Über Dialekte wird meist nur
herablassend gesprochen. Das ist sehr schade. Es verrät meines Erachtens einen
gewissen Großmachtdünkel, der uns Deutschen eigentlich vergangen sein müsste. Mein
Darmstädter Blog-Freund Hartmut Wedekind gab mir diese Woche einen
Motivationsstoß und auch gleich ein schönes Beispiel mit dazu.
Sie sollten in Ihrem Blog einen Beitrag schreiben “Diglossien und ihre Arten“. Plattdeutsch und die Hochsprache, der schwäbische Dialekt und die Hochsprache gehören als Beispiele wie alle Dialekte auch dazu. „Ei wie schee, dass mir kaanen Dialekt spresche“, sagte in einem hessischen Metzgerladen eine Frau, als ein Schwäbin den Laden verlassen hatte.
Dave Parnas, den die Darmstädter
Kollegen noch kennen müssten, zitierte immer seine Mutter. ‚Spricht jemand eine
Sprache mit Akzent, sei dies ein gutes Zeichen. Er beherrscht dann nämlich
mindestens zwei Sprachen.‘ Eine Einschränkung muss ich hier gleich hinzufügen. Sie lautet: Es kommt vor, dass man alle Sprachen, die man zu kennen glaubt,
nur unvollkommen beherrscht. Auch die Muttersprache, die man einst mit dem
geringsten Aufwand lernte, kann man korrumpieren. Ganz vergessen kann man sie
kaum. Da schließe ich mich mit ein. Für Amateur-Historiker ̶ als solchen
bezeichne ich mich ̶ sind Dialekte und
damit Diglossien ein herrliches Thema. Ich gebe heute eine kleine Kostprobe.
Dabei muss ich höllisch aufpassen, dass ich nicht zu sehr abschweife.
Romanisierung der Treverer
Der trier-luxemburger Raum, zwischen
Maas und Mosel gelegen, geriet um 50 vor Christus in das Zentrum der europäischen
Geschichte. Es entstand hier das römische Kolonialgebiet Obergermanien (lat.
germania superior), das von Metz bis Xanten reichte. Im Vergleich zum übrigen
Gebiet des heutigen Deutschland war dies ein attraktives und pulsierendes Kulturland.
Durch einen befestigten Grenzwall, den
Limes, wurde es, zumindest für einige Jahrhunderte lang, gegen die Plünderer
und Einwanderer aus dem Osten geschützt. Im Westen, in Cislimetanien,
entstanden Städte, Straßen, Gutshöfe, Schulen, Kirchen und Sportstätten. Es
blühte der Handel dank einer stabilen Verwaltung. Der Osten, also
Translimetanien, bestand aus einem zusammenhängenden Waldgebiet, das von
einzelnen Holzhütten und Weilern unterbrochen wurde. Der keltische Stamm der Treverer,
der einen Teil des hier betrachteten Gebiets bewohnte, verließ seine
Streusiedlungen und Waldfestungen (lat. oppida), und gründete Deutschlands
älteste Stadt. Ihr war mein Blogeintrag vom Mai 2015 gewidmet. Die Kelten des Moselraums wurden in den
fünf Jahrhunderten der römischen Besatzung – vermutlich ohne Ausnahme ̶ romanisiert
und christianisiert, d.h. sie vergaßen ihre keltische Sprache und sprachen und
schrieben Latein, einige auch Griechisch. Eine große literarische und
künstlerische Hinterlassenschaft entstand, teils auf Papier, aber vorwiegend in
Stein. Alle Texte sind in Großbuchstaben (Majuskeln oder Versalien) verfasst.
Pferdegöttin Epona (Zeichnung L. Monshausen)
Die keltischen Götter wurden ersetzt
oder ergänzt um römische Gottheiten und Kulte. Auch die aus dem Nahen Osten
stammenden Kulte machten sich breit, so der Mithras-Kult, vor allem aber das
Christentum. Aus heidnischer Zeit stammt ein Relief der Pferdegöttin Epona,
das nahe der Stadt Luxemburg gefunden wurde. Ein sagenhafter Trierer Bischof
mit dem Namen Celsus, der um 140 n. Chr. gelebt haben soll, wurde als
Pferdeheiliger verehrt. Zu seinem Standbild in der Kirche meines Heimatdorfs
pilgerten im 19. Jahrhundert noch die Pferdebesitzer der Umgebung. Beides passt zum Bild der Treverer als Pferdeliebhaber.
Entstehung der Dialekte
Wie in dem früheren Text erwähnt,
erfolgte die fränkische Eroberung – positiv als Landnahme umschrieben ̶ in mehreren
Wellen. Sie ist etwa um 450 n. Chr. abgeschlossen. Ihr ursprüngliches
Siedlungsgebiert soll im Raum Duisburg-Xanten gelegen haben. Es ist um dieselbe
Zeit, als die Angeln und Sachsen auf die britische Insel übersetzten. Auf einer
Karte, die dem Brockhaus von 1900 entstammt, ist die Dreiteilung deutscher
Dialekte gut zu erkennen. An der Küste spricht man Niederdeutsch, vor den Alpen
Oberdeutsch. Dazwischen liegen einige mitteldeutsche Dialekte, so das
fränkische und das thüringische. Das Fränkische ist die Sprache des innerhalb
Mitteleuropa expansivsten Stammes der Völkerwanderungszeit.
Deutsche Mundarten
Fränkisch zerfällt seinerseits in fünf große Gruppen, das Niederfränkische in Holland, Flandern und am Niederrhein, das Ripuarische um Köln, Bonn und Aachen, das Rheinfränkische am Mittelrhein und in
Hessen, sowie das Moselfränkische und das Mainfränkische. Je weiter nach Süden,
desto stärker war der Einfluss von alemannisch bzw. bayrisch. Beide Stämme
wurden von den Franken Jahrhunderte lang bekämpft und schließlich unterjocht. Das
Luxemburgische hat innerhalb des Moselfränkischen insofern eine Sonderstellung
erreicht, als dazu eine Schriftsprache und eine Grammatik entwickelt wurden. Im
Jahr 1984 wurde es neben Französisch zur Amtssprache Luxemburgs erhoben. Luxemburg
war eigentlich ein Dreisprachenland (Triglossie). In den letzten 50 Jahren
spielte Hochdeutsch in der Geschäfts- und Bildungswelt Luxemburgs eine leicht abnehmende
Rolle.
Fränkische Dialekte
Die Trennungslinie zwischen
Moselfränkisch und Rheinfränkisch ist die so genannte Dat-das-Linie.
Nördlich dieser Isoglosse werden die hochdeutschen Wörter „das“, „was“, und „es“ als „dat“, „wat“, und „et“ gesprochen.
Einzelne andere Worte (z.B. Kob für Krähe) teilen das Moselfränkische wieder in
einen westlichen und östlichen Teil.
Dat-das-Isoglosse
Die fränkische Landnahme erfolgte im
Rheinland weder schlagartig noch mit Gewalt. Im Laufe von einigen Jahrhunderten
besetzten Franken nach und nach alles hochwertige Ackerland. Die Keltoromanen
zogen sich in die von Römern verlassenen Städte zurück, oder in Flusstäler. Es
gab eine lang anhaltende Koexistenz. Interessant ist der Unterschied zwischen
der Trierer und der Kölner Stadtbevölkerung. Das ganze Mittelalter über ließen die
Trierer sich Fränkisch durch Latein erklären, bei den Kölnern war es meist umgekehrt.
Die Vorherrschaft der Franken bestimmte
die mittelalterliche deutsche Geschichte. Das beeinflusste auch die
Kanzleisprachen der verschiedenen Stammesterritorien. Viele der anderen im heutigen
deutschen Sprachgebiet siedelnden germanischen Stämme übernahmen
strukturgebende Elemente aus dem Fränkischen und beeinflussten rückwirkend das
Fränkische.
Hochdeutsche Lautverschiebung mit
Zwischenstufen
Für die Sprachveränderung vom
Germanischen zum Hochdeutschen wird seit Jakob Grimm die Bezeichnung zweite Lautverschiebung benutzt. Eine erste Lautverschiebung, auf die hier
nicht eingegangen wird, bestimmte den Übergang vom indoeuropäischen
Sprachniveau zum Altgermanischen. Im Verlaufe dieses Prozesses, bei dem sich
das Hochdeutsche vom Niederdeutschen und den westgermanischen Sprachen
(Dänisch, Englisch und Niederländisch) absonderte, wurden die stimmlosen
Verschlusslaute (Tenues) p, t und k sowie die stimmhaften Verschlusslaute
(Medien) b, d und g verändert.
Außerdem wurde der dentale stimmlose Reibelaut (Spirans) th ersetzt und der stimmhafte Reibelaut v verändert. Des Weiteren gibt es eine Veränderung des meist als y geschriebenen Vokals. Diese
Transformationen sind in der folgenden Tabelle mit einigen Beispielen zusammen
dargestellt. Über den Zeitpunkt und den Ausgangsort der zweiten
Lautverschiebung gibt es unterschiedliche Auffassungen. Neuere Untersuchungen
tendieren dazu, den Beginn im 7. Jahrhundert zu sehen, und zwar im
alemannisch-bayerischen Raum.
Zweite Lautverschiebung
Die Beispiele vor der Verschiebung
stammen vorwiegend aus dem heutigen Englisch; die danach sind
Standard-Hochdeutsch. Alle mitteldeutschen Dialekte stellen Zwischenstufen dar.
Wieso die Sprachverschiebung unterschiedlich von Laut zu Laut erfolgte, ist ein
Rätsel. Vielleicht entdeckt noch jemand physiologische oder klimatische Ursachen. Zusätzlich hat
sich auch das Vokabular geändert. Nur Satzbau und Grammatik sind relativ wenig
betroffen.
Karolingische Diglossie-Verstärkung
Das ganze europäische Mittelalter lebte
in einer Diglossie. Das ist eine Welt mit mehr als einer Sprache. Trotz der
eindeutigen Dominanz von Stammesdialekten im Volk hatte Latein weiterhin eine
zentrale Aufgabe, und zwar sowohl in Kirche wie Staat. Es war die eindeutige
Leitsprache. Mit ihrer Hilfe fand die kulturelle und technische Entwicklung Europas
statt. Da auch Griechisch eine nicht unbedeutende Rolle spielte, könnte man
sogar von einer Triglossie sprechen.
Die Bekehrung Norddeutschlands und
Hollands zum Christentum lag in der Hand ausländischer, d.h. irischer und
englischer Missionare, wie Kolumban, Willibrord und Bonifatius. Karl der Große (747-814)
war zwar ursprünglich auch ein Wanderkönig, wie seine Vorfahren, die von Pfalz
zu Pfalz zogen. Später gab er Aachen eindeutig den Vorzug als Residenz. Hier
zog er ein international besetztes Expertenteam zusammen, um in seinem Reich
Entwicklungspolitik zu betreiben. Karls Kultusminister (offiziell Leiter der
Hofschule genannt) und als solcher auch besonders aktiv, war der Angelsachse Alchwin (735-804), im Lateinischen Alcuinus genannt. Ihm zur Seite standen nicht
Deutsch sprechende Experten aus Italien, Frankreich und Spanien.
Karl selbst sprach entweder mosel-fränkisch
oder ripuarisch, d.h. entweder wie seine Mutter Bertrada, die aus Mürlenbach in
der Eifel stammte, oder wie seine Kinder. Bei Karls fünf Töchtern, an denen er
sehr hing, muss man annehmen, dass sie ‚Öcher
Platt‘ sprachen. Karl konnte Latein lesen, aber nicht schreiben. Er brauchte es
ja auch nicht. Dafür hatte er Spezialisten. Von Alchwin gibt es pädagogische
Texte – natürlich in Latein – in denen er Karl wie einen Schüler anspricht. Sein
Hauptaugenmerk legte Alchwin darauf, dass die Lateinkenntnisse von Priestern
und Beamten verbessert wurden und dass alle Klosterschulen lateinische Klassikertexte
(Ovid, Vergil, Juvenal, Cicero, usw.) erhielten. Für kirchliche Zwecke durften
nur noch fehlerfreie Abschriften der lateinischen Hieronymus-Übersetzung (Vulgata)
aus dem griechischen Original verwendet werden. Eine große Kulturleistung des
Aachener Hofes war die Einführung von Kleinbuchstaben (Minuskeln). Man kann
sich heute Texte gar nicht mehr anders vorstellen.
Die Pflege des Fränkischen als
Schriftsprache spielte bei Karl noch keine Rolle. Erst seine Enkel Ludwig und
Karl produzieren im Jahre 843 mit den Straßburger Eiden ein erstes dreisprachiges
Dokument. In Latein, Alt-Französisch oder Alt-Deutsch (vermutlich Alemannisch)
müssen ihre Vasallen schwören, nichts zu tun, was ihrem dritten Bruder Lothar
helfen würde. Im Vertrag von Verdun wird anschließend das Reich Karls des
Großen aufgeteilt und Lothar zum Thronverzicht getrieben. Das Dokument enthält
den frühesten überlieferten Text in Alt-Französisch. Einen ersten Text in Deutsch, den
Abrogans, gab es übrigens aus dem Kloster St. Gallen bereits vor dem Jahre 800.
Ich selbst habe deutsche Glossen in lateinischen Texten des fränkischen
Reichsklosters Echternach untersucht [1]. Sie stammten von dem späteren Abt
Thiofrid (1031-1110). Er hatte sie eingeritzt und
niemand konnte sie daher später löschen.
Protestantische Diglossie-Zerstörung
Die Zerstörung der mittelalterlichen
Diglossie wurde maßgebend von Reformatoren wie John Wyclif (1330-1384) und Martin
Luther (1483-1546) betrieben. Sie strebten nicht nur an, den Einfluss Roms
zurückzudrängen. Sie wollten auch die Volkssprachen aufwerten. Diesem Zweck
diente vor allem Luthers Bibelübersetzung. Die Erfindung des Buchdrucks durch
Johannes Gutenberg setzte eine mächtige neue Bildungsbewegung in Gang. Die Idee
übernationaler Staatsgebilde geriet ins Abseits. Es gelang Karl V. (1500-1558) nicht
mehr, die Idee eines Reiches, in dem die Sonne nicht unterging, hochzuhalten.
Die Glaubensspaltung nahm ihren Lauf und mit ihr die Betonung der nationalen
Politik. Zwei besonders unglückliche Beispiele lieferten Frankreich und
Deutschland. Die Betonung nationaler Egoismen führte zu kriegerischen
Zusammenstößen ohne Ende seit der karolingischen Reichsteilung. Jedes
Jahrhundert zwischen dem 14. und dem 20. führte zu blutigen Konflikten.
Lehren aus heutiger Sicht
Lehren aus heutiger Sicht
Den Angeln und Sachsen, die gleichzeitig
wie die Franken ihre Wanderung angetreten hatten, blieben die Wirren des kontinentalen
Europas teilweise erspart. Sie konnten sich der Welt gegenüber öffnen und
verhalfen ihrem germanischen Dialekt zur Weltgeltung. Anstatt Latein lernen heute Schüler in aller Welt, nicht nur in Europa, die Leitsprache Englisch. Es ist
die moderne Lingua franca. Oft ist es allerdings ein degeneriertes Englisch (Pidgin).
Nicht die stärkere Konzentration auf Shakespeare kann heute der Sprachverbesserung
dienen und besseres Lehrmaterial liefern, sondern die Befassung mit amerikanischer Wissenschaft und
Technik. Die Krisen der EU (z.B. Brexit) und die Tiraden eines Donald Trump
deuten darauf hin, dass rein nationales Denken auch heute noch ein Risiko
darstellen kann.
Zusätzliche Referenz
- Abt Thiofrid von Echternach: Über seine Herkunft, seine Schriften und sein Verhältnis zu Trier. In: Geschichten aus der Eifelheimat. 2008, S. 223-239
Hartmut Wedekind schrieb:
AntwortenLöschenWir Südhessen bedauern natürlich in Ihrem sehr lehrreichen Bericht über Dialekte, dass "unser Einhard", der Schüler Alkuins und Biograph Karls des Großen, nicht wenigstens im Nebensatz erwähnt wird. Aber die Darstellung ist so schön, dass wir diesen Schmerz verkraften können.
Als Nordgrenze des Moselfränkischen gilt allgemein die frühere Grenze zwischen den Bistümern Trier und Köln. Gefühlsmäßig spielt die Ebbes-jet-Isoglosse eine große Rolle. Wer im Gymnasium in Bitburg 'jet' statt 'ebbes' sagte, wenn das Hochdeutsche 'etwas' gemeint war, der feierte auch Karneval wie die Kölner. Er kam meist von etwa 15 km nördlich von Bitburg, da wo einst das Siedlungsgebiet der Treverer endete.
AntwortenLöschenDass im rumänischen Siebenbürgen Moselfränkisch gesprochen wird, liegt daran, dass die meisten früheren Einwanderer aus den einst österreichischen Territorien an der Mosel und der Eifel kamen.