Freitag, 3. Juni 2016

Über Dialekte und Diglossien, ihre Verstärker und Zerstörer

Über Dialekte wird meist nur herablassend gesprochen. Das ist sehr schade. Es verrät meines Erachtens einen gewissen Großmachtdünkel, der uns Deutschen eigentlich vergangen sein müsste. Mein Darmstädter Blog-Freund Hartmut Wedekind gab mir diese Woche einen Motivationsstoß und auch gleich ein schönes Beispiel mit dazu.

Sie sollten in Ihrem Blog einen Beitrag schreiben “Diglossien und ihre Arten“. Plattdeutsch und die Hochsprache, der schwäbische Dialekt und die Hochsprache gehören als Beispiele wie alle Dialekte auch dazu. „Ei wie schee, dass mir kaanen Dialekt spresche“, sagte in einem hessischen Metzgerladen eine Frau, als ein Schwäbin den Laden verlassen hatte.

Dave Parnas, den die Darmstädter Kollegen noch kennen müssten, zitierte immer seine Mutter. ‚Spricht jemand eine Sprache mit Akzent, sei dies ein gutes Zeichen. Er beherrscht dann nämlich mindestens zwei Sprachen.‘ Eine Einschränkung muss ich hier gleich hinzufügen. Sie lautet: Es kommt vor, dass man alle Sprachen, die man zu kennen glaubt, nur unvollkommen beherrscht. Auch die Muttersprache, die man einst mit dem geringsten Aufwand lernte, kann man korrumpieren. Ganz vergessen kann man sie kaum. Da schließe ich mich mit ein. Für Amateur-Historiker  ̶  als solchen bezeichne ich mich  ̶  sind Dialekte und damit Diglossien ein herrliches Thema. Ich gebe heute eine kleine Kostprobe. Dabei muss ich höllisch aufpassen, dass ich nicht zu sehr abschweife.

Romanisierung der Treverer

Der trier-luxemburger Raum, zwischen Maas und Mosel gelegen, geriet um 50 vor Christus in das Zentrum der europäischen Geschichte. Es entstand hier das römische Kolonialgebiet Obergermanien (lat. germania superior), das von Metz bis Xanten reichte. Im Vergleich zum übrigen Gebiet des heutigen Deutschland war dies ein attraktives und pulsierendes Kulturland.


Wiltheim-Karte über Römerzeit

Durch einen befestigten Grenzwall, den Limes, wurde es, zumindest für einige Jahrhunderte lang, gegen die Plünderer und Einwanderer aus dem Osten geschützt. Im Westen, in Cislimetanien, entstanden Städte, Straßen, Gutshöfe, Schulen, Kirchen und Sportstätten. Es blühte der Handel dank einer stabilen Verwaltung. Der Osten, also Translimetanien, bestand aus einem zusammenhängenden Waldgebiet, das von einzelnen Holzhütten und Weilern unterbrochen wurde. Der keltische Stamm der Treverer, der einen Teil des hier betrachteten Gebiets bewohnte, verließ seine Streusiedlungen und Waldfestungen (lat. oppida), und gründete Deutschlands älteste Stadt. Ihr war mein Blogeintrag vom Mai 2015 gewidmet. Die Kelten des Moselraums wurden in den fünf Jahrhunderten der römischen Besatzung – vermutlich ohne Ausnahme  ̶  romanisiert und christianisiert, d.h. sie vergaßen ihre keltische Sprache und sprachen und schrieben Latein, einige auch Griechisch. Eine große literarische und künstlerische Hinterlassenschaft entstand, teils auf Papier, aber vorwiegend in Stein. Alle Texte sind in Großbuchstaben (Majuskeln oder Versalien) verfasst.


Pferdegöttin Epona (Zeichnung L. Monshausen)

Die keltischen Götter wurden ersetzt oder ergänzt um römische Gottheiten und Kulte. Auch die aus dem Nahen Osten stammenden Kulte machten sich breit, so der Mithras-Kult, vor allem aber das Christentum. Aus heidnischer Zeit stammt ein Relief der Pferdegöttin Epona, das nahe der Stadt Luxemburg gefunden wurde. Ein sagenhafter Trierer Bischof mit dem Namen Celsus, der um 140 n. Chr. gelebt haben soll, wurde als Pferdeheiliger verehrt. Zu seinem Standbild in der Kirche meines Heimatdorfs pilgerten im 19. Jahrhundert noch die Pferdebesitzer der Umgebung. Beides passt zum Bild der Treverer als Pferdeliebhaber.

Entstehung der Dialekte

Wie in dem früheren Text erwähnt, erfolgte die fränkische Eroberung – positiv als Landnahme umschrieben  ̶  in mehreren Wellen. Sie ist etwa um 450 n. Chr. abgeschlossen. Ihr ursprüngliches Siedlungsgebiert soll im Raum Duisburg-Xanten gelegen haben. Es ist um dieselbe Zeit, als die Angeln und Sachsen auf die britische Insel übersetzten. Auf einer Karte, die dem Brockhaus von 1900 entstammt, ist die Dreiteilung deutscher Dialekte gut zu erkennen. An der Küste spricht man Niederdeutsch, vor den Alpen Oberdeutsch. Dazwischen liegen einige mitteldeutsche Dialekte, so das fränkische und das thüringische. Das Fränkische ist die Sprache des innerhalb Mitteleuropa expansivsten Stammes der Völkerwanderungszeit.



Deutsche Mundarten

Fränkisch zerfällt seinerseits in fünf große Gruppen, das Niederfränkische in Holland, Flandern und am Niederrhein, das Ripuarische um Köln, Bonn und Aachen, das Rheinfränkische am Mittelrhein und in Hessen, sowie das Moselfränkische und das Mainfränkische. Je weiter nach Süden, desto stärker war der Einfluss von alemannisch bzw. bayrisch. Beide Stämme wurden von den Franken Jahrhunderte lang bekämpft und schließlich unterjocht. Das Luxemburgische hat innerhalb des Moselfränkischen insofern eine Sonderstellung erreicht, als dazu eine Schriftsprache und eine Grammatik entwickelt wurden. Im Jahr 1984 wurde es neben Französisch zur Amtssprache Luxemburgs erhoben. Luxemburg war eigentlich ein Dreisprachenland (Triglossie). In den letzten 50 Jahren spielte Hochdeutsch in der Geschäfts- und Bildungswelt Luxemburgs eine leicht abnehmende Rolle.



Fränkische Dialekte

Die Trennungslinie zwischen Moselfränkisch und Rheinfränkisch ist die so genannte Dat-das-Linie. Nördlich dieser Isoglosse werden die hochdeutschen Wörter „das“, „was“, und „es“  als „dat“, „wat“, und „et“ gesprochen. Einzelne andere Worte (z.B. Kob für Krähe) teilen das Moselfränkische wieder in einen westlichen und östlichen Teil.


Dat-das-Isoglosse

Die fränkische Landnahme erfolgte im Rheinland weder schlagartig noch mit Gewalt. Im Laufe von einigen Jahrhunderten besetzten Franken nach und nach alles hochwertige Ackerland. Die Keltoromanen zogen sich in die von Römern verlassenen Städte zurück, oder in Flusstäler. Es gab eine lang anhaltende Koexistenz. Interessant ist der Unterschied zwischen der Trierer und der Kölner Stadtbevölkerung. Das ganze Mittelalter über ließen die Trierer sich Fränkisch durch Latein erklären, bei den Kölnern war es meist umgekehrt.

Die Vorherrschaft der Franken bestimmte die mittelalterliche deutsche Geschichte. Das beeinflusste auch die Kanzleisprachen der verschiedenen Stammesterritorien. Viele der anderen im heutigen deutschen Sprachgebiet siedelnden germanischen Stämme übernahmen strukturgebende Elemente aus dem Fränkischen und beeinflussten rückwirkend das Fränkische.

Hochdeutsche Lautverschiebung mit Zwischenstufen

Für die Sprachveränderung vom Germanischen zum Hochdeutschen wird seit Jakob Grimm die Bezeichnung zweite Lautverschiebung benutzt. Eine erste Lautverschiebung, auf die hier nicht eingegangen wird, bestimmte den Übergang vom indoeuropäischen Sprachniveau zum Altgermanischen. Im Verlaufe dieses Prozesses, bei dem sich das Hochdeutsche vom Niederdeutschen und den westgermanischen Sprachen (Dänisch, Englisch und Niederländisch) absonderte, wurden die stimmlosen Verschlusslaute (Tenues) p, t und k sowie die stimmhaften Verschlusslaute (Medien) b, d und g verändert. Außerdem wurde der dentale stimmlose Reibelaut (Spirans) th ersetzt und der stimmhafte Reibelaut v verändert. Des Weiteren gibt es eine Veränderung des meist als y ge­schriebenen Vokals. Diese Transformationen sind in der folgenden Tabelle mit einigen Beispielen zusammen dargestellt. Über den Zeitpunkt und den Ausgangsort der zweiten Lautverschiebung gibt es unterschiedliche Auffassungen. Neuere Untersuchungen tendieren dazu, den Beginn im 7. Jahrhundert zu sehen, und zwar im alemannisch-bayerischen Raum.



Zweite Lautverschiebung

Die Beispiele vor der Verschiebung stammen vorwiegend aus dem heutigen Englisch; die danach sind Standard-Hochdeutsch. Alle mitteldeutschen Dialekte stellen Zwischenstufen dar. Wieso die Sprachverschiebung unterschiedlich von Laut zu Laut erfolgte, ist ein Rätsel. Vielleicht entdeckt noch jemand physiologische  oder klimatische Ursachen. Zusätzlich hat sich auch das Vokabular geändert. Nur Satzbau und Grammatik sind relativ wenig betroffen.

Karolingische Diglossie-Verstärkung

Das ganze europäische Mittelalter lebte in einer Diglossie. Das ist eine Welt mit mehr als einer Sprache. Trotz der eindeutigen Dominanz von Stammesdialekten im Volk hatte Latein weiterhin eine zentrale Aufgabe, und zwar sowohl in Kirche wie Staat. Es war die eindeutige Leitsprache. Mit ihrer Hilfe fand die kulturelle und technische Entwicklung Europas statt. Da auch Griechisch eine nicht unbedeutende Rolle spielte, könnte man sogar von einer Triglossie sprechen.

Die Bekehrung Norddeutschlands und Hollands zum Christentum lag in der Hand ausländischer, d.h. irischer und englischer Missionare, wie Kolumban, Willibrord und Bonifatius. Karl der Große (747-814) war zwar ursprünglich auch ein Wanderkönig, wie seine Vorfahren, die von Pfalz zu Pfalz zogen. Später gab er Aachen eindeutig den Vorzug als Residenz. Hier zog er ein international besetztes Expertenteam zusammen, um in seinem Reich Entwicklungspolitik zu betreiben. Karls Kultusminister (offiziell Leiter der Hofschule genannt) und als solcher auch besonders aktiv, war der Angelsachse Alchwin (735-804), im Lateinischen Alcuinus genannt. Ihm zur Seite standen nicht Deutsch sprechende Experten aus Italien, Frankreich und Spanien.

Karl selbst sprach entweder mosel-fränkisch oder ripuarisch, d.h. entweder wie seine Mutter Bertrada, die aus Mürlenbach in der Eifel stammte, oder wie seine Kinder. Bei Karls fünf Töchtern, an denen er sehr hing, muss man annehmen, dass sie ‚Öcher Platt‘ sprachen. Karl konnte Latein lesen, aber nicht schreiben. Er brauchte es ja auch nicht. Dafür hatte er Spezialisten. Von Alchwin gibt es pädagogische Texte – natürlich in Latein – in denen er Karl wie einen Schüler anspricht. Sein Hauptaugenmerk legte Alchwin darauf, dass die Lateinkenntnisse von Priestern und Beamten verbessert wurden und dass alle Klosterschulen lateinische Klassikertexte (Ovid, Vergil, Juvenal, Cicero, usw.) erhielten. Für kirchliche Zwecke durften nur noch fehlerfreie Abschriften der lateinischen Hieronymus-Übersetzung (Vulgata) aus dem griechischen Original verwendet werden. Eine große Kulturleistung des Aachener Hofes war die Einführung von Kleinbuchstaben (Minuskeln). Man kann sich heute Texte gar nicht mehr anders vorstellen.

Die Pflege des Fränkischen als Schriftsprache spielte bei Karl noch keine Rolle. Erst seine Enkel Ludwig und Karl produzieren im Jahre 843 mit den Straßburger Eiden ein erstes dreisprachiges Dokument. In Latein, Alt-Französisch oder Alt-Deutsch (vermutlich Alemannisch) müssen ihre Vasallen schwören, nichts zu tun, was ihrem dritten Bruder Lothar helfen würde. Im Vertrag von Verdun wird anschließend das Reich Karls des Großen aufgeteilt und Lothar zum Thronverzicht getrieben. Das Dokument enthält den frühesten überlieferten Text in Alt-Französisch. Einen ersten Text in Deutsch, den Abrogans, gab es übrigens aus dem Kloster St. Gallen bereits vor dem Jahre 800. Ich selbst habe deutsche Glossen in lateinischen Texten des fränkischen Reichsklosters Echternach untersucht [1]. Sie stammten von dem späteren Abt Thiofrid (1031-1110). Er hatte sie eingeritzt und niemand konnte sie daher später löschen.

Protestantische Diglossie-Zerstörung

Die Zerstörung der mittelalterlichen Diglossie wurde maßgebend von Reformatoren wie John Wyclif (1330-1384) und Martin Luther (1483-1546) betrieben. Sie strebten nicht nur an, den Einfluss Roms zurückzudrängen. Sie wollten auch die Volkssprachen aufwerten. Diesem Zweck diente vor allem Luthers Bibelübersetzung. Die Erfindung des Buchdrucks durch Johannes Gutenberg setzte eine mächtige neue Bildungsbewegung in Gang. Die Idee übernationaler Staatsgebilde geriet ins Abseits. Es gelang Karl V. (1500-1558) nicht mehr, die Idee eines Reiches, in dem die Sonne nicht unterging, hochzuhalten. Die Glaubensspaltung nahm ihren Lauf und mit ihr die Betonung der nationalen Politik. Zwei besonders unglückliche Beispiele lieferten Frankreich und Deutschland. Die Betonung nationaler Egoismen führte zu kriegerischen Zusammenstößen ohne Ende seit der karolingischen Reichsteilung. Jedes Jahrhundert zwischen dem 14. und dem 20. führte zu blutigen Konflikten.

Lehren aus heutiger Sicht

Den Angeln und Sachsen, die gleichzeitig wie die Franken ihre Wanderung angetreten hatten, blieben die Wirren des kontinentalen Europas teilweise erspart. Sie konnten sich der Welt gegenüber öffnen und verhalfen ihrem germanischen Dialekt zur Weltgeltung. Anstatt Latein lernen heute Schüler in aller Welt, nicht nur in Europa, die Leitsprache Englisch. Es ist die moderne Lingua franca. Oft ist es allerdings ein degeneriertes Englisch (Pidgin). Nicht die stärkere Konzentration auf Shakespeare kann heute der Sprachverbesserung dienen und besseres Lehrmaterial liefern, sondern die Befassung mit amerikanischer Wissenschaft und Technik. Die Krisen der EU (z.B. Brexit) und die Tiraden eines Donald Trump deuten darauf hin, dass rein nationales Denken auch heute noch ein Risiko darstellen kann.

Zusätzliche Referenz

  1. Abt Thiofrid von Echternach: Über seine Herkunft, seine Schriften und sein Verhältnis zu Trier. In: Geschichten aus der Eifelheimat. 2008, S. 223-239

2 Kommentare:

  1. Hartmut Wedekind schrieb:

    Wir Südhessen bedauern natürlich in Ihrem sehr lehrreichen Bericht über Dialekte, dass "unser Einhard", der Schüler Alkuins und Biograph Karls des Großen, nicht wenigstens im Nebensatz erwähnt wird. Aber die Darstellung ist so schön, dass wir diesen Schmerz verkraften können.

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  2. Als Nordgrenze des Moselfränkischen gilt allgemein die frühere Grenze zwischen den Bistümern Trier und Köln. Gefühlsmäßig spielt die Ebbes-jet-Isoglosse eine große Rolle. Wer im Gymnasium in Bitburg 'jet' statt 'ebbes' sagte, wenn das Hochdeutsche 'etwas' gemeint war, der feierte auch Karneval wie die Kölner. Er kam meist von etwa 15 km nördlich von Bitburg, da wo einst das Siedlungsgebiet der Treverer endete.

    Dass im rumänischen Siebenbürgen Moselfränkisch gesprochen wird, liegt daran, dass die meisten früheren Einwanderer aus den einst österreichischen Territorien an der Mosel und der Eifel kamen.

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