Die Geschichte der Moral ist sehr aufschlussreich, da sich Philosophen aller Epochen des Themas angenommen haben. Durch ein paar Studien historischer Aussagen bin ich zu der Erkenntnis gelangt, dass wohl Epikur den besten Zugang zu einer gesunden persönlichen ethischen und moralischen Einstellung beschrieben hat. Verhalten nach epikureischen Prinzipien (nicht mit Hedonismus zu verwechseln) wird der Natur des Menschen am ehesten gerecht.
Ein ganz anderes Thema ist, ob und welche Rolle ethische und moralische Prinzipien bei der Organisation gesellschaftlicher Institutionen gespielt haben und spielen. Dabei geht es in erster Linie nicht um Ethik und Moral, sondern um Strategien und Pläne, die dem Erfolg einer Institution dienlich sind. Jede Institution etabliert zu diesem Zweck Regeln und Rituale, die von den Mitarbeitern einer Institution zu befolgen sind. Sie dienen dem Zweck kooperatives Verhalten zwischen Mitarbeitern der Institution und zwischen der Institution und deren „Kunden“ sicherzustellen. Es ist offensichtlich, dass die institutionellen Regeln und Rituale eines Priesters, eines Politikers, eines Universitätsprofessors, eines Arztes oder eines Bankers nicht die gleichen sind. Welche Rolle spielt „christliche Ethik und Moral“ unter diesem Blickwinkel?
Offensichtlich gelten Regeln „christlicher Ethik und Moral“ für Priester christlicher Kirchen. Übrigens nicht die gleichen für alle christlichen Institutionen. Am besten sind Unterschiede in Jerusalem in der Karwoche zu beobachten. Die Grabeskirche ist in der Hand sechs christlicher Konfessionen, die um Plätze in der Kirche konkurrieren: Die Hauptverwaltung der Kirche haben die Griechisch-Orthodoxe, die Römisch-Katholische Kirche, vertreten durch den Franziskaner-Orden, und die Armenische Apostolische Kirche inne. Im 19. Jahrhundert kamen die Syrisch-Orthodoxe Kirche von Antiochien, die Kopten und die Äthiopisch-Orthodoxe Tewahedo-Kirche hinzu. Sie bekamen nur einige kleinere Schreine und Aufgaben zugeteilt, die Äthiopier leben in einer kleinen Gruppe nur auf einem Dach der Kirche. Dieses Deir al-Sultan-Kloster wird jedoch von den Kopten beansprucht. Protestantische Konfessionen sind in der Kirche nicht vertreten.
Man sollte meinen, dass es jeder Person einer nicht-kirchlichen Institution freigestellt ist, sich einer christlichen Konfession anzuschließen oder nicht. Dem Fürst von Monaco ist es nicht freigestellt. Ein Vertrag zwischen dem Fürstentum Monaco und der Katholischen Kirche schreibt fest, dass der Thronfolger zu katholischem Glauben verpflichtet ist. Ich vermute, dass ein herausragender „Funktionsträger“ (welch hässliches Wort) der Christlich Demokratischen Union sich zum katholischen oder protestantischen Glauben bekennen muss. [Hinweis BD: Letztere Vermutung trifft nicht zu. Die CDU hat in Niedersachsen eine Muslimin zur Ministerin ernannt]
Andere öffentliche Personen glauben vermutlich, dass ein Bekenntnis zur christlichen Konfession den Zwecken der von ihn vertretenen Institution dienlich sei. Diese Vermutung drängt sich nach einem Vortrag zum Thema „Profit und Moral - ein Zielkonflikt?“ auf, den Dr. Josef Ackermann, Vorsitzender des Vorstands Deutsche Bank AG anlässlich der Frühjahrstagung des Politischen Clubs der Evangelische Akademie Tutzing gehalten hat. Ackermann eröffnete seinen Vortrag mit einem Zitat von Joseph Kardinal Ratzinger, dem heutigen Papst: "Eine Moral, die die Sachkenntnis der Wirtschaftsgesetze überspringen zu können meint, ist nicht Moral, sondern Moralismus, also das Gegenteil von Moral." Danach scheint es leichter Unternehmensziele und Geschäftspraktiken mit dem „Segen der katholischen Kirche“ in Einklang zu bringen. Es ist ersichtlich, dass ich nicht sehr weit gekommen bin, die Rolle ethischer und moralische Begriffe in der Gesellschaft abschätzen zu können. Vermutlich eignen sich die technologischen Abenteuer des Menschen am ehesten, evolutionäre Veränderungen der verschiedensten Gesellschaftsstrukturen zu analysieren und zu verstehen.
Vielleicht stimmt ja, was François Jacob am Ende seines Buches "Die Maus, die Fliege, und der Mensch" sagt: "Wir sind eine zweifelhafte Mischung aus Nukleinsäuren und Erinnerungen, aus Begierden und Proteinen. Das zu Ende gehende (zwanzigste) Jahrhundert hat sich eingehend mit Nukleinen und Proteinen beschäftigt. Das kommende wird sich auf die Erinnerungen und die Begierden konzentrieren. Wird es solche Frage zu lösen vermögen?"
PS: Ich schätze, dass sich derzeit in Deutschland zwischen 20% und 30% der Bevölkerung nicht zu einer christlichen Konfession bekennen. Es wird interessant sein zu beobachten, welche Rolle dieser Teil der Bevölkerung für die zukünftige politische Willensbildung (auch für Ethik und Moral?) spielen wird. Welche Rolle spielen politisch und konfessionell unabhängige meinungsbildende Presseorgane und Internet?
Alles Weitere können Sie meinem anhängenden Essay ‚Don‘t worry, be happy’ entnehmen.
Am 6.7.2011 antwortete Hans Diel aus Sindelfingen:
In ‚Don’t worry, be happy‘ kommt sehr schön zum Ausdruck, dass uns die Philosophen bei diesem Thema auch nicht wirklich weiter gebracht haben. Es scheint, dass die Menschheit insgesamt bei diesem Thema in den letzten zwei Jahrtausenden keine großen Fortschritte gemacht hat. (Ich könnte mir allerdings auch vorstellen einen etwas optimistischeren Standpunkt zu vertreten und dabei auch die Rolle der Religionen positiv zu würdigen)
Interessant ist für mich auch Schopenhauers Erkenntnis, dass Kant nicht Recht hat mit "Es reiche aus zu wissen, was das Gute ist, um es auch tun zu können". Das berührt die Frage, welche Rolle Gefühle, Überzeugungen, Emotionen einerseits, und Vernunft, Intellekt, Logik andererseits bei diesem Thema spielen sollten. Ich bewundere und beneide oft die Leute, die mit vielen Emotionen gegen das Unrecht in der Welt (Kriege, Armut, Korruption) schimpfen und manchmal auch kämpfen. Meine Bewunderung und mein Neid kehrt sich jedoch schnell in das Gegenteil um, wenn ich diese Leute bei unsachlichem, unlogischem, unsinnigem Argumentieren erwische (was meistens relativ leicht ist). Dann werden mir diese Leute, zusammen mit ihrem Anliegen, sehr schnell unsympathisch. Andererseits, ist mir auch klar, dass Leute wie ich, die nur gut erkennen, wo Ideologen und Moralisten Unsinn reden, ohne sich selbst für etwas einzusetzen, die Welt auch nicht weiter bringen.
Vielleicht braucht man doch beides (1) die Leute mit den Emotionen für (vermeintliche) Gerechtigkeit und (2) die Leute mit dem "kühlen Kopf". Interessant scheint mir noch, dass nach meinem Eindruck, es extrem selten ist (bzw. in der Geschichte war), dass jemand Beides in sich vereint.
Noch am 6.7.2011 schrieb Peter Hiemann:
Den Essay ‚Don't worry, be happy‘ habe ich vor über einem Jahr verfasst. Ich habe damals versucht, über ein paar eigene persönliche Verhaltensweisen Klarheit zu gewinnen. Fast hätte ich geschrieben "Rechenschaft abzulegen". Diesen Ausdruck halte ich für unangebracht, da er anzeigen würde, dass für mich die Begriffe "Ethik und Moral" etwas mit "Schuld" zu tun haben.
Vielleicht ist Ihnen aufgefallen, dass die französische Sprache einen Unterschied zwischen ‚le moral‘ und ‚la morale‘ macht. Das deutsche Wort Moral ist immer ‚la morale‘. Auf diesen Unterschied aufmerksam zu machen, kam es mir in meinem letzten Brief an. Sich ethische und moralische Charaktereigenschaften (le moral) anzueignen und zu verinnerlichen (Emotionen, Gefühle, Leidenschaften), betrifft eine Seite sozialen Verhaltens. Gerd Gigerenzer würde sagen, es handelt sich um "Intuitive Intelligenz", die bei Bauchentscheidungen eine große Rolle spielt. Logik, Vernunft und Überzeugungen sind auf die andere Seite der persönlichen Medaille geprägt. Diese Seite menschlicher Persönlichkeit (la morale) wird geprägt durch Engagement (Einsatz, Verpflichtung), entsprechend den ethischen und moralischen Anforderungen einer Institution. Nicht häufig kollidieren verinnerlichte Charaktereigenschaften und institutionelle Anforderungen.
Den Hauptgrund, dass die Begriffe Ethik und Moral oft leichtfertig benutzt werden, sehe ich darin, dass Verhaltensanalysen den Unterschied zwischen (verinnerlichten) Charakter und professioneller Persönlichkeit nicht sehen, nicht sehen können oder nicht sehen wollen. Bei Josef Ackermann bin ich mir nicht sicher, ob und wie leichtfertig er mit seinen Moralbegriffen umgeht.
PS: Ich werde aufmerksam verfolgen, wie die Mitglieder des deutschen Bundestages über ein Gesetz zur Präimplantationsdiagnostik (PID) abstimmen werden. Bei dieser Abstimmung spielt der Erhalt des Jobs ja keine Rolle.
Am 7.7.2011 schrieb Bertal Dresen aus Sindelfingen:
Ich habe mir zu beiden Themen nicht genug Gedanken gemacht, um fundierte Beiträge zu dieser Diskussion leisten zu können. Hier nur ein paar Splitter. Es ist wohl Immanuel Kant zu verdanken, dass man Ethik auch unabhängig von religiösen Vorstellungen diskutieren kann. Alle religiösen Organisationen, seien es christliche oder andere, liefern immer wieder Beispiele, die beweisen, dass sie den Begriff Ethik nicht für sich allein in Anspruch nehmen können.
Sehr interessant fand ich einen Artikel des Aachener Philosophen Winfried Hinsch über den Begriff der Menschenrechte. Ich glaube er war in der Stuttgarter Zeitung oder in der Frankfurter Sonntagszeitung. Nach seiner Meinung fehle es an einer Theorie des Menschenrechts. Viele Leute meinten es seien Naturrechte, die alle Menschen per Geburt erhalten. Andere Experten verlangen, dass Recht nur sein kann, was von einem entsprechenden Organ beschlossen, und daher einklagbar sei. So waren die Menschenrechte der UN von 1948 nur eine Beschreibung eines Ideals, bis dass sie um 1976 zu einklagbaren Rechten wurden, und zwar bei den 70-80 Ländern, die sie explizit anerkannten. Da aber der Irak von Sadam Hussein diese (expliziten) Menschenrechte nicht in eigenes Recht umgewandelt hatte, hätte er im Prinzip foltern können, ohne sich strafbar zu machen. Das widerstrebt aber vielen Leuten. Auch die Nürnberger Prozesse gegen Nazigrößen wichen von dieser Auffassung ab, also dem alten Grundsatz des römischen Rechts, dass es ohne Gesetz keine Strafe geben dürfe (nulla poena sine lege)
In anderem Zusammenhang habe ich einmal argumentiert, dass ein Recht, dass man nicht durchsetzen kann, ein schlechtes Recht sei. In der Urheberrechtsdiskussion des Deutschen Bundestags hörte ich dazu ein Gegenargument. Man sollte die Einführung eines Rechts nicht davon abhängig machen, ob es leicht durchzusetzen ist. Es sei immer hilfreich, den Bürgern zu sagen, was gut und was schlecht ist, also was ein gesellschaftlich erwünschtes oder unerwünschtes Verhalten ist. Womit wir wieder bei der Ethik wären.
Am 8.7.2011 schrieb Peter Hiemann:
Die Mehrheit der deutschen Bundestagsabgeordneten hat sich für die Möglichkeit einer Präimplantationsdiagnostik (PID) entschieden, allerdings nur unter der Bedingung, dass familiäre Ereignisse darauf hindeuten, dass Erbkrankheiten oder frühzeitige Embryoabgänge zu erwarten (befürchten) sind.
Zusammenfassend dürften folgende Gesichtspunkte ausschlaggebend für die Annahme oder Ablehnung einer PID im Bundestag gewesen sein:
- der Mensch soll Gott nicht ins Handwerk pfuschen > Ablehnung
- der Mensch wird PID für Design menschlicher Eigenschaften missbrauchen > Ablehnung
- der Mensch darf keine befruchteten Eizellen töten > Ablehnung
- PID ermöglicht Eltern das Austragen und die Geburt eines gesunden Kindes > Annahme
- PID erspart Eltern eine spätere notwendige Abtreibung > Annahme
- PID ist eine persönliche Entscheidung und der Staat soll sich nicht einmischen > Annahme
Sehr wenige MdBs enthielten sich der Stimme. Ich hätte für Annahme gestimmt. Meines Erachtens zeigt das Abstimmungsverhalten, dass Parteizugehörigkeit kaum eine Rolle gespielt hat. Die Vielfalt der Kriterien lässt auch keine Deutung zu, dass bestimmte ethisch/moralische Prinzipien in der Gesellschaft Deutschlands besonders ausgeprägt seien (vermutlich nicht einmal in Bayern). Ich nehme an, dass sich die MdBs wenig an den Sitzungsbeiträgen orientiert haben, sondern mit einer vorgefassten Meinung abgestimmt haben. Auf jeden Fall waren persönliche ethische und moralische Auffassungen ausschlaggebend. Und die sind geprägt durch individuelle Lebenserfahrung. Wie auch bei mir.
Für mich ist völlig ungeklärt und vielleicht auch nicht im Detail erklärbar, welche Rolle Institutionen für die Ausbildung persönlicher ethischer und moralischer Verhaltensprinzipien spielen. Es gibt zwar einen Deutschen Ethikrat, der verschiedene Gesichtspunkte für die Zulassung oder Ablehnung der PID erläutert hat. Dieser Rat ist mit Vertretern vieler Gesellschaftsgruppen besetzt. Er trifft sich gelegentlich, um anstehende ethisch/moralische Fragen zu diskutieren, vermutlich mit der Erfahrung "außer Spesen nichts gewesen". Ich habe mir die Webseite des Ethikrates trotzdem einmal angeschaut. Den Essay "Die Würde in Vitro" von Bernhard Schlink (emeritierter Professor für Verfassungsrecht und Rechtsphilosophie) im SPIEGEL vom 20.6.11 fand ich persönlich besser geeignet, sich über das Problem PID zu orientieren und eine Meinung zu bilden.
Übrigens ist ziemlich klar, wer am Ende die wahre Entscheidung PID - ja/nein nach dem neuen Gesetz trifft. Vermutlich die Eltern und ein Mediziner. Die Eltern entscheiden nach persönlichen ethisch/moralischen Prinzipien, der Arzt nach professionellen ethisch/moralischen Prinzipien.
Noch am 8.7.2011 schrieb Bertal Dresen:
Meine Frau und ich haben die vom Bundestag getroffene Entscheidung begrüßt. Sie berücksichtigt die Entwicklung unserer Gesellschaft hin zu mehr Liberalität, weg vom Dogmatismus. Auch holt sie nach, was in einigen Nachbarländern bereits akzeptiert ist. Natürlich kann Missbrauch getrieben werden; aber nicht alle Ärzte sind Scharlatane.
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