bildung in dieser Kategorie zu sehen. Mir ist es nämlich inzwischen zuwider, wenn Leute immer nur mehr Bildung fordern und nichts gesagt wird über die Inhalte. Meines Erachtens sollte es immer heißen 'Bildung zu etwas' oder 'Bildung in etwas'. Man fordert doch auch nicht Änderung nur um der Änderung willen, von einigen Berufsrevolutionären abgesehen. Zumindest muss gesagt werden, ob es nur um die Anhäufung von esoterischem Wissen geht oder auch um praktische Fähigkeiten. Was nützen Kenntnisse in Kirchenlatein oder in Altgriechisch, wenn man ein Auto reparieren oder einen Blinddarm operieren will? Wer das Wort Bildung in den Mund nimmt, suggeriert bei uns einen guten Zweck. Wer Geld für Bildung fordert  ̶  insbesondere öffentliches Geld  ̶  der sollte sagen müssen für welche Art von Bildung.

Qualifikation statt Bildung

Man käme meiner Vorstellung näher, wenn man statt Bildung das Wort Qualifikation verwenden würde, immer dann, wenn mehr als Grundschulbildung gemeint ist. Hier ist die Frage des Wofür stets impliziert. Niemand qualifiziert sich für alles. Bei jeder sportlichen Qualifikation gibt es eine Norm, die erreicht werden muss. Das bekannteste Beispiel ist die Olympia-Norm. Sie wird für jede Disziplin und für jede Olympiade neu festgelegt. Seit der Aufklärung, also seit dem 18. Jahrhundert, ist es nämlich unmöglich, in allem gebildet zu sein. Es gibt nur noch Spezialisten.

Viele deutsche Bildungspolitiker scheinen zu glauben, dass der Preuße Wilhelm von Humboldt (1767-1835) alles zum Thema gesagt habe, was man wissen müsste. Ihm reichte es, den Gebrauch des eigenen Verstandes  ̶  oft mit der Vernunft gleichgesetzt  ̶  zu lernen und so viel Wissen über die Welt aufzusaugen, wie möglich. Eine Universität dürfe sich nicht dafür hergeben, die Bedürfnisse eines Berufs oder die Wünsche der Wirtschaft zu erfüllen. Was man dafür benötige, darum sollte sich der Einzelne oder die Wirtschaft selbst kümmern. Es sei nicht Sache des Staates. Das war genau passend für einen von vorwiegend adligen Beamten und Offizieren geleiteten Staat. Es ist heute zum Glück anders. Aber der liebe Baron Humboldt wird weiter bemüht.

Ich neige zu der geradezu konträren Meinung, dass es den Staat primär  ̶  wenn nicht sogar ausschließlich  ̶  interessieren sollte, dass seine Bürger für berufliche und fachlich anspruchsvolle Tätigkeiten vorbereitet (also qualifiziert) werden. Alles, was darüber hinausgeht, wie das Erlernen von Hobbies oder künstlerischer Fähigkeiten, sollte Privatsache sein. Oft hört man auch die Meinung, dass Bildung das ist, was man selbst tut, alles andere wäre Ausbildung. Das entspricht teilweise meiner Auffassung, sofern man Ausbildung mit Qualifikation gleich setzt. Nur schließt es den Autodidakten aus, d.h. den Menschen, der ohne von andern geführt zu sein, aus eigener Willenskraft sich dazu aufrafft, nützliche Fähigkeiten zu erlernen.

Lehr- und Lerninhalte

Idealisten und Utopisten träumen davon, dass ein Mensch umso besser dran ist, je mehr er weiß. Sie betrachten nicht nur die Kapazität unseres Gedächtnis als unbegrenzt, sie messen auch Wissen einen Wert zu, unabhängig davon, um was es geht. Je mehr Wissen ein Mensch besitzt, umso besser sei es für ihn. Schon die Bibel hat vor dieser Hybris gewarnt. Engel, die mehr wissen wollten als Gott zuließ, landeten in der Verdammnis. Heute kann man sich nur wundern, wie weit diese Form der Arroganz verbreitet ist. Allwissenheit steht dem Menschen nicht zu. Dies nicht zu wissen, ist eine Dummheit.

Die Lehr- und Lerninhalte (auch als Bildungsinhalte bezeichnet) sollten sich nur nach den Fähigkeiten richten, die ein Mensch erwerben will oder soll. Will jemand Chemiker werden, muss er Einiges über Chemie wissen. Will er Kaufmann werden, sollte er andere Dinge wissen. Wissen zu erwerben hat keinen Sinn, wenn man es nicht braucht. Es ist nicht Selbstzweck. Das Wissen eines Fachgebiets dient dazu entsprechende fachliche Leistungen zu erbringen. Nur in Ausnahmesituationen muss ein Facharzt auf einem anderen Gebiet aushelfen.

Begriff Wissen

Manchmal gerate ich an Kollegen, die Wissen als Abstraktum begreifen. Sie klammern sich dabei an die Sprachtheorie und glauben dort Verlässliches zu erfahren. Wissen ist meines Erachtens ebenso wenig abstrakt wie Wasser oder Luft. Im Konkreten sind alle drei jederzeit leicht zu bemerken und zu erfassen. Nicht nur das Vorhandensein (die Existenz) lässt sich bestimmen, auch ihr Ausmaß (die Quantität) lässt sich messen. Im Übermaß können sie sogar Schaden anrichten, bei Wasser und Luft etwa in Form von Überschwemmungen oder Wirbelstürmen. Auch zu viel Wissen kann manchmal schädlich sein (engl. considered harmful). Unter der Lupe betrachtet, bestehen Wasser und Luft aus Atomen. Wissen besteht aus elementaren Aussagen der Art: ‚Vögel nennt man Tiere, die fliegen können. Der Strauß kann nicht fliegen, ist aber trotzdem ein Vogel, da es seine Vorfahren konnten.‘

Wissen ist eine Ansammlung für wahr gehaltener Aussagen, über die einzelne Menschen oder die Menschheit als Ganzes verfügen. Bei Wissen ist es wie bei Arzneien. Bei dem einzelnen Patienten kommt es auf die richtige Dosis zum richtigen Moment an. Daneben zu greifen ist leichter als zu treffen. Für die Menschheit als Ganzes kann es nicht genug verschiedene Arzneimittel geben, am besten für jeden Menschen ein anderes. Dabei ist ein einzelnes Medikament allein meist nicht ausreichend. Einen jungen Menschen mit Wissensmüll zu belasten, sollte endlich verboten werden. Kein Kinderarzt pumpt ein Kind voll mit Pharmazeutika.

Praktisches und anderes Wissen

Je mehr jemand um das tägliche Sattwerden besorgt ist, je mehr praktische Dinge muss er beherrschen und wissen. Ein Bauer musste früher nur den Boden bearbeiten können und den Vegetationszyklus kennen. Heute muss er sich zusätzlich mit künstlichen Düngemitteln, künstlicher Besamung und dergleichen auskennen, insbesondere aber mit den gerade von der EU durchgeführten Fördermaßnahmen. Wer nicht an das tägliche Überleben denken muss, sollte seine Fähigkeiten dafür einsetzen, andere wichtige Aufgaben der Menschheit in Angriff zu nehmen. Welche Aufgaben dies sind, sollte die so genannte höhere Bildung vermitteln. Das ist schwierig und heikel, da man diese Information sich meist selbst erarbeiten muss. Wie im nächsten Abschnitt ausgeführt, können manchmal andere Zeitgenossen uns helfen. Aristoteles und Kant, aber auch die beiden Brüder Humboldt, haben dazu sehr wenig überliefert.

Wissen, das sich nicht in Können ausdrückt, hat nur akademischen Wert. Aber auch ein Könner, der nicht willens ist sein Können praktisch anzuwenden, ist im Grunde ein Parasit. Er belastet den Rest der Gesellschaft. Ob jemand sich das Recht herausnehmen darf, nützliche Fähigkeiten brachliegen zu lassen, ist eine ethische Frage. Ich erspare mir die Beantwortung. Für manche Menschen ist es eine Überforderung, lebenslang lernen zu müssen. Sie möchten möglichst schnell ein Plateau erreichen, von dem aus das Leben leicht zu bewältigen ist. Sie möchten nicht ewig die Schulbank drücken. Dies nicht anzuerkennen, ist ein Fehler.

Kanon des Wissens

Im April 2013 hatte ich zuletzt in diesem Blog über konkrete Inhalte von schulischen Bildungsplänen diskutiert. Der unglaubliche Erfolg, den der Englischlehrer Dietrich Schwanitz (1940-2004) mit seinem Buch ‚Bildung - Alles, was man wissen muß hatte, stand noch im Raum. Er hatte seinen Leserinnen und Lesern empfohlen sich auf Literatur, Kunst, Musik und Philosophie zu beschränken. Natur- und Ingenieurwissenschaften seien eh langweilig und für die gesellschaftliche Konversation ungeeignet. Versuche, dem Schwanitzschen Erfolg literarisch etwas entgegen zu setzen, schlugen fehl.

Jede Zeit muss die Diskussion neu führen, was zum Kern des Wissens gehört, das von einer Generation an die folgende weitergegeben werden sollte. Sie muss den Kanon, also die Richtschnur, neu festlegen. Ich bin mir sicher, dass dabei Autoren wie Schwanitz nicht das letzte Wort haben. Nicht zuletzt dank Schwanitz haben sich nämlich Naturwissenschaftler und Techniker dazu aufgerafft, sich mehr an der öffentlichen Diskussion zu beteiligen. Die Abkürzung MINT (für Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik) erscheint immer öfter in den Medien. Das sollte allerdings nicht zur Folge haben, dass jetzt Ökonomie und Medizin sich übergangen fühlen. Festzuhalten ist, dass nicht die Verbraucher den Markt strukturieren, sondern die Anbieter, so wie überall in der Wirtschaft. Jeder heutige Beruf wirbt mit Vorliebe nur um Nachwuchs für seinen Beruf. Ein Bäcker wirbt für den Bäckerberuf, ein Jurist für das Jurastudium. Kein Berufsfremder ist authentisch.

Lehr- und Lernmethoden

Wie man am besten Fähigkeiten und das dazu gehörige Wissen erwirbt, variiert sehr stark von Individuum zu Individuum. Dennoch ist es sinnvoll, nach Methoden zu suchen, die bei möglichst vielen Menschen Erfolg haben. Oft wird in der Aus- und Weiterbildung Technik der Technik wegen propagiert. Das ist genauso falsch, wie jede neue Technik, die Menschen ersetzt oder seine Möglichkeiten erweitert, zu verteufeln.

Es kommt darauf an, Wissen und Können zeitnah, bedarfsgerecht und kostengünstig zu vermitteln. Wenn dies Menschen besser können als Maschinen, sollen es Menschen tun. Wo Maschinen, also Computer, dies um Klassen besser tun können als Menschen, sollen Maschinen dies tun dürfen. Natürlich sollte jeder sich die Methode des Lernens und das Tempo selber auswählen können. Das artet möglicherweise in einen Luxus aus und sollte dann bezüglich der Kosten nicht auf die Allgemeinheit umgelegt werden. Es sollten weder privilegierte Methoden noch privilegierte Empfänger geben. Ein privater Hauslehrer war früher in Adelskreisen die Regel. Heute kann sich ihn kaum noch jemand leisten. Ein physisch anwesender Lehrer für kleine lokale Gruppen wird bald genauso selten sein. Wer ihn trotzdem haben will, sollte bereit sein, dafür die Mehrkosten zu übernehmen.

Private oder öffentliche Verantwortlichkeiten

Wo und wann die Vermittlung bestimmter Qualifikationen bevorzugt behandelt wird, das sollte offen diskutiert werden. Es sollte sich danach richten, welche Qualifikationen für die Gesellschaft wichtig sind. Individuen dürfen sich jedoch frei entscheiden, welche Qualifikation sie erwerben möchten. Es besteht freie Wahl des Berufes sowie der Hobbies.

Wird gefragt, wer für Bildungsausgaben zur Kasse gebeten werden soll, dann sind bei uns die Meinungen ziemlich eindeutig. Nachdem eine Weile lang auch die Meinung Gehör fand, dass dafür der Einzelne oder das Elternhaus eine gewisse Verantwortung trage, ist diese Meinung derzeit eher unpopulär. Wenn es Eltern trotzdem tun, ist die Gegenpropaganda sehr aggressiv. Bildung ließe immer noch zu sehr das Elternhaus erkennen, heißt es. Jugendliche, die in bildungsfernen Elternhäusern aufwüchsen, seien benachteiligt. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass sich viele Eltern zwar ihrer Rechte bewusst sind, ihre Pflichten jedoch gerne der Gemeinschaft zuweisen.

Wenn ein Staat sagt, er weiß besser als die Eltern, was den Kindern nützt, dann ist die Gefahr groß, dass sich Eltern wenig Mühe mit der Erziehung der Kinder geben. So liegt der Unterschied zwischen Deutschland und den USA unter anderem darin, dass Familien in den USA einen signifikanten Teil ihres Einkommens in die schulische Ausbildung der Kinder investieren. In vielen asiatischen Ländern ist es ebenso. In Deutschland neigen manche Jugendliche eher dazu zu sagen, was nichts kostet, kann auch nicht viel wert sein. Es kommt darauf an, dem entgegen zu steuern. Wenn sich der Staat zu sehr um die Bildung junger Menschen kümmert, müssen wir Deutsche immer an die Nazis oder an Margot Honecker denken. Es war eine Erlösung, als wir beide loswurden. Ein Staat, der Qualifizierung anbietet, aber keine dem auch entsprechenden Jobs schafft, schafft sich ein Problem. Es sucht sich Lösungen durch  Auswandern oder Aufstand. Einige arabische Länder wie Ägypten und Tunesien sind in genau dieser Situation.

Sicht der Sprachphilosophie und Wissenschaftstheorie

Im Zusammenhang mit einer Diskussion über die Integration arabischer Flüchtlinge in unser  Wertesystem verwies mein Konstanzer Kollege Erich Ortner auf die besondere Relevanz der Bildungsvorstellungen deutscher Sprachphilosophen und Wissenschaftstheoretiker. Er warb dabei unter anderem für Paul Lorenzen (1915-1994), den Mitbegründer des Erlanger Konstruktionismus und dessen Buch Logische Propädeutik - Vorschule des vernünftigen Redens (3. Auflage, 1996). Was in diesem Buch vermittelt würde, sei die Ausbildung im richtigen Denken und Argumentieren. Das sei schließlich die Grundlage jedweder Bildung. Unter anderem forderte er:

Ob Politiker, Bürger, Manager, Software-Entwickler oder Wissenschaftler: Für alle sollten dieselben Regeln einer "vernünftigen Argumentation", die sich ein jeder Mensch als (Grund-)Bildung zunächst selbst aneignen muss, als Argumentationskultur gelten. Man bildet sich (ein Leben lang) selbst, aber wird von anderen ausgebildet. Das ist der entscheidende Unterschied. Sagen wir bis 30 sollte es für jeden Menschen für diese (Selbst-)Bildung ein bedingungsloses Grundeinkommen geben. So kämen wir auch zu emanzipierten Bürgern und Bürgerinnen in einer "E-Demokratie mit "E-Partizipation".

Darauf erwiderte ich, natürlich leicht überspitzend:

Ihre Ausführungen erinnern mich an Karl den Großen, der glaubte, alles was er  ̶  außer dem Schwertführen  ̶  lernen müsste, sei die Rhetorik. Also richtiges Argumentieren. Schreiben, Rechnen und dergleichen machen ja andere für ihn. Karl der Große hatte damals vermutlich die gleiche Einstellung wie sein Zeitgenosse Harun al Rachid und einige der heutigen arabischen Potentaten (oder einige syrische Studenten). Wir im Westen sind inzwischen (teilweise) etwas anderer Ansicht. Es hat uns auch über 1000 Jahre gekostet, um dahin zu gelangen.

Dieser kurze Austausch zeigt, wie schwierig auch heute manchmal die Diskussion über Bildung sein kann, selbst unter Kollegen desselben Fachgebiets. Dass man aneinander vorbeigeredet habe, ist nur eine höfliche Umschreibung einer tiefer liegenden Problematik.

Sicht der ökosozialen Marktwirtschaft

In meinem vor wenigen Tagen erschienenen Interview mit Franz Josef Radermacher wurde angesprochen, wie wichtig für ein Land die ‚Qualität seiner Gehirne‘ sei. Gemeint ist, dass hohe Kompetenzen auf Gebieten vorhanden sein müssen, die für die Zukunft des Landes und der Menschheit wesentlich sind, z.B. Naturwissenschaft und Technik, und dass sie von der Motivation begleitet sein müssen, diese Kompetenzen zeitnah und konstruktiv zur Anwendung zu bringen. Das ist meilenweit von Humboldts Vorstellung entfernt. Außerdem fordert Radermacher die Betonung der Herzensbildung. Er meint damit die Erziehung zur Empathie, d.h. zur Liebe des Menschen als leidendem Geschöpf und der Menschheit, die mit echten Problemen zu kämpfen hat. Noch sehe ich wenig Chancen, dass Radermachers Forderungen sich demnächst im Schul- oder Bildungsplan unseres Bundeslandes wiederfinden.

Dienstag, 21. Juni 2016

Franz Josef Radermacher über künstliche Intelligenz und mögliche Zukünfte der Welt

Franz Josef Radermacher (*1950) ist seit 1987 Professor für Informatik (künstliche Intelligenz) an der Universität Ulm und Leiter des Forschungsinstituts für anwendungsorientierte Wissensverarbeitung (FAW bzw. FAW/n). Radermacher gilt als Experte für Globalisierungsgestaltung, Innovation, Technologiefolgen, umweltverträgliche Mobilität, nachhaltige Entwicklung und Überbevölkerung. Er und der österreichische Politiker Josef Riegler gehören zu den geistigen Vätern der Global Marshall Plan Initiative und der zugrunde liegenden Zielvorstellung einer weltweiten Ökosozialen Marktwirtschaft. Diese setzt sich seit 2003 für eine gerechtere Globalisierung ein, für eine „Welt in Balance“, wie sie auch der ehemalige US-Vizepräsident Al Gore fordert.

Radermacher promovierte 1974 an der RWTH Aachen in Mathematik. Seine zweite Promotion schloss er 1976 in Wirtschaftswissenschaften an der Universität Karlsruhe ab. Seine Habilitation in Mathematik erfolgte 1982 an der RWTH Aachen. Von 1983 bis 1987 war Radermacher Professor für Angewandte Informatik an der Universität Passau. Von 1988 bis 1992 war er Präsident der Gesellschaft für Mathematik, Ökonomie und Operation Research (GMÖOR). Radermacher ist Mitglied des Club of Rome und Präsident des Senats der Wirtschaft.  



Bertal Dresen (BD): In meinem Blog-Beitrag über Sie von Anfang April hatte ich vor allem Ihre politischen Aktivitäten hervorgehoben. Deshalb möchte ich jetzt gerne einige fachliche Fragen vorwegschicken. Im Namen Ihres Forschungsinstituts steckt der Begriff ‚anwendungsorientierte Wissensverarbeitung‘. Ist das nicht eine sehr spezielle Auffassung dessen, was Informatik soll und kann, und andererseits eine sehr anspruchsvolle Aufgabe, was die Wissenschaften im Allgemeinen betrifft? Wie sehen Sie dies? Wie wurden Sie mit dieser Spannung fertig in den fast 30 Jahren Ihrer fachlichen Tätigkeit? Welche markanten fachlichen Ergebnisse verbinden Sie mit Ihren Ulmer Forschungen?

Franz Josef Radermacher (FJR): Das Forschungsinstitut für anwendungsorientierte Wissensverarbeitung wurde 1987 durch das Land Baden-Württemberg in Kooperation mit einer Reihe von großen Industrieunternehmen gegründet. Es gab damals einen KI-Hype von Japan kommend mit dem Fifth Generation Programme. Die Gründung des FAW war eine Antwort von Politik und Wirtschaft in Baden-Württemberg auf diese „Welle“. Ich hatte das Glück, in diesem Gründungsprozess und die weiteren Aktivitäten von den Stiftern ausgewählt und als Institutsleiter einbezogen zu werden. Das hat mein Leben insgesamt sehr bereichert.

Die Gründer des FAW wollten die Begrifflichkeit „Künstliche Intelligenz“ nicht für die neue Institutsgründung benutzen. Sie waren stark von der industriellen Seite her geprägt. Darum haben sie den Begriff „anwendungsorientierte Wissensverarbeitung“ als Name für das FAW gewählt. Mir hat dieser Name gut gefallen, einerseits wegen der Anwendungsorientierung, die ich selber schätze, andererseits wegen des Begriffs der Wissensverarbeitung, der weit über künstliche Intelligenz hinausgeht, also im Besonderen auch Wissensverarbeitung durch den Menschen und Wissensverarbeitung als Produkt gesellschaftlichen Tuns umfasst.

Ich glaube nicht, dass der Begriff „anwendungsorientierte Wissensverarbeitung“ damals – wie es die Frage suggeriert – eine spezielle Auffassung dessen wiedergeben sollte, was Informatik soll und kann. Eher ging es um eine Begriffsbildung, die Inhalte erfasste, die irgendwo mit künstlicher Intelligenz in Verbindung gebracht werden konnten. Natürlich bedeutet „anwendungsorientierte Wissensverarbeitung“ eine anspruchsvolle Aufgabe, was die Wissenschaften im Allgemeinen betrifft. Mir hat dieser breite Anspruch zugesagt und ich habe mich in den fast 30 Jahren fachlicher Tätigkeit seit damals mit dem Begriff immer wohl gefühlt.

Die fachlichen Ergebnisse aus weit über 100 Projekten in dieser Zeit zusammenzufassen, ist an dieser Stelle kaum möglich. Einige Hinweise folgen nach einer Vorbemerkung, die für mich persönlich besonders wichtige Themen hervorhebt. Für mich besonders relevant war eine tiefe Beschäftigung mit der menschlichen Intelligenz, mit Kognition und unserem Bewusstsein. Aber auch eine ähnliche Fragestellung für Superorganismen, im Besonderen natürlich Insektenstaaten, Großsysteme von Menschen, wie beispielsweise Unternehmungen, und ganz dominant das Verständnis der Menschheit als intelligenten Superorganismus. Dem Nachspüren des Zustands der Menschheit als Ganzes und Überlegungen zu einer Zukunft der Menschheit, die insbesondere für alle Menschen lebenswert ist, hat sich für mich zu einem dominanten Thema entwickelt, obwohl ich mit dieser Frage auch schon beschäftigt war, bevor ich die Leitung des FAW in Ulm übernommen habe.

Am FAW/n wurde in Breite vieles angegangen – anwendungsorientiert. Wir haben interessante Beiträge zur Entscheidungsunterstützung geleistet (Präferenz-Elizitierungswerkzeuge) und sehr stark die Umweltinformatik bereichert (objektorientierte Geoinformationssysteme, rechnergestützte Bearbeitung von Satellitendaten, Aufbau des baden-württembergischen Umweltinformationssystems, Umgang mit Metadaten, Nutzung von Web Tools zum Umgang mit Metadaten). Im Bereich Rechner-Telefon-Koppelung haben wir eine erste Realisierung der Verknüpfung einer Siemens-Telefonanlage mit einem IBM-Mainframe durchgeführt. Interessant waren frühe Arbeiten mit Daimler und Robert Bosch zum Auto der Zukunft, insbesondere zu der Frage, in wie weit ein Fahrzeug aus der Beobachtung des Fahrverhaltens eines anderen Fahrzeugs auf die Intensionen des dortigen Fahrers schließen kann, z. B. bzgl. der Frage, ob er abbiegen oder geradeaus weiter fahren will. Interessant waren auch Arbeiten zur Generierung von Software und zur Verknüpfung verschiedener Softwaresysteme über Middle-Ware-Komponenten. Wir haben am FAW sehr früh begonnen, einen Roboter zu entwickeln, der kleinere Konferenzbesprechungen filmte und eine ganze Reihe von Robotiksystemen entwickelt, die über Ausgründungen zu Firmen geführt haben, die heute intelligente technische Lösungen für die Landwirtschaft und weitere Anwendungsbereiche entwickeln (z. B. Fa. InMach GmbH, Ulm). Aus dem FAW bzw. FAW/n wurden erfolgreich etwa 10 Firmen ausgegründet, insbesondere die 1998 gegründete Fa. Open Shop, die damals der zweitgrößte E-Commerce Anbieter in Deutschland (nach Intershop) war.

BD: Ich erinnere mich noch sehr gut an die von der Gesellschaft für Informatik (GI) in den 1980er Jahren durchgeführten Kongresse zum Thema Wissensverarbeitung. Sie zogen jeweils über 1000 Teilnehmer an. Außer Ihrem Institut in Ulm wurden damals noch etwa ein halbes Dutzend andere KI-Institute in Deutschland gegründet. Was hatte die Informatik als Wissenschaft damals anders eingeschätzt als in späteren Jahren, als Künstliche Intelligenz (KI) und Wissensverarbeitung plötzlich vom Bildschirm verschwanden? War das nur eine übertriebene Gegenreaktion, weil Erfolge ausblieben? Auf welche bleibenden Ergebnisse aus der deutschen KI-Forschung können wir heute zurückblicken?

FJR: Die KI hat viele Erfolge vorzuweisen. Es ist viel passiert, was man begrifflich der Künstlichen Intelligenz zuordnen kann – gerne aber auch anderen Anwendungsgebieten der Informatik. Vieles davon war vor 30 Jahren so nicht zu erwarten. Die Maschine gewinnt bei Schach, GO und Jeopardy. Das Navigationssystem führt uns ans Ziel. Autos beginnen, selbstständig zu fahren. Mikrotrading im Finanzsektor wird von Maschinen durchgeführt, ebenso die Zuteilung oder Ablehnung von Versicherungsanträgen. Maschinen machen Diagnose- und Therapievorschläge in der medizinischen Bildverarbeitung, Maschinen suchen relevante Fälle aus Rechtsdatenbanken heraus. Computersysteme schreiben Pressenotizen und übersetzen einfache Texte. Allerdings sind das alles Schritte, die Zeit kosten und immer wieder noch lange nicht abgeschlossen sind. Darum erlischt das öffentliche Interesse rasch und wendet sich neuen Themen zu. 

Die moderne Welt organisiert sich nämlich gerne über „Hypes“, auch in Prozessen der Entwicklung der Wissenschaften. Schlagworte werden geboren, bekommen gesellschaftliche Präsenz, werden durch die Medien hochgetrieben und übersetzen sich irgendwann in Förderprogramme, zum Beispiel für die Wissenschaft. Um neue Begriffe herum entstehen neue Lehrstühle und Institute, werden Partnerschaften zwischen Universitäten und der Wirtschaft geschmiedet, werden große Forschungsprogramme des Bundes und der Länder und mittlerweile auch der EU initiiert, organisiert sich letztlich der wissenschaftspolitische Prozess im Sinne der Allokation großer „neuer“ Geldmittel. Ich habe in meinem Leben viele neue, für die Wissenschaft relevante Termini miterlebt und durchlebt und diese Hype-Phänomene immer wieder beobachten können, zum Beispiel in der Entwicklung der Datenverarbeitung, des Operation Research, der Kybernetik, dem Aufkommen der Informatik, der Mechatronik, dem computer intergrated manufacturing, der Welt der neuronalen Netze, dem Internet, dem Internet 2.0, dem Computing in der Datencloud, der Robotik, Big Data, der Industrie 4.0 etc.

Dominant ist zu jedem Zeitpunkt die Vorstellung, dass man an einem Thema arbeitet, das die Menschheit weiterbringt. Wichtig ist, dass das Thema in einem gewissen Sinne „sexy“ ist, sich also für gesellschaftliche Kommunikation eignet. Manche Menschen verbinden mit solchen Begriffen euphorische Hoffnungen, andere haben das schon so oft gesehen, dass sie, egal was gerade en vogue ist, skeptisch bleiben. Sie wissen, dass die tatsächlichen Probleme in der Regel in neuer Form wiederkehren und dass wirklicher Fortschritt schwierig ist, egal, wie der neue Ansatz aussieht. Wir haben den New Economy Boom erlebt. Er hat viele Ideen nach vorne gebracht. Natürlich hat er dann im Zusammenbruch der Blase zeitweise eine Investitionslücke erzeugt, eine Art Stau, der dann durch einen neuen Hype, jetzt zum Beispiel bezüglich Big Data, überwunden wird. Das Auf und Ab in der öffentlichen Wahrnehmung dieser Prozesse ist zu unterscheiden von der Haltung von Menschen, die mit durchaus genügend viel Skepsis gegenüber Versprechungen gleichzeitig in der Wahrnehmung der Potentiale, die im Besonderen natürlich aus der Wirkung des „Mooreschen Gesetzes“ resultieren, für dieses Thema und die Gesellschaft aktiv sind, egal unter welcher Überschrift und die auch weiter machen, wenn ein Thema dann eine Zeit lang nicht in aller Munde ist. 

BD: Es besteht der Eindruck, dass die KI gerade einen zweiten Frühling erlebt, weil sie inzwischen gewisse Erfolge aufzuweisen hat, etwa in der Robotik und der Übersetzung natürlicher Sprache? Ist dieser Erfolg eher dem Fortschritt der Hardware (Speichergröße, Rechnerleistung) zu verdanken als den Fortschritten in der Algorithmik und der Software? Oder waren es die um Semantik angereicherten Methoden der Datenbeschreibung?

FJR: Die KI erlebt im Moment einen neuen Frühling. In meinen Augen nicht den zweiten, sondern mindestens den dritten. Sie hat praktische Erfolge aufzuweisen, aber das hatte sie durchaus auch schon früher. Wir sind jetzt wesentlich weiter in der Robotik, aber die Robotik bleibt ein schwieriges Thema. Körper unter 3D-Bedingungen aktiv zu halten, ist ein schwieriges Unterfangen. Interessant sind jetzt die Überlegungen zu einem selbstfahrenden Auto. Das ist ja auch ein „Roboter“, aber ein Roboter spezieller Art. Hier sind in der Tat erhebliche Fortschritte erfolgt, wobei aber noch wichtiger ist, dass sich die großen IT-Giganten des Themas annehmen und damit einen hohen gesellschaftlichen  Druck induzieren, tätig zu werden. Für Deutschland geht es um die Sicherung einer exzellenten Marktposition im Automobilsektor, eines ökonomisch besonders attraktiven Marktsegments.

Die Übersetzung natürlicher Sprache bleibt ein großes Thema. Die Fortschritte sind allerdings begrenzt. Einigermaßen funktioniert das Vorübersetzen technischer Manuale, erfolgreich ist man bei einzelnen, einfachen Sätzen, etwa mit Google Translate. Hier arbeitet man im Wesentlichen mit statistischen Methoden, also ohne tieferes Verständnis für das, was da gesagt wird. Wir verdanken das natürlich den unglaublichen Fortschritten in der Hardware, sowohl was die Speicher anbelangt, als auch die Rechnerleistung, weil wir ja im Wesentlichen statistisch auf sehr großem „Korpora“ von Sätzen arbeiten, also beispielsweise dem unglaublichen Volumen an übersetzten Inhalten bei der Europäischen Union. Man hat in diesem Bereich die Algorithmik angepasst, man hat die Software weiter entwickelt, die Datenbeschreibungen verbessert, aber im Kern ist es das „Mooresche Gesetz“ mit seinem Faktor 1000 an Effizienzgewinn und Kostenverbesserungen alle 20 Jahre, das die entscheidenden Fortschritte gebracht hat.

BD: Wie beurteilen Sie die Zukunft ‚kognitiver‘ Anwendungen, also von Anwendungen, die große Mengen von digitalisiertem Wissen verarbeiten? Wird dies das Hauptarbeitsgebiet aller Informatiker, die heute in den Beruf eintreten, also gerade das Fach Informatik an Hochschulen studieren?

FJR: In meinem Sprachgebrauch würde ich Anwendungen, die große Mengen von digitalisiertem Wissen bearbeiten, noch nicht als kognitive Anwendungen bezeichnen. Für mich ist kognitiv ein Begriff, der inhaltliche Qualität andeutet, also ein Verständnis dessen, womit man umgeht, das über Statistik hinausgeht. Also mehr in Richtung causation und nicht nur in Richtung correlation. Ich sehe auch nicht, dass die Verarbeitung derartiger Informationen, also alles das, was heute unter dem Begriff Big Data läuft, das wichtigste sein wird, was Informatiker tun werden, die heute in den Beruf eintreten. Schon deshalb nicht, weil das eigentlich eher ein Thema ist, das in Richtung Statistik und Algorithmik verweist als in die genuine Informatikrichtung. Ich glaube, wir werden viele weitere Anwendungen der Informatik erleben, in allen Bereichen des Lebens, wobei ein Hauptbeitrag der dort Tätigen darin bestehen wird, das jeweilige Anwendungsfeld ausreichend gut zu verstehen und für den Einsatz von IT-Technologie geeignet anzupassen. Ich bin auch optimistisch und habe Hoffnung, dass man in die Richtung echter Kognition, also einem tieferen Verständnis von Zusammenhängen, zum Beispiel auch bei der gesprochenen Sprache, mit Rechnern weiter kommen wird und ich kann mir vorstellen, dass in diesem Bereich viele Informatiker noch lange Zeit Arbeit finden werden.

BD: Was ist Ihr Ratschlag an (junge) Kollegen, die von den Aussagen und Prognosen der Transhumanisten (z.B. Ray Kurzweil) beunruhigt sind? Werden wir eine Superintelligenz erleben, die die menschliche Spezies überragt? Werden Maschinen dem Menschen zur Gefahr? Wie sinnvoll ist es, dass man versucht, das menschliche Gehirn nachzubauen, also menschliches Denken zu imitieren?

FJR: Mein Ratschlag an junge Kollegen, aber auch an die Gesellschaft insgesamt, ist in Bezug auf die Entwicklung der künstlichen Intelligenz vorsichtig zu sein. Es gibt ein großes Potential, mit Hilfe solcher Maschinen unsere Gesellschaft wesentlich positiv zu verändern. Es kann aber auch sein, dass Akteure, die über viel Macht verfügen, sei es nun in der Politik, in der Industrie, im Militär, im Finanzbereich, die Möglichkeiten der Intelligenz von Maschinen über Grenzen hinaustreiben werden, deren Überschreitung für uns Menschen gefährlich wird. Man denke nur daran, wie man Drohnen zu Killerinstrumenten weiterentwickeln kann. Oder was passieren würde, wenn eine technische Intelligenz in einer Welt, in der Automobile vernetzt autonom fahren, die Kontrolle über die Automobile erlangen würde und diese als Mordinstrumente einsetzt. Es kann durchaus sein, dass wir irgendwann ein globales Moratorium brauchen mit der Zielsetzung, in der Weiterentwicklung der Künstlichen Intelligenz bestimmte Möglichkeiten nicht weiter zu verfolgen. Ich argumentiere regelmäßig in diese Richtung.

Sie stellen dann weiterhin die Frage, ob es sinnvoll ist, dass man versucht, das menschliche Gehirn nachzubauen, also menschliches Denken von der neuronalen Architektur her kommend zu imitieren? Mit dieser Frage sind aus meiner Sicht viele Probleme verbunden. Wir sind im Moment in einen neuen Hype dabei, sehr große Projekte in diesem Bereich zu fördern, die in der Tat versuchen, auf der neuronalen Ebene das gesamte Gehirn abzubilden. Ich halte diese Projekte für wenig sinnvoll. Die Komplexität der Struktur ist viel zu groß, um sie vollständig nachzubilden. Und in diesen Details liegt auch nicht die Antwort auf die Frage nach der Natur der Intelligenz – so wenig, wie das Kennen kompletter Gensequenzen uns den Unterschied zwischen Mensch und Schimpansen erklärt. Wenn man das Gehirn des Menschen verstehen will, dann muss man von der Erkenntnis ausgehen, dass wir  ̶  wie die Säugetiere – über ein neuronales Netz verfügen, das uns viele sensomotorischen Möglichkeiten eröffnet und beispielsweise auch die Basis für unseren Gefühlsapparat bildet. Wir haben eine grobe Vorstellung, wie das funktioniert – bei Menschen wie bei Tieren. Wo ist aber jetzt der Unterschied zwischen uns und den Tieren, wobei dieser Unterschied durchaus graduell zu verstehen ist.

In meiner Interpretation der Zusammenhänge ist in der Folge der biologischen Evolution auf unsrem neuronalen Netz eine kleine „Turingmaschine“, ein kleiner Rechner, emuliert worden. Für einen solchen Rechner ist es egal, ob er auf Basis von Holzkugeln, Papier, Röhren, Silizium oder auf einem biologischen neuronalen Netz arbeitet. Seine wesentlichen Fähigkeiten sind die einer Turingmaschine. Für die Intelligenzleistungen des Menschen hat diese emulierte Turingmaschine eine extreme Bedeutung und man versteht ihre Möglichkeiten am besten abstrakt.

Ich würde also empfehlen, in die Richtung zu arbeiten, dass man ein Symbolverarbeitungssystem à la Turingmaschine geeignet mit einem neuronalen System koppelt. Das ist zumindest zunächst noch nicht gefährlich, würde zugleich interessante Erkenntnisse eröffnen. Das wäre aus meiner Sicht ein sehr viel klügerer Ansatz als unglaublich viel Geld in einen weitgehend standardisierten Kartierungsprozess der neuronalen Basis zu stecken. Der vorgeschlagene Ansatz würde auch unterschiedliche Lager um das Thema Intelligenz, Kognition und Bewusstsein miteinander kooperationsfähig machen. Allerdings ist das natürlich nicht geeignet, um so viel (öffentliches) Geld für Forschung zu generieren, wie das mit den momentanen Ansätzen möglich ist.

BD: Jetzt zu Ihren politischen Aktivitäten, die sie  ̶  so erscheint es mir  ̶  inzwischen voll auslasten. Sehen Sie sich mehr als Einzelkämpfer, als Rufer im Walde, oder sind sie der Gründer einer neuen Massenbewegung? Grob gesehen, decken sich Ihre Ziele mit denjenigen der Partei der Grünen, einer Partei, die zumindest in unserem ‚Ländle‘ (Baden-Württemberg) nicht über zu wenig Anhänger klagen muss. Oder anders gefragt: Sind Sie mit der Resonanz zufrieden, die Ihre politisch motivierten Veröffentlichungen und Reden finden?

FJR: Was meine politischen oder besser gesellschaftlichen Aktivitäten anbelangt, sind die zwar nicht das Einzige, was ich mache, aber sie spielen in meinem Leben und in  meinen unterschiedlichen Aktivitäten eine große Rolle. Ich sehe mich dabei nicht als Einzelkämpfer, sondern finde sehr viel Unterstützung. Nicht als Gründer einer Massenbewegung, sondern als jemand, der zur Aufklärung beiträgt und glücklicherweise dies nicht als Einziger tut. Ganz im Gegenteil, tausende tun dasselbe, wozu wir uns übrigens nicht ständig miteinander koordinieren müssen. Angesichts der bedrängenden Problemlage kommen viele Denker und Beobachter zu ähnlichen Schlüssen. D.h. die Probleme koordinieren die Akteure.

Seit der Weltfinanzkrise hat sich in diesem Kontext die internationale Politik von der marktfundamentalistischen „Freie-Markt Philosophie“ in Richtung so genannter grüner und inklusiver Ökonomien (engl. green and inclusive economies) bewegt, was nichts anderes ist als unsere langjährige Position des Eintretens für eine weltweite Ökosoziale Marktwirtschaft.

Deckt sich das jetzt mit den Zielen der Grünen? Teils ja, teils nein. Die Grünen betonen sehr stark den Aspekt Umwelt, sozialdemokratische Parteien die Frage des Sozialen, christdemokratische Parteien die Verantwortung im Sinne des christlichen Menschenbildes und die Liberalen das ebenso wichtige Thema der Freiheit. Im ökosozialen Modell brauchen wir alle diese Elemente, aber in einer geeigneten Mischung. Und diese Mischung muss die jeweiligen Verhältnisse reflektieren. Befinden sich die Verhältnisse z. B. zu nah an sozialistischen oder planwirtschaftlichen Strukturen müssen Freiheit, Einsatz und Unternehmertum gefördert werden. Befindet man sich, wie das im Moment der Fall ist, zu sehr in einem Zustand, bei dem sich der Wohlstand und insbesondere die Vermögen bei vergleichsweise wenigen Personen konzentrieren, müssen Mechanismen gefunden werden, diese in der Sache durch nichts gerechtfertigte „Aneignung“ des von einer Gesellschaft geschaffenen Wohlstands geeignet in Ordnung zu bringen.

Mit der Umwelt ist das nicht anders. Ist die Umwelt in keinem guten Zustand, muss man in diese Richtung aktiv werden. Das ist die große Zeit grüner Parteien. Ist die Umwelt in einem guten Zustand, dann muss dieser Punkt nicht in den Vordergrund gestellt werden.

Mit der Resonanz, die meine Überlegungen finden, bin ich zufrieden und das seit Jahrzehnten. Insbesondere erlebe ich täglich, dass viele kluge Menschen zu ähnlichen Schlüssen gekommen sind wie ich. Ebenso treffe ich auf viele Menschen, die mir für die Einsichten danken, die sie in meinen Vorträgen oder Publikationen gefunden haben. Dies zu hören, ist sehr motivierend.

Ein ganz anderes Thema ist allerdings die Frage, wie man das alles umsetzt, im Besonderen die Frage, wie sich das niederschlägt in konkrete Veränderungen der (globalen) Regelwerke, etwa in der WTO, beim IWF oder auf den Finanzmärkten. Da tun wir uns sehr viel schwerer. Da setzen sich immer wieder die spezifischen Interessen sehr starker internationaler Akteure durch. Da setzt sich also z. B. das große Kapital durch. Da haben wir massive Schwierigkeiten, mit denen wir versuchen müssen, irgendwie umzugehen. Am ehesten gelingt das noch nach großen Krisen.

BD: Erleidet der Weg in eine karbonfreie Welt nicht soeben einen Rückschlag durch das Fracking und den sehr niedrigen Ölpreis? Ist nicht der Abgasskandal, den die deutsche Automobilindustrie verursachte, für Sie wie ein Schlag ins Kontor? Dass Banker oft unverantwortlich handeln, daran ist man fast gewöhnt. Aber jetzt stehen die Ingenieure und Programmierer am Pranger. Wie lässt sich dergleichen in Zukunft verhindern?

FJR: Aus meiner Sicht ist noch nicht klar, dass die Welt in einen karbonfreien Zustand muss. Es kann ja auch sein, dass wir eine technische Möglichkeit finden, das Karbon zu nutzen. Für einen Ökonomen ist ansonsten klar, dass der Weg in eine karbonfreie Zukunft nur über sehr lange Zeiträume ausgestaltet werden kann, denn die erschlossenen Depots fossiler Energieträger sind nicht nur nach wie vor das Rückgrat der Weltökonomie, sie gehören auch zu den werthaltigen Eigentumstiteln. Hier über politischen Zwang und ohne Entschädigung aussteigen zu müssen, wäre die größte Enteignungsmaßnahme in der Geschichte der Menschheit. Wenn das entschädigungslos passieren würde, würde das die Verarmung von Akteuren bedeuten, die heute leistungsstark sind. Ganze Staaten wie Russland würden in existenzielle Nöte kommen. Das wäre nichts anderes als eine Art Kriegserklärung an diese enorm mächtigen Akteure. Das würde nicht gut gehen. Und es kommt eines hinzu. Diese werthaltigen Assets, also z. B. erschlossene Ölfelder, sind wesentliche Teile der Aktiva der Bilanzen sehr großer Unternehmen. Diese Unternehmen würden bei kurzfristiger entschädigungsloser Enteignung reihenweise in den Konkurs gehen. Wir erleben Vorahnungen solcher Prozesse gerade in Deutschland bei Firmen wie z. B. RWE, mit enorm negativen Konsequenzen und finanziellen Belastungen für diejenigen Kommunen, die Anteile an diesen Firmen halten. Wenn diese Firmen straucheln, straucheln ihre Zulieferer, straucheln die Arbeitsplätze, von Steuerzahlungen und Dividenden gar nicht zu reden.

Anders ausgedrückt: Der Weg in eine karbonfreie Welt braucht sehr viel mehr politische und finanzielle Flankierung, als das heute diskutiert wird. Insofern sind für mich die Entwicklungen um das Fracking und den Ölpreis nichts anderes als ein Hinweis darauf, dass sich die Betroffenen auf die eine oder andere Art zu wehren wissen und damit müssen wir umgehen.

Der Abgasskandal ist vom Charakter her anders, aber er macht das Problem ebenfalls deutlich. Natürlich kann eine Politik versuchen, mit immer strikteren Regulierungen den Weg in Richtung Senkung von CO2-Emissionen voranzutreiben, z. B. die entsprechenden Abgaswerte bei Automobilen dazu immer weiter absenken. Wenn man dann allerdings forciert von Seiten der Politik her Dinge fordert, die lebenspraktisch und zu verkraftbaren Kosten nicht geleistet werden können, die insofern das Geschäftsmodell von großen Unternehmen bedrohen und die für den Bürger als Konsumenten bedeuten, dass er nicht mehr die Automobile kaufen kann, die er kaufen will, dann sucht sich das System Lösungen. Oder um es anders auszudrücken, die Bürger mögen zwar Klimaschutz generell gut heißen, aber nicht um den Preis, dass sie die von ihnen gewollten Automobile nicht mehr kaufen können. Und da es viel klügere Lösungen gibt, das Klimaproblem anzugehen, als die zu schnelle Verschärfung technischer Standards, gibt es auch keinen wirklichen Grund, diesen Weg gehen zu müssen. Der Weg, der heute in Teilen der Politik verfolgt wird, ist seinem Charakter nach viel zu national und viel zu planwirtschaftlich gedacht.

Das heißt auch, dass die Probleme, mit denen wir konfrontiert sind, oft nicht eine Folge davon sind, dass Ingenieure oder Programmierer ethisch verwerflich orientiert wären. Es geht eher darum, wie ein Gesamtsystem sich entscheidet und wie dann unter Marktverhältnissen Akteure sich verhalten bzw. sich verhalten müssen, wenn sie beispielsweise ihren Arbeitsplatz und damit ihren Lebensstandard erhalten wollen. Das heißt auch, dass die Verhinderung solcher Geschehnisse in der Zukunft nicht einfach eine Folge von besserer Aufsicht und besserer Regulierung sein wird. Die nicht zu scharfe Aufsicht war auch ein Weg, wie wir uns selber täuschen konnten über unsere ideellen Aspirationen einerseits und über das, was wir uns für unser Leben materiell wünschen, andererseits. In dem Maße, wie wir durch Kontrolle diese Selbsttäuschung verunmöglichen, wird das letzten Endes politisch dazu führen, dass wir dann andere Dinge beschließen werden, beispielsweise weniger forciert die technischen Normen für Fahrzeuge zu verschärfen. Wir werden stattdessen dann über andere Wege nachdenken, dem Klimawandel zu begegnen, z. B. durch gewaltige internationale Aufforstprogramme zur Speicherung von CO2 aus der Atmosphäre und zur Gewinnung von Zeit. Solche Programme wären auch aus vielen anderen Gründen wünschenswert, aber das ist noch nicht in das allgemeine Bewusstsein gedrungen. Ganz im Gegenteil, über Kampfbegriffe wie „Freikauf“ oder „Ablasshandel“ wird versucht, schon das Nachdenken über solche Programme zu erschweren.

BD: Wie in meinem erwähnten Blog-Beitrag ausgeführt, erwarten Sie drei mögliche Szenarien für die Weiterentwicklung des Globus: Kollaps, Spaltung oder Ausgleich (Balance). Mir fiel auf, dass Sie der Option Balance bei Vorträgen in 2007 und 2014 unverändert eine Chance von 35% gaben. Seither bin ich geneigt, Sie etwas als Zweckoptimisten anzusehen. Alles deutet doch darauf hin, dass die Spaltung in Wirtschaft und Gesellschaft mit Riesenschritten fortschreitet. Auch Thomas Piketty, den ich auf Ihre Empfehlung hin las, kann ich nicht anders interpretieren. Wo nehmen Sie Ihren Optimismus her? Oder besser, welche konkreten Fakten lassen sich in Ihrem Sinne deuten und extrapolieren?

FJR: In der Tat sehe ich für die Zukunft die drei Szenarien Kollaps, Spaltung oder Ausgleich. Und ja, meine Wahrscheinlichkeitseinschätzung dazu hat sich im letzten Jahrzehnt nicht verändert. Woran liegt das? Es liegt daran, dass wir uns auf gesellschaftlicher Seite auf einem Grat bewegen. Die „Kugel“ rollt auf einem Grat, es ist noch nicht entschieden, in welches Tal (zu welchem Attraktor) sie letztlich hinlaufen wird.

Es ist richtig, dass sich in den letzten Jahren viele Dinge verschlechtert haben. Nicht zuletzt durch die Explosion der Weltbevölkerung, den stärker werdenden Klimawandel, den Migrationsdruck, der Rückfall der Staaten in nationale Egoismen, auch in Europa. Aber dem steht kompensatorisch gegenüber, dass die Weltgemeinschaft ihren Blick auf das ökonomische, insbesondere weltökonomische System, nach der Finanzkrise 2008/2009 dramatisch verändert hat. Wir sprechen heute, wie oben schon erwähnt, von grünen und inklusiven Märkten, nicht mehr von freien Märkten. Die Illusion, dass der freie Markt die Dinge schon richten wird, dass der Markt über einen „Trickle Down Effekt“ dafür sorgen wird, dass alle vom Wachstum fair profitieren, hat sich als Irrglauben für jeden sichtbar gezeigt. Und dass der Markt aus sich heraus schon dafür sorgen wird, dass wir die Umwelt schützen, glaubt heute auch niemand mehr.

Alle diese Punkte wurden als Propaganda entlarvt. Sie waren nie etwas anderes, sie werden von interessierten Kreisen so platziert, und zwar von Kreisen, die die Macht haben, ihre Sicht der Dinge öffentlich massiv zu positionieren.

Nach der Finanzkrise ist jetzt die „Magie“ dieser Formel gebrochen. Die Notwendigkeit der Regulierung ist heute allgemein akzeptiert. Gedanklich operieren wir in einem Paradigma, das gut mit weltweiter Ökosozialer Marktwirtschaft beschrieben werden kann. Die Probleme sind natürlich, dass wir da lange nicht sind, auch wenn wir jetzt wenigstens die richtigen Worte benutzen. Thomas Piketty, den Sie erwähnen, hat sehr gut beschrieben, wie wenig erträglich sich die Verhältnisse bei der Anhäufung von Eigentum entwickeln. Die Verhältnisse laufen dort in die falsche Richtung. Interessanterweise hat sich seit der Weltfinanzkrise aber gerade in diesem Umfeld durch politische Maßnahmen auch vieles in die positive Richtung bewegt - Prozesse, die ich in dieser Form kaum je zu erhoffen gewagt hätte. Die Staaten der Welt sind sehr entschieden in Richtung Steuerparadiese aktiv geworden. Die Schweiz hat ihr Geschäftsmodell vollkommen verändert. Alle diese Prozesse sind nicht abgeschlossen, aber es ist viel passiert. Dasselbe gilt für die Argumentation gegen aggressive, grenzüberschreitende Steueroptimierung. Auf G20-Ebene und auf der Ebene der OECD ist sehr viel passiert und sogar innerhalb der EU, wo man jetzt die sehr weitrechenden „Deals“ von Staaten mit Unternehmen in der Frage der Steuern plötzlich nicht mehr als Steuerthema wertet (da sind die Staaten zuständig), sondern sie im Lichte des Wettbewerbsrechts als Subvention einordnet und deshalb dagegen angehen kann, denn dafür ist die EU zuständig und solche Subventionen sind nur in einem sehr engen Rahmen erlaubt.  

Die OECD-Vereinbarungen zur automatischen Übertragung von Informationen zwischen Finanzämtern und Sitzstaaten von Eigentümern sind bemerkenswert, ebenfalls die neuen Regulierungen zur Schaffung von Transparenz bei Firmen, aber auch bei Trusts und Stiftungen. Dabei geht es darum, dass jetzt immer die Personen bekannt sein müssen, die ökonomisch profitieren. Die Bemühungen um Eigentumskataster gehen zügig voran. Es ist erstaunlich, was passiert ist. Und wenn sich auch die USA, die sich mit ihrer ökonomischen Macht und der FATCA-Regulierung alle Steuerinformationen auf dem Globus für ihre Zwecke besorgen, auf OECD-Ebene weigern, bei sich zu Hause durchzusetzen, dass ihre Bank den anderen  Staaten dieselben Daten zur Verfügung zu stellen, so sind wir doch sehr viel weiter als vor zehn Jahren. Wir erkennen jetzt auch alle klarer die Rolle der USA als wichtigstes verbliebenes Steuerparadies (z. B. die Staaten Nevada und Florida) und reden darüber. Das verändert die Welt.

Infolge der Panama-Papiere werden sich die Prozesse weiter in die richtige Richtung entwickeln. Piketty hat in diese Richtung viel bewirkt. Viele Fachleute diskutieren jetzt darüber, wie schädlich es ist, wenn Kapital zu sehr konzentriert ist und auf welche Weise hoch-konzentriertes Kapital seine Interessen politisch durchsetzt. Im Besonderen eröffnen uns die Möglichkeiten der IT neue Chancen. Nicht nur liefert die IT die Basis für die Leaks, die so unendlich wichtig sind, um Missstände aufzuzeigen und tatsächliche Verhältnisse zu entlarven und der aufgebauten „Fassade“ schöner Worte die „Maske herunterzuziehen“. Dieselbe IT wird es irgendwann auch möglich machen, ein individuelles Welteinkommen zur Basis der Besteuerung zu machen und insbesondere progressiv zu besteuern. Dann müssen wir im Bereich von Kapitalerträgen keine besonderen Vergünstigungen mehr einräumen und dann werden Einkommen aus Kapitalerträgen irgendwann so versteuert werden wie andere Einkommensarten auch. Wir haben also an dieser und an anderen Stellen durchaus Chancen, uns weiter in die richtige Richtung zu bewegen. So sehr sich die Dinge in den letzten zehn Jahren also verschlechtert haben, so sehr haben sich andere Dinge verbessert und deshalb ist meine Einschätzung in Bezug auf die Wahrscheinlichkeiten für die möglichen Attraktoren zukünftiger Entwicklungen nicht anders als vor einem Jahrzehnt.

BD: Überrascht war ich durch Ihre recht klare Aussage, dass Sie nicht den Mangel an Ressourcen für entscheidend halten (dank ständiger Innovation), sondern den Mangel an Kaufkraft. Spielt nicht auch der Mangel an politischer Stabilität eine große Rolle, da dadurch die Bildung fortgeschrittener Infrastrukturen behindert wird? Stellen nicht die gescheiterten Staaten (engl. failed states) Afrikas, wie Somalia und Libyen, eine Gefahr dar als möglicher Auslöser für ein noch größeres Anrennen gegen die Festung Europa, als wir es gerade erleben? Wenn überhaupt, in welcher Zeitspanne erwarten Sie, dass die positive Entwicklung überwiegt? Noch in der Lebenszeit unserer Generation oder erst in 50 oder 100 Jahren?

FJR: Meine klare Aussage ist zunächst etwas präziser, dass nicht der Mangel an Ressourcen das entscheidende Defizit ist, um eine Welt in Wohlstand zu schaffen. Für eine Welt in Wohlstand brauchen wir adäquate technische Innovationen, kombiniert mit entsprechenden politischen Innovationen. Bei den technischen Innovationen steht ganz oben ein neues Energiesystem (wahrscheinlich bestehend aus vielen spezifischen Komponenten für je spezifische Bedürfnisse und je spezifische lokale Gegebenheiten), überall auf der Welt verfügbar, preiswert, umweltfreundlich, klimaneutral. Im politischen Bereich brauchen wir eine Governance, die die Prinzipien einer weltweiten Ökosozialen Marktwirtschaft tatsächlich durchsetzt. Zu einer solchen gehören massive Umlenkungen von Finanzen, einerseits weg von den Haltern der mittlerweile zum Teil exzessiv übergroßen Vermögen, andererseits aber auch durch die vernünftige Bepreisung der Nutzung der globalen Gemeingüter. Diese Bepreisung soll einerseits den Nutzungsumfang dieser Gemeingüter klug eingrenzen, andererseits entsprechenden Einnahmen in weltsoziale und weltökonomische Prozesse lenken (z. B. zur Durchsetzung der Agenda 2030 und zur Stabilisierung der Situation im Klimabereich. Adressiert werden muss auch die Thematik der Familienplanung). Die Bekämpfung von Umweltzerstörung und Klimawandel kommen als größere Aufgaben hinzu. Die heute zu starke Nutzung der Ressourcen durch leistungsstarke Akteure und der Ausschluss der Ärmsten von diesen Möglichkeiten ist nicht akzeptabel. Die Governance muss sich an dieser Stelle deshalb verändern, sie muss insbesondere auch die benötigten Innovationen fördern.

Ich habe auch vom Mangel an Kaufkraft gesprochen. Das bezog sich vor allem auf das Problem des Hungers, verbunden mit der Aussage, dass wir im Moment Nahrung für die (vegetarische) Ernährung von 13 Milliarden Menschen produzieren, aber zurzeit „nur“ 7,5 Milliarden Menschen auf der Erde leben. Wir stecken allerdings die Hälfte dieser von uns produzierten Nahrung in Fleisch. Ich argumentiere hier nicht gegen Fleisch, sondern gegen Hunger und damit gegen eine Verteilung von Kaufkraft, die nicht tragfähig ist und aus ethischer Sicht nicht akzeptiert werden kann.

Den Ärmsten fehlt nämlich die Kaufkraft, sich auch nur das bisschen Nahrung zu kaufen, dessen es bedürfte, damit sie nicht verhungern. Die Reichen haben so viel Kaufkraft, dass sie sich auch noch diese geringen, den Armen nicht zur Verfügung stehenden Nahrungsmittelvolumina pro Kopf auf ihre Seite ziehen können, um z. B. ihren Fleischkonsum noch einmal auszudehnen oder jetzt auf Biosprit zu setzen.

Hier wird erneut deutlich, dass wir auf der einen Seite mit Innovationen Unglaubliches bewirken können. Wir haben die Nahrungsmittelproduktion auf diesem Globus in den letzten 300 Jahren mehr als verzwanzigfacht. Wir haben gleichzeitig immer noch Hunger in der Welt. Das ist eine Frage der Regulierung oder anders ausgedrückt der Kaufkraftzuordnung. Die Welt muss zu anderen Lösungen kommen als sie heute implementiert sind.

Die Diskussion über ein bedingungsloses Grundeinkommen hat hier einen wichtigen Punkt auf ihrer Seite. Es hat zwar viel für sich, dass Menschen ihren Lebensstandard durch Arbeit verdienen, weil Arbeit sehr viel mehr gibt, als nur Geld zur Sicherung des Lebensstandards. Aber da, wo das ökonomische System nicht „liefern“ kann, was Arbeitsplätze anbelangt, wo also die Wirtschaft die entsprechenden werthaltigen Arbeitsplätze nicht zur Verfügung stellt, müssen wir eben über andere Wege nachdenken, Kaufkraft verfügbar zu machen. Menschenwürde bedeutet in jedem Fall, dass ein Mensch über ein auskömmliches Einkommen (bzw. Vermögen) verfügt, um die materiellen Voraussetzungen für die Sicherung seiner Würde herzustellen. Dahin muss die Governance in Zukunft wirken und zwar nicht nur in jedem einzelnen Land, sondern auf der ganzen Welt. Wobei man dafür nicht notwendigerweise ein Weltsozialsystem braucht, aber eine Solidarität unter den Staaten, auf verschiedene Weise, auch durch Finanztransaktionen, dafür zu sorgen, dass es in jedem Staat, auch in den ärmsten, ein entsprechendes  Sozialsystem gibt. Solche Systeme wären im Übrigen ein wichtiger Hebel, endlich in Bezug auf das Wachstum der Weltbevölkerung zu einer Umkehrung der heutigen, bedrohlichen Wachstumsverhältnisse zu kommen.

Im Übrigen haben Sie Recht, dass die fehlende politische Stabilität in vielen Ländern, also z. B. die Probleme mit failing states, enorme Schwierigkeiten für uns aufwerfen. Sie sind global betrachtet Teil des Prozesses, der in Richtung Zweiklassengesellschaft oder gar Kollaps führt. Andererseits kommen mit diesen Zusammenbrüchen die nicht gelösten Probleme der Welt zu uns. Entweder auf zwei Beinen über forcierte Migration oder auch in Form von Terror. Das setzt bei uns Kräfte frei, die hilfreich sein können, natürlich auch Kräfte, die destruktiven Charakter besitzen. Im günstigsten Fall sind es Kräfte des gemeinsamen Arbeitens an Problemen, etwa die Art, wie wir aktuell in Deutschland versuchen, die Migration positiv zu sehen, dann aber auch mit nordafrikanischen Anrainerstaaten Abkommen zu schließen, um die Prozesse zu kanalisieren und dazu endlich auch Geld zu transferieren, um Stabilisierung zu ermöglichen. Auf der anderen Seite gibt es natürlich auch die negativen Reaktionen eines Rückfalls in den Nationalismus. Das sind alles Elemente auf dem Weg in eine der drei Zukünfte und die Ambivalenz der Entscheidungen, die wir im Moment sehen, reflektiert nichts anderes als die Wahrscheinlichkeiten, über die wir oben diskutiert haben. Klar ist, positive Entwicklungen können nicht beliebig lange auf sich warten lassen. Wesentliche Fragen werden in 50 Jahren geklärt sein, teils schon wesentlich früher. Es liegt in der Natur exponentieller Prozesse und sich kumulierender Probleme, dass sie auf eine Entscheidung hindrängen. Der labile Zustand der „Kugel auf dem schmalen Grat“ ist nicht beliebig lange zu halten. In den nächsten Jahrzehnten werden sich die entscheidenden Dinge klären.

BD: Ihre Betonung derQualität der Gehirne‘ finde ich richtig und wichtig. Ich halte es allerdings für eine Verkürzung. Ich nehme an, dass Sie nicht nur an Hardware (bzw. Wetware) denken, um im Bild der Informatik zu bleiben, sondern auch an Software und Daten. Entscheidend ist doch, dass hohe Kompetenzen auf Gebieten vorhanden sind, die für die Zukunft der Menschheit wesentlich sind, z.B. Naturwissenschaft und Technik, und dass sie von der Motivation begleitet sind, diese Kompetenzen zeitnah und konstruktiv zur Anwendung zu bringen. Das ist ein Erziehungs- und Bildungsideal, dem wir uns auch in Deutschland erst noch annähern sollten. Sehen Sie das anders?

FJR: Ihre Formulierungen zum Thema „Qualität der Gehirne“ gefallen mir gut. Damit ist in der Tat keine Verkürzung auf Hardware bzw. die rein mechanische Seite der Angelegenheit gemeint. Gemeint ist, dass wir Menschen zu unglaublichen Dingen fähig sind und dass wir in der Kombination unserer naturwissenschaftlichen-technischen Möglichkeiten wie unserer geistes- wie sozialwissenschaftlichen Fähigkeiten in der Lage sein sollten, sowohl die benötigten Innovationen in Technologie, wie diejenigen in Governance zu realisieren. Es gibt gute ethische Gründe, sich dafür zu engagieren, aber es reicht als Motivation dafür auch schon ein sogenannter einsichtsvoller Egoismus.

Für die Menschheit als Ganzes ist es am besten, diesen Weg zu gehen und damit gleichzeitig weltpolitische Strukturen zu schaffen, die beispielsweise in Bezug auf künstliche Intelligenz die Moratorien erlauben, die oben diskutiert wurden. Auf diesem Weg werden dann endlich auch die Trends in der Bevölkerungsentwicklung umgekehrt. Die Zahl der Menschen auf der Erde könnte endlich schrumpfen, statt immer nur zu wachsen.

Bildung spielt eine große Rolle, um sich diesem Ziel zu nähern. Bildung ist ein wichtiges Thema, im Besonderen auch die Bildung für nachhaltige Entwicklung. Natürlich brauchen wir Menschen, die in unseren Wissenschaften an der Front des Möglichen arbeiten. Wir sollten allerdings nicht glauben, dass Exzellenz im Sinne der Wissenschaften das Einzige wäre, was zählt. In der Finanzkrise gehörten zu den Akteuren und Machern der „Plünderungen“ durch einen entfesselten Finanzsektor Personen, die zu den bestausgebildeten Mathematikern, Informatikern, Ökonomen, Juristen, Steuerfachleuten, Wirtschaftsprüfern, Notaren der Welt gehörten. Eine enorm hohe formale Qualifikation heißt noch nicht, dass man ein Humanist ist, Empathie für andere hat und das Herz an der richtigen Stelle sitzt. Wir brauchen dazu auch so etwas Altmodisches wie Herzensbildung. Der Stellenwert von Herzensbildung muss weltweit deutlich erhöht werden, und wir sollten auch viel stärker anerkennen, was zum Beispiel nach wie vor in Familien in Richtung Herzensbildung geleistet wird. Das ist ein entscheidender Baustein, um eine gute Zukunft zu ermöglichen.  

BD: Die so genannten Panama-Papiere haben erneut bewiesen, wie hoch die Beträge sind, die von Privaten und von Unternehmen an der Besteuerung vorbei bewegt werden, also an ihrer Verwendung für gesellschaftliche Aufgaben. Bei welchen internationalen Organisationen besteht noch Hoffnung, dass sie in Ihrem Sinne durchgreifen? Ist der Begriff ‚Weltinnenpolitik‘ mehr als ein schönes Wort? Die UNO hat zwar Ende 2015 in Paris mutige Beschlüsse gefasst, ihre Umsetzung wird noch viele Fragen aufwerfen. Die EU hat es derzeit schwer, mehr als nur ihr Überleben zu sichern (z.B. gegen Flüchtlinge und BREXIT). Kann man sie wirklich noch als Muster für die Welt hinstellen, so wie Sie dies taten? Ist auf Bürgerinitiativen (NGOs) mehr Verlass?

FJR: Die über die Panama-Papiere und andere Leaks deutlich gewordenen verdeckten Verhältnisse sind Teil der Probleme, mit denen wir zu kämpfen haben. Die Ausnutzungen insbesondere supranationaler Struktur- und Intransparenzverhältnisse durch Akteure höchster Leistungsfähigkeit und der Einfluss dieser Akteure auf die Politik ist die zentrale Herausforderung. Es ist geradezu unerträglich, wie sich höchste Einkommen und höchste Vermögen der Besteuerung entziehen und die Kosten zum Erhalt der Governance- und gesellschaftlichen Infrastrukturen, die diesen Wohlstand überhaupt erst ermöglichen, von den Normalbürgern und dem Mittelstand auf Unternehmerseite getragen werden müssen. All das hat viel zu tun mit einer Welt, die in Nationalstaaten organisiert sind, während das ökonomische System längst global strukturiert ist. Einigungen auf internationaler Ebene sind schwierig, wobei insbesondere die reichen Länder nichts mehr fürchten, als mit dem Rest der Menschheit in eine Art weltdemokratischem Zusammenhalt eingezwängt zu werden, weil sie wissen, dass sie dann sehr viel umfangreicher für die Finanzierung des Weltgemeinwohls herangezogen werden würden, als das heute der Fall ist. Weltinnenpolitik ist erforderlich, wenn Nachhaltigkeit erreicht werden soll, würde uns aber auch stärker belasten. Deshalb wird dies in einer sehr kurzfristig ausgerichteten Haltung möglichst vermieden. Wir sind insofern von Weltinnenpolitik weit entfernt. Die jüngsten Beschlüsse von New York und Paris, so wichtig sie sind, sind ja zunächst auch nicht viel mehr als Worte. Rechtlich unverbindlich, ohne klare Verantwortlichkeiten und vor allem ohne Budget. Wie oben beschrieben, führt der zunehmende Druck in Richtung Re-Nationalisierung. Mit Blick auf eine nachhaltige Entwicklung ist das die falsche Richtung, aber es ist nachvollziehbar, dass passiert, was passiert. Und dass die politischen Ränder dabei stärker werden, war zu erwarten und dass das eine auf Zukunft ausgerichtete Politik erschwert, wird niemanden überraschen.

Die Probleme, die die EU heute hat, sind offensichtlich. Wir können nur hoffen, dass die EU diese Probleme überwindet. Wenn das gelingt, wird Kanzlerin Merkel daran einen großen Anteil haben. Ich bin sehr froh, dass wir diese Kanzlerin haben und dass sie so agiert, wie sie es tut. In jedem Fall bleibt die EU eine Hoffnung für die Welt, denn das ist die Richtung, in die wir agieren müssen, wenn Balance das Ziel ist. Dass die EU Schwierigkeiten hat, spricht nicht dagegen, dass dies die Richtung ist, in die wir uns bewegen müssten. Aber es macht eben auch deutlich, dass das vielleicht nicht gelingen wird.

Die Szenarien Kollaps und Spaltung haben bei mir zusammen eine Wahrscheinlichkeit von etwa zwei Drittel. Deshalb überrascht es mich nicht, dass das, was in Richtung Balance weist, was in Richtung des einen Drittel Wahrscheinlichkeit für globale Nachhaltigkeit und Weltinnenpolitik weist, unter Druck kommt.

Auf wen ist in dieser Situation Verlass? Auf die Bürgerinitiativen auch nicht mehr als auf die Politik, denn viele Bürgerinitiativen verfolgen sehr egoistische Ziele. Manchmal wissentlich, manchmal vielleicht auch ohne es zu merken. Zum Beispiel engagieren sich bei uns viele für eine Energiewende in einer Weise, die bestimmten Branchen nutzt, aber für das Weltklima viel zu wenig bewegt für das, was es kostet. Weil sie nur lokal denken und nicht in Form weltweiter Konsequenzen. Wir können für den Weg in eine vernünftige Welt, in eine Weltinnenpolitik, primär nur auf das Miteinander aller positiv wirkenden Kräfte hoffen, also auf das Miteinander der Politik, vor allem supranational, der Unternehmen und der Zivilgesellschaft, also z. B. der NGOs genauso wie der Konsumenten. Nur in einer klugen Wechselwirkung der verschiedenen Akteure haben wir die Chance, eine vernünftige Zukunft zu erreichen. Diese Chance zu haben, Wahrscheinlichkeiten hin oder her, ist viel mehr als nichts.

BD: Wo stecken Ihre wahren Verbündeten? Wie kann man sie mobilisieren? Welche Rolle können Fachkollegen spielen? Können die Gesellschaft für Informatik (GI), der Verein Deutscher Ingenieure (VDI) oder andere helfen?

FJR: Sie fragen, wo meine wahren Verbündeten sind? Mir ist das alles viel zu personifiziert. Ich sehe mich als Teil eines Superorganismus Menschheit in einer Welt von 7,5 Milliarden Menschen mit einer materiellen Strukturbildung im Wert von vielleicht 400.000 Milliarden US-Dollar. Also als „kleines Rädchen“ in einem enorm komplexen und wirkungsvollen System. Glücklicherweise gibt es aber tausende andere, die ähnlich operieren wie ich das tue. An vielen Stellen ringen Akteure um die Zukunft, viele kommen zu ähnlichen Schlüssen. Sie können sich durch öffentliche Artikulation und Aktionen in ihrer Wirkung verstärken, sich informieren, Koalitionen bilden. Alleine wäre also die Lage hoffnungslos, wir reden über eine Welt mit 7,5 Milliarden Menschen. Aber glücklicherweise gibt es an vielen Stellen viele Akteure, die in eine Richtung agieren, die von Empathie geprägt eine Welt in Balance will und durchaus als möglich ansieht. Es gibt leider auch viele, die wollen eine Zweiklassengesellschaft und sehen sich als Teil der kleinen Elite. Andere Kräfte sehen die Lösung unserer Probleme eher in so etwas wie einer planwirtschaftlichen Knappheitsverwaltungsstruktur, die von Suffizienzvorstellungen her bestimmt wird. Es gibt Akteure, die das Potential des technischen Fortschritt sehen, über den Rebound-Effekt Bescheid wissen und deshalb der Global Governance zentrale Bedeutung beimessen. Die Kombination aus Governance und Technikentwicklung, von den akademischen Disziplinen her interessanterweise von der gesellschaftswissenschaftlichen Seite bis hin zur Technikseite und Naturwissenschaft, hat aus meiner Sicht das entscheidende Potential.

Es ist keine Frage, dass in diesem Kontext Fachkollegen der Informatik, die GI und der VDI, wichtige Akteure sind und eine wichtige Stimme haben. Meine Erfahrung über die letzten Jahrzehnte war, dass mit Ingenieuren tendenziell Verständigung über das Erforderliche relativ einfach möglich ist. Das ist eine Folge des analytischen Denkens. Nicht so einfach war es, solche Vertreter dafür zu gewinnen, sich öffentlich zu äußern. Aber auch das ist immer öfter passiert. Meine Hoffnung ist, dass es noch viel öfter passieren wird.

BD: Vielen Dank für die sehr ausführliche Beantwortung meiner Fragen. Ich finde es erstaunlich, wie es Ihnen gelingt, auch komplexe Zusammenhänge zu erklären. Ich kann daher vor allem meinen jungen Leserinnen und Lesern sehr empfehlen, dieses Interview zu lesen.

Freitag, 10. Juni 2016

Über die Folgen der demografischen Veränderungen in Deutschland

Es vergeht heute kaum ein Tag, an dem nicht über den demografischen Wandel geklagt wird. Neben dem Klimawandel ist es ein immerwährendes Thema. Beide Phänome werden quasi als die modernen Geißeln Gottes gesehen. Beide sind von Menschen verschuldet. Beide sind weltweite Phänomene. Beim Klimawandel war die vermutete Ursache der sorglose Verbrauch fossiler Energien. Beim Bevölkerungswandel hat es irgendwie mit unserem Sozialverhalten zu tun. Oft wird auch die Verfügbarkeit einer Pille, die ungewollte Schwangerschaften verhütet, als das auslösende Ereignis angesehen. Im Folgenden will ich mich weniger an der Suche nach Ursachen beteiligen, sondern die Wirkung beschreiben.

‚Normale‘ Bevölkerungsentwicklung

Noch vor 80 Jahren, also zur Zeit meiner Geburt, besaß Deutschland eine sehr regulär aussehende Bevölkerungspyramide. Dass sie auf der Seite der Männer eine Delle hatte, war die Folge des Ersten Weltkriegs. Die Frauenseite war dagegen eine gerade Linie. Solche Verläufe gibt es auch heute noch in vielen Ländern der Welt. Eine Bevölkerungspyramide wurde in den letzten Jahrhunderten als normal angesehen, wenn in jedem Alter etwa gleich viele Menschen starben, d.h. ebenso viele 10-jährige, wie 20-jährige, 30-jährige, usw. Besonders in Ländern Afrikas und des Nahen Ostens hat sich der Anteil Jugendlicher stark erhöht. Die durchschnittliche Lebenserwartung lag früher bei uns bei etwa 65 Jahren. In vielen armen Ländern liegt sie heute noch unter 50 Jahren. Die Weltbevölkerung war stetig im Wachsen begriffen.

Bevölkerungsentwicklung in den reichen Ländern

Seit etwa 50 Jahren weichen etwa 12-15 Länder der Erde von der früher als normal angesehenen Entwicklung ab. Es sind dies alle OECD-Länder, d.h. alle Länder mit vergleichsweise hohem Wohlstand. Die entscheidenden Unterschiede resultieren aus einer Verringerung der Kinderzahl pro Frau, einer geringeren Sterblichkeit bei Kleinkindern und Jugendlichen und einer höheren Lebenserwartung der Alten. Alle drei Faktoren zusammen bewirken, dass die mehr oder weniger flache Pyramide sich mehr und mehr zu einem Hochhaus mit Dachspitze verformt. Die Weltbevölkerung wird demnächst ein Maximum von etwa 11 Milliarden erreichen und danach abnehmen.

Durch die geringere Zahl von Geburten rücken in Deutschland und den vergleichbaren Ländern deutlich weniger Menschen nach. Wegen der längeren Lebensdauer wird jedoch die Zahl der hier lebenden Menschen teilweise ausgeglichen. Die Gesamtzahl der zu einem gegebenen Zeitpunkt in Deutschland lebenden Menschen mag fallen oder nicht. Ob in Deutschland einmal 80 oder nur 60 Millionen Menschen leben werden, ist für mich eine ziemlich belanglose Zahl. Das Durchschnittsalter kann sich erhöhen. Ausschlaggebend sind mögliche Veränderungen, die sich durch die globalen Verteilungsströme ergeben.

Veränderte Verteilung innerhalb Deutschlands

Ehe ich auf globale Aspekte eingehe, möchte ich zunächst den Blick auf Deutschland selbst lenken. Hier findet gerade eine Umverteilung zwischen den Regionen statt. SPIEGEL ONLINE vom 29.3.2015 zeigte in farbiger Grafik die Wanderungssalden in den Jahren 2011-2013. Kurz zusammengefasst, zeigt die Karte eine deutliche Zuwanderung in den Ballungszentren München, Stuttgart, Frankfurt, Hamburg und Berlin. Wanderungsverluste bestehen in ganz Ostdeutschland ab einem Abstand von etwa 100 km rings um Berlin, sowie in Ostwestfalen, dem Hochsauerland und auf dem Hunsrück.

Erstaunlich ist, dass diese Binnenmigration über 20 Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung dieses ausgeprägte Ost-West-Gefälle hat. Als eine Folge davon explodieren Grundstücks- und Wohnungspreise in den Ballungszentren. In der so genannten Provinz stehen Häuser leer und die Immobilienpreise fallen. Der dort lebende Teil der Bevölkerung ist überaltert, da vor allem die Jugendlichen wegzogen. Die Versorgung ländlicher Regionen mit medizinischen und sozialen Diensten wird immer schwieriger. Dass Städte auch mehr Probleme haben werden, müsste jedermann klar sein. Sie werden jedoch kaum diskutiert.

Veränderungen der globalen Verteilung

Weltweite Wanderungsbewegungen wurden zum Beispiel im SPIEGEL 18/2016 dargestellt. Es gibt kein Land, das nicht grenzüberschreitende Zu- und Abwanderungen (internationale Migration) zusätzlich zur jeweiligen Binnenmigration zu verzeichnen hat. Es wird geschätzt, dass daran zurzeit etwa 200 Mio. Menschen beteiligt sind. Die Zuwanderung erfolgt bei einigen Staaten mehr oder weniger gesteuert, bei anderen erfolgt sie sehr spontan, d.h. man verfolgt eine Politik der offenen Grenzen. Auswanderer verlassen ihre Heimat nicht in erster Linie, um bessere wirtschaftliche Lebensbedingungen für sich und die Familie zu finden, sondern weil sie Schutz vor Unterdrückung und Verfolgung suchen. Insgesamt steigt die Zahl der internationalen Migranten und Flüchtlinge weitaus langsamer an, als angesichts der fortschreitenden Integration der Märkte, der Zunahme der weltweiten Ungleichheit und der unzureichenden Sicherheit in vielen Regionen der Welt zu erwarten wäre.

Die tatsächlichen Zahlen decken sich nicht mit dem aktuell empfundenen Ausmaß des Problems. Die Zustände auf der Balkanroute oder auf dem Mittelmeer vermitteln einen anderen Eindruck. Oder anders ausgedrückt, ein Vulkanausbruch in der Eifel würde eine ganz andere Aufmerksamkeit bekommen als ein erneuter Ausbruch des Krakatau. Beides wären geologisch vergleichbare Ereignisse.

Wirkungen der Bevölkerungsveränderung

Die jetzt folgenden Aussagen mögen auf den ersten Blick harmlos erscheinen. Sie hören sich fast wie Trivialitäten an. Nur weichen sie erheblich davon ab, was heute als unausgesprochener Konsens gilt. Manchmal sind sie auch nicht ‚politically correct‘.

Hat ein Land oder eine Region weniger Menschen, werden dort weniger Arbeitsplätze benötigt. Die Wirtschaft kann daher beliebig stark automatisieren. Das kann von Vorteil sein und die Wettbewerbsfähigkeit verbessern. Arbeitsplätze zu schaffen ist nämlich nicht der einzige Sinn der Wirtschaft. Sie muss allerdings Kaufkraft in der Hand vieler Menschen generieren. Damit ist nicht ein bedingungsloses Grundeinkommen gemeint.

Wo es weniger Kinder gibt, braucht man weniger Lehrer. Eine an sich unproduktive Tätigkeit entfällt. Die Erziehung von Kindern sollte nicht das Ziel haben, das seit den  Zeiten Wilhelm von Humboldts bei uns so hoch im Kurs steht. Es müssen nämlich nicht leicht anstellbare Arbeiter oder Beamte ausgebildet werden, sondern sich selbst versorgende (Öko-) Bauern, Unternehmer oder Händler. Leider haben die vielen Redner, die das Wort Bildung dauernd im Mund führen, meist keine Vorstellung davon, welche Art der Bildung gemeint sein könnte. Wenn gefragt, fällt ihnen meist nur der Name Humboldt ein.

Was ein Land oder eine Region nicht selbst erstellen kann oder will, muss man importieren dürfen. Dabei kann es sich um bestimmte Arten von Lebensmitteln handeln, aber auch um bestimmte Rohstoffe, etwa seltene Erden. Niemand muss und kann autark sein. Eine unausgeglichene Handelsbilanz ist eine Nebensache, so lange man über eigene Kaufkraft verfügt. Sehr wichtig kann auch der Import von Dienstleistungen sein. Bei diesen kann es sich ebenso gut um Programmiertätigkeiten handeln wie um das Ausfüllen von Steuererklärungen. Viele Dienstleistungen müssen nicht vor Ort erbracht werden, andere schon eher. Das Mähen des Rasens, die Reparatur von Hausdächern oder die Betreuung von Alten und Kranken geschieht am besten vor Ort. Auch das Reinigungen von Toiletten oder das Servieren von Mahlzeiten gehört dazu. Das Vorbereiten von Mahlzeiten jedoch nicht. Deutschland hat, was die offiziellen Zahlen anbetrifft, einen riesigen Exportüberschuss. Gezählt werden meist nur Produkte. Würde man auch Dienstleistungen in die Rechnung mit einbeziehen, würde ein völlig anderes Bild entstehen.

Unabhängig davon ob einheimische Arbeitskräfte ausreichend zur Verfügung stehen oder nicht, fast immer können sich Ausländer um bestimmte Jobs bewerben. Für die Jobs vor Ort kommen allerdings nur Einwanderer in Frage. Für die aus der Ferne zu erledigenden Tätigkeiten ist nur die Sprache eine Limitierung. Noch hat es sich nicht herumgesprochen, dass man nicht Deutsch lernen muss, um für deutsche Unternehmen zu arbeiten. Es ist dies der Grund, warum unsere Wirtschaft zwar den anhaltenden Fachkräftemangel bedauert, sich aber sehr gut zu helfen weiß. Kann sie in Zukunft noch weniger Lehrlinge ausbilden als heute, wird sie trotzdem nicht untergehen.

Der Anteil deutscher Auswanderer nach den USA, Kanada oder Australien ist immer noch sehr hoch. Waren es in früheren Jahrhunderten vorwiegend ungebildete Arbeiter, so sind es heute vorwiegend Akademiker. Der Sog ist einfach vorhanden. Es macht keinen Sinn, diesen ‚Aderlass‘ zu stoppen. Die Beschäftigungsrate liegt in Deutschland immer noch deutlich unter der skandinavischer Länder. Falls wir anstreben würden, bis 2050 dieselbe Beschäftigungsrate zu erreichen, die Dänemark heute hat, würden uns (nach einer Rechnung von SPIEGEL-Autoren) nur 6% weniger Arbeitskräfte zur Verfügung stehen als heute. Nur um es klarzustellen: Länder mit einem hohem Anteil berufstätiger Frauen bezahlen dies nicht mit einer niedrigeren Kinderrate.

Immer wieder wird die Mär verbreitet, dass bis 2050 nicht genug Arbeitende vorhanden seien, um die Rente der Alten zu finanzieren. Offensichtlich wird das heutige Finanzierungsprinzip der Rentenversorgung als alternativlos angesehen. Schon heute wird davon abgeraten, sich auf das staatlich-finanzierte Rentensystem allein zu verlassen. Schon heute leben viele Senioren ohne die Unterstützung ihrer Kinder. Außerdem steigt von Jahr zu Jahr das von Eltern an ihre Kinder vererbte Vermögen.

Fazit

Die durchschnittliche Lebenserwartung der Deutschen wird bald bei 90 Jahren liegen. Das ist ein Zuwachs um fast 50% innerhalb einer Generation. Es ist dies kein Grund zur Klage. Bei manchen Autoren hat man allerdings das Gefühl, dass sie den früheren Zustand als besser empfanden. Eine Republik der ergrauten Weisen und der rührigen Selbstständigen ist um Klassen besser als das einst angestrebte sozialistische Paradies. Wir erleben heute die beste aller Zeiten für die Spezies Mensch, und das nicht nur in Deutschland.

Nachtrag vom 12. 6. 2016

Es ist an sich unverzeihlich, dass ich in der ursprünglichen Darstellung die Wirtschaft fast vergessen hatte.  Zur Entschuldigung sei angeführt: Einiges dazu hatte ich vor fast zwei Jahren erzählt, und zwar unter der Überschrift ‚Demografischer Wandel aus der Nähe betrachtet‘. Unsere Wirtschaft passt sich natürlich an und nutzt das neue Geschäftspotenzial aus. Es werden immer mehr und immer größere Kreuzfahrtschiffe gebaut. Sie bedienen vorwiegend ältere Leute. Amazon testet gerade den Versand von Lebensmitteln in den USA. Ich rechne damit, dass das Experiment dazu führt, dass Amazon eine Lösung findet, die auch für Senioren nutzbar ist. Leider sehe ich bei deutschen Unternehmen wie Edeka kein echtes Interesse an diesem Markt, noch traue ich es ihnen so recht zu. Wenn ich nur an die Deutsche Post denke. Es will ihr nicht in den Kopf, dass das Abholen von Briefen bei Privaten genauso wichtig ist wie das Verteilen. Ich schreibe schon deshalb ungern Briefe, weil der nächste Briefkasten fast einen Kilometer entfernt ist.

Es steht außer Zweifel, dass die Medien enorm betroffen sind. Auch hier ist der Konsum durch Senioren überproportional. Wenn es nicht mehr Zeitungen sind, dann umso mehr Fernsehen. Auch ich sehe immer mehr Fernsehschnipsel, aber zeitversetzt auf meinem Smartphone oder Tablet. Ich lese heute pro Monat mehr Bücher als früher in einem Jahr. Diese Bücher sind zu 100% eBücher, und keine Papierbücher (also Pappisate). Das Thema Informatik-Nutzung durch Senioren hatte ich bereits vor fünf Jahren diskutiert. Alles, was ich damals sagte, stimmt auch heute. Die Entwicklung hat sich ungebremst fortgesetzt.

Übrigens habe ich letzte Woche eine Personenwaage der deutschen Marke Soehnle gekauft und installiert, die außer meinem Gewicht auch meine Bio-Impedanz misst. Darunter versteht man den Fett-, Wasser- und Muskelanteil meines Körpers. Die Messergebnisse lese ich auf meinem iPhone ab.