Freitag, 30. Dezember 2011

Ist die Welt noch zu retten? - Gedanken zum Jahresende

Immer wieder werden die grossen Probleme gelistet, an denen früher oder später unsere Welt zugrunde gehen muss. Gemeint ist die Zerstörung der Lebensgrundlage von uns Menschen. Derartige Listen umfassen meistens folgende Arten von Problemen:
  • Überbevölkerung gefolgt von Hunger, Armut und Migration
  • Klimaveränderung als Ursache von Dürren, Unwetter und Gletscherschmelzen
  • Naturkatastrophen wie Erdbeben, Vulkanausbrüche, Hochwasser und Meteoriten
  • Umweltverschmutzung in Form von Boden-, Luft- und Wasserverseuchung, chemischen Abfällen und Weltraumschrott
  • Seuchen wie SARS und AIDS
  • Raubbau an Ressourcen mit Auswirkung auf Artenvielfalt
  • Wirtschaftliches Ungleichgewicht zwischen Ländern und Regionen
Die Liste kann man fortsetzen. Man kann sie unterteilen in Probleme, die vom Menschen verursacht oder stark beeinflusst werden, und solche, an denen er keine Schuld trägt. Hier geht es darum, ob man diese Probleme als Schicksal akzeptieren muss, oder ob und wie man dagegen ankämpfen kann.
Alle erwähnten Probleme sind von der Art, dass ein einzelner Mensch vollkommen überfordert ist, eines der Probleme allein zu lösen. Er kann bestenfalls versuchen, seinen Beitrag als Verursacher zu minimieren. Lösen können wir die Probleme nur durch eine konzertierte Aktion oder viele Aktionen vieler Menschen. Das ist zwar abschreckend, sollte jedoch kein Anlass sein, das Problem als unlösbar anzusehen. In den meisten Fällen ist auch eine radikale Lösung, also eine Lösung auf einen Schlag, kaum vorstellbar.

Der Begriff der konzertierten Aktion scheint hier besonders gut angebracht zu sein. Man bringt damit zum Ausdruck, dass eine Vielfalt von Kompetenzen gefragt ist und zur Anwendung gebracht werden muss. An erster Stelle scheinen hier die staatlichen Organe zu stehen. Sie haben die eindeutige Verantwortung, für das Wohl der Bevölkerung zu sorgen, und zwar nicht nur kurzfristig sondern auch langfristig. Fast immer verfügen sie auch über die besten Kompetenzen und Ressourcen. Dass es nicht leicht ist, das Handeln von Staaten zu koordinieren, beweisen die diversen Klimakonferenzen. Da alle Staaten sich als unabhängig und gleichwertig ansehen, ist gegenseitiges Überzeugen unabdingbar.

Die Wirtschaft ist an zweiter Stelle gefordert. Oft hat sie Kompetenzen und Kapazitäten, die dem Staat nicht zur Verfügung stehen. Unternehmen, die sich hier engagieren, verbessern ihre gesellschaftliche Reputation und gewinnen dadurch für Kunden und Mitarbeiter an Attraktivität. Vor allem besteht ein grosses technisches Potenzial auch anderswo gerade für die Fähigkeiten und Disziplinen, die hier gefordert werden. Am Schluss gibt es hier viel Raum für private Initiativen. Hier können neue Organisationsformen sich bewähren, wie die vielzitierten Non-Government Organizations (NGO). Wenn ihre Schlagkraft vielleicht nicht ausreicht, um Probleme zu lösen, so können sie jedoch sehr viel dazu beitragen, das Bewusstsein für Probleme zu schaffen oder zwischen Lösungen auszuwählen.

Besser als je zuvor verfügen wir über technische und wissenschaftliche Möglichkeiten, um die Probleme zu beherrschen. Fast jedes Fachgebiet kann auf seine Art Beiträge leisten. Unser Fachgebiet, die Informatik, verfügt über immer kleinere und billigere Sensoren, um Daten zu erfassen. Immer leistungsfähiger sind die Rechner und die Algorithmen, mit deren Hilfe wir die Daten analysieren können. Durch Aktoren der verschiedensten Art können wir in das Geschehen eingreifen. Auch kann sie dabei helfen, nützliches Wissen auf vielen Gebieten schneller und kostengünstiger zu verbreiten.

Es ist falsch, in Lethargie und Hoffnungslosigkeit zu verfallen, sowohl angesichts der Zahl wie der Schwere der Probleme. Das Bewusstsein ist in grossen Teilen der Bevölkerung vorhanden. Viele der groessten Koryphäen und Talente haben sich der Sache verschrieben. Andererseits besteht kein Grund, überoptimistisch, ja euphorisch zu werden. Manche Dinge werden unheimlich viel Zeit kosten. Einige Probleme werden dadurch noch an Brisanz gewinnen. Die Probleme sind hart, aber zu lösen. Es bedarf allerdings enormer Ausdauer und organisierter Anstrengungen. Die Kosten werden uns astronomisch vorkommen. Die Lösungen fallen nicht vom Himmel. Menschen müssen und werden sich ihrer annehmen.

Fragen wir uns, was die Bilanz dieses Jahres war, so ist Nüchternheit und Bescheidenheit angesagt. Natürlich war Durban erfreulicher als Kopenhagen. Der Weg ist aber noch weit, bis die Menschheit an einem Strang zieht. Es besteht kein Grund, locker zu lassen.

Angeregt wurde dieser Beitrag durch die Lektüre des Buches "Im Dienst der Welt" von Kevin Maney, Steve Hamm und Jeffrey O'Brian, das von IBM Press und Pearson PLC im Jahre 2011 veröffentlicht wurde. Darin wird versucht, die 100-jährige Geschichte dieser Firma und ihre Ziele für die Zukunft unter einem verbindenden Motto zu sehen. IBM ist nicht die einzige Firma, die in dieser Weise über ihr Wirken reflektiert.

Allen Leserinnen und Lesern wünsche ich ein glückliches und friedvolles Jahr 2012. Besonders gefreut hat es mich, dass ich um die Jahreswende noch den 10.000. Seitenaufrufer ereicht habe. Er oder sie kamen vermutlich aus einem der folgenden Länder: Haiti, Griechenland, Bulgarien, Argentinien, der Russischen Föderation, den USA, Österreich, der Schweiz oder Deutschland.

Freitag, 23. Dezember 2011

Heidi Heilmann über Frauen in der Wirtschaft und die humanen Aspekte der Informatik

Heidi Heilmann leitete von 1986 bis 2000 die Abteilung Allgemeine Betriebswirtschaftslehre und Wirtschaftsinformatik am Betriebswirtschaftlichen Institut der Universität Stuttgart und baute das heute in Stuttgart deutlich breiter vertretene Fach Wirtschaftsinformatik ab 1986 auf. Von 1960 bis 1965 war sie bei der IBM Deutschland als Systemberaterin tätig. Anschließend wirkte sie bis 1980 als geschäftsführende  Gesellschafterin  der 1964 gegründeten Integrata AG, Tübingen, sowie nach ihrem Wechsel an die Hochschule bis 1998 als Aufsichtsratsmitglied dieser Gesellschaft. Im Jahre 1980 wurde sie Professorin im Fachbereich Wirtschaftsinformatik der FH Furtwangen. In der Gesellschaft für Informatik (GI) war sie Sprecherin verschiedener Fachausschüsse und von 1987 bis 1989 Mitglied des Präsidiums. Von 1982 bis 2006 war Heilmann Schriftleiterin der Zeitschrift HDM, Praxis der Wirtschaftsinformatik. Außerdem ist sie seit 2000 Herausgeberin einer praxisorientierten Schriftenreihe zur Wirtschaftsinformatik für den dpunkt Verlag, Heidelberg. Seit 2003 ist sie Fellow der GI. Heilmann hat in den 1950-er Jahren in Stuttgart und Tübingen Volkswirtschaft studiert und 1981 (nach der Geburt von vier Kindern und ohne Unterbrechung der vollen Berufstätigkeit) in Linz promoviert.


                                   
Bertal Dresen (BD): Ich weiß, dass ich Ihnen schwerlich das Etikett einer Feministin anhängen kann, dennoch interessiert mich Ihre Meinung zu dem nicht nur aktuell diskutierten Komplex Frauen in der Wirtschaft. Hatten Sie, beispielsweise bei Ihrem Berufsstart, spezifische Schwierigkeiten als Frau? Mit welchen Problemen und Benachteiligungen haben Frauen heute besonders zu kämpfen? Was raten Sie jungen Frauen in Bezug auf Berufswahl und Qualifizierung? Brauchen wir eine gesetzlich festgelegte Frauenquote?
Heidi Heilmann (HH): Der Reihe Ihrer Fragen nach: Ich könnte etliche Geschichten zu Anerkennungsproblemen als Frau aus meinen Anfangszeiten erzählen belassen wir es dabei, dass man (nur damals?) bei Anrufen bei einem Geschäftspartner prinzipiell zunächst als (natürlich nicht gesprächsberechtigte) Sekretärin eingestuft wurde! Ab einem gewissen Bekanntheitsgrad galt dann eher, dass man als kompetente Frau mehr auffiel und daraus Vorteile zog. Wie sehr sich das bis heute geändert hat, kann ich nach zehn Jahren im Ruhestand nicht mehr sicher einschätzen. Dass speziell im Informatik-Bereich inzwischen viel mehr Frauen als damals aktiv sind, wirkt sich sicher positiv aus.
Was ich rate? Den Beruf sehr ernst zu nehmen und einen zu wählen, den man gerne ausübt also nicht vorrangig den, der eine besonders hohe Verträglichkeit mit Familienpflichten verspricht, oder nur eine kurze Ausbildungszeit verlangt oder vorrangig ein sicheres Einkommen garantiert; was alles natürlich auch für junge Männer gilt! Heutzutage banal: lebenslang lernbereit und neugierig (!) bleiben, sich flexibel zeigen.
Bei der Frauenquote bin ich gespalten. Einerseits: Wer möchte schon eine Quotenfrau sein? Andererseits: Wenn es die faktische Gleichberechtigung schneller voran bringt, warum nicht? Vielleicht entsteht dadurch mehr Bewusstsein dafür, dass man auch unter Frauen nach fähigen Kandidaten für eine offene Position suchen könnte?
BD: Mit der Gründung der Firma Integrata gingen Sie früh den Weg in die berufliche  Selbständigkeit. Welche neuen Probleme und Belastungen brachte dies mit sich im Vergleich zu Ihrer vorausgegangenen Tätigkeit als Mitarbeiterin einer großen DV-Firma? Welche Erfahrungen möchten Sie an potenzielle Firmengründerinnen weitergeben?
HH: Dazu erzähle ich am besten eine kleine Geschichte. Als ich nach der Geburt unseres vierten Kindes 1965 meine IBM-Stelle kündigte, um nicht mehr nur abends und am Wochenende für die Integrata zu arbeiten, sondern dort voll in Beratung und Schulungstätigkeit einzusteigen, machte mein Mann mir diesen Wechsel u.a. mit dem Hinweis schmackhaft: Stell Dir vor, Du kannst an einem schönen Sommerwerktag Deine vier Kinder ins Auto packen und mit ihnen ins Schwimmbad fahren Du bist in Deiner Arbeitszeitgestaltung dann ja völlig frei. Um es kurz zu machen: Ich war kein einziges Mal werktags mit meinen Kindern im Schwimmbad, und jedes Kind hatte eine Phase, in der es jammernd an mir hing und nicht wollte, dass Mama zur Arbeit geht; wobei zu ergänzen ist: ich konnte teilweise zu Hause arbeiten, die Kinder bekamen von ihrer bei uns lebenden Großmutter immer liebevolle Zuwendung und die sonstigen Pflichten eines Sieben-Personen-Haushalts ließen sich mit  Personal lösen.
Heutige potenzielle Firmengründerinnen sollten unverändert neben dem richtigen Beruf (s.o.) und einem tragfähigen Geschäftsmodell vor allem ihre Arbeit lieben (eine 30-40-Stunden-Woche langweilig finden...), viel Selbstvertrauen und Durchhaltevermögen haben. 
BD: Bereits Anfang der 1980-er Jahre zog es Sie an die Hochschule. Gleichzeitig haben Sie neben Ihrer beruflichen Tätigkeit promoviert. Was motivierte Sie dazu, diesen für Sie neuen Berufsweg zu gehen?
HH: Einerseits der Wunsch, mit der Promotion durch die Geburten der Kinder Aufgeschobenes nachzuholen; dann: in der Lebensmitte nochmals etwas Neues zu beginnen; andererseits aber auch die Erkenntnis aus der in der Integrata sehr intensiven Seminartätigkeit, dass es Spass macht, anderen etwas verständlich zu erklären und Forschungsfragen nicht nur zu stellen, sondern auch zu lösen. Es gab auch einen direkten Anstoß: Die ersten Studierenden an der damals neuen Berufsakademie Stuttgart, die unwahrscheinlich motiviert und lernbegeistert waren!
BD: Sie leiteten am Betriebswirtschaftlichen Institut der Universität Stuttgart 14 Jahre die Abteilung ABWL und  Wirtschaftsinformatik - an einer überwiegend technisch ausgerichteten Hochschule mit stark nachgefragten Informatikstudiengängen. Wie sehen Sie heute die Rollenabgrenzung zwischen der (Kern-) Informatik und der Wirtschaftsinformatik? In welcher Hinsicht ist das Verhältnis noch verbesserungsfähig? Was kann die Gesellschaft für Informatik (GI) tun, um hier zusätzliche Brücken zu bauen?
HH: Auch hier der Reihe nach: Als ich meine erste Vorlesung in Stuttgart hielt, in einem Hörsaal im inzwischen längst abgebrochenen Backsteingebäude, in dem ich Jahrzehnte zuvor selbst studentische Zuhörerin gewesen war, fühlte sich das an wie nach Hause kommen. Ich habe den Studierenden damals sogar verraten, dass ich genau in diesem Hörsaal anfangs oft nur Bahnhof verstanden und vorübergehend ernsthafte Zweifel an meiner Studierfähigkeit hatte.
Zu den Kollegen aus der Stuttgarter Informatik bestand nach anfänglichem vorsichtigen Beschnuppern  ein sehr gutes Verhältnis. Es gab wechselseitigen Austausch: Studierende der BWL konnten Informatik als technisches Wahlfach wählen, umgekehrt Studierende der Informatik BWL; und letztere fanden es für die spätere Berufstätigkeit nützlich, im Hauptstudium die spezielle BWL namens  Wirtschaftsinformatik zu wählen. Die Zusammensetzung meiner Studierenden aus Informatikern und Betriebswirten empfand ich immer als sehr fruchtbar, wurden doch die  verschiedenen Motivationen für die Berufswahl dadurch erkennbar und die spätere Zusammenarbeit der Absolventen in der Praxis erleichtert. Beispielhaft: Bei Examensvorbesprechungen versuchte ich immer den Informatikern klarzumachen, dass sie mir mehr als nur Stichworte liefern müssten und den Betriebswirten, dass die mehrfache Wiederholung desselben Arguments absolut nichts am Ergebnis ändern würde.
Insgesamt hat sich das Verhältnis zwischen der Informatik und der Wirtschaftsinformatik in hohem Maße normalisiert, der noch in den 80-er Jahren seitens der Informatik benutzte Begriff der Bindestrich-Informatik wurde obsolet. Die Gesellschaft für Informatik hat meiner Einschätzung nach dazu auch einen wichtigen Beitrag geleistet. 
BD: Sie sind heute unter anderem im Fachbeirat der Integrata-Stiftung tätig. Außerdem haben Sie im Jahre 2010 ein Buch herausgegeben, das die humanen Aspekte der Informatik thematisiert. Was bewog Sie zu dieser Veröffentlichung? Was konnte die Integrata-Stiftung auf diesem Gebiet bisher bewirken? Was können wir Informatiker tun, damit die humanen Aspekte stärker wahrgenommen und gewürdigt werden?
HH: Aufgrund meiner Verbundenheit zur Stiftung seit ihrer Gründung und meiner beruflichen Erfahrungen lag es nahe, diesen Beitrag zum Anliegen der Stiftung zu leisten. Der Band Humane Nutzung der IT bringt die Intentionen der Integrata-Stiftung für humane Nutzung der Informationstechnologie zum Ausdruck: Computer nicht vorrangig zur Kostenreduktion und Gewinnerzielung einzusetzen, sondern zur umfassenden Verbesserung der menschlichen Lebensqualität. Die Beiträge behandeln zum einen übergreifende Fragen der humanen Nutzung, zum anderen beschreiben sie praktische Beispiele aus dem Kreis der Integrata-Preisträger.
Die sichtbare Wirkung einer finanziell relativ beschränkten Stiftung ist naturgemäß begrenzt und macht sich erst nach und nach bemerkbar. Was getan werden kann: Das Bewusstsein für humane Aspekte bei allen Beteiligten schärfen, Informatiker in diesem Bereich aus- und weiterbilden (wohlgemerkt: Über die reine Ergonomie an der Benutzungsschnittstelle hinaus) und in der Praxis vermutlich entscheidend?- ihnen genügend Zeit zur Berücksichtigung humaner Aspekte in den einzelnen Phasen der Systementwicklung einzuräumen.
BD: Als Kollege Gunzenhäuser und ich im letzten Jahr ein Buch Schuld sind die Computer! publizierten, konnten wir uns über Ihre sehr umfangreichen und wertvollen Kommentare zum Manuskript freuen. Wie ich einem Interview entnehme, das Sie im Jahre 2007 Bernd Oestereich gaben, gibt es noch viele weitere Autoren von wissenschaftlichen Buch- und Zeitschriftenbeiträgen, die diese Form Ihrer Hilfe genießen durften. Welche wichtigen Erfahrungen haben Sie als Schriftleiterin von namhaften Zeitschriften oder Gutachterin von wissenschaftlichen Beiträgen gemacht? Welche generellen Fehler machen die Autoren am häufigsten?
HH: Vordergründig fällt am meisten auf, dass Beiträge abgegeben werden, die gar nicht sorgfältig durchgesehen sein können, so viele Fehler unterschiedlichster Provenienz entdeckt man als Gutachter darin. Vorgaben zur Beitragslänge werden häufig überschritten, die Struktur der Beiträge und eine ausgewogene Behandlung von Teilthemen lässt zuweilen zu wünschen übrig.
Die in meiner aktiven Hochschulzeit Studierenden empfohlene  Vorgehensweise wird allem Anschein nach nicht immer eingehalten, obwohl sie naheliegt und auch dem Autor Vorteile bringt. Wenn davon auszugehen ist, dass der geplante (Buch- oder Zeitschriften-)Beitrag Interesse findet und der Autor über die dazu nötige Kompetenz verfügt, sind die weiteren Regeln einfach:
  1.  Identifizieren Sie Ihre Zielgruppe, verzichten Sie dabei auf Rundumschläge (Reine Anfänger bis Top-Experten").
  2. Sammeln Sie Ideen; beruhen diese auf Quellen, halten Sie deren Herkunft vom ersten Moment an eindeutig fest (Kurzbezeichnung und parallele Aufnahme in ein vorläufiges Quellenverzeichnis).
  3. Bewerten und ordnen Sie Ihre Ideen, entwickeln Sie daraus die Struktur (Grobgliederung) Ihres Beitrags.
  4. Vergeben Sie Gewichte: Wie intensiv müssen welche Gliederungspunkte zum Nutzen der Zielgruppe behandelt werden?
  5.  Rechnen Sie ausgehend vom verfügbaren Gesamtplatz aus, wie viel davon die einzelnen Gliederungspunkte beanspruchen können, welche Ideen ggfs. nur angedeutet werden können oder sogar gestrichen werden müssen.
  6. Erst dann beginnen Sie mit dem Ausformulieren! Verwenden Sie dabei eine zielgruppen-gerechte Sprache.
  7. Sehen Sie Ihr Opus mit hinreichendem zeitlichen Abstand mehrmals sorgfältig auf Verbesserungsmöglichkeiten und Fehler durch.
Für umfangreichere Werke und insbesondere bei mehreren beteiligten Autoren empfiehlt sich darüber hinaus von allem Anfang an die Erstellung eines Glossars der verwendeten Terminologie; dieses Glossar stellt unabhängig davon, ob es später mit abgedruckt wird oder nicht, sicher, dass durch das gesamte Werk und zwischen verschiedenen Autoren keine Begriffswechsel stattfinden, die spätere Leser ohne profunde Vorkenntnisse verwirren könnten.
BD: Anfang Dezember letztes Jahr schickten Sie mir ein Foto Ihrer derzeitigen Residenz am Bodensee, vom ersten Schnee wie eingepudert. Welche Erfahrungen machen Sie dort bezüglich des Lebens im Kreise anderer Senioren? Wie weit können auch neue Errungenschaften der Informatik (Internet-Dienste, Smartphones und dgl.) unseren Altersgenossen das Leben erleichtern oder verschönern? Erfordert deren Nutzung ein nennenswertes Beratungspotenzial?
HH: Ich habe die Entscheidung für meinen Alterssitz bereits sehr früh, neun Jahre vor dem geplanten und realisierten Umzug, getroffen. Die Gründe sind einfach: Selbst entscheiden können, wo ich meine letzten Lebensjahre verbringe; meinen Kindern nicht zur Last fallen; umziehen, so lange ich die damit verbundenen Arbeiten noch gut bewältigen und mich einleben kann.
Bereut habe ich diese Entscheidung noch nie, weder hinsichtlich der Ortswahl (die Bodenseegegend ist sehr ansprechend!) noch des Zeitpunkts vor nunmehr vier Jahren. Der Vorteil einer rechtzeitigen Veränderung ist, dass man sich in Ruhe umgewöhnen, neue Bekanntschaften und Freundschaften schließen und die Sicherheit und Bequemlichkeit  einer Seniorenresidenz richtig genießen kann.
Informatik zu nutzen ist dabei selbstverständlich möglich: es gibt DSL-Anschlüsse in der eigenen Wohnung, für die Bewohnerbelange ist ein separater zentraler Server vorhanden, Hilfestellung wird angeboten. Eher skeptisch beobachte ich allerdings die Nutzung erst ab höherem Lebensalter; diese verlangt sehr viel Eingewöhnungszeit und Bereitschaft zum Tüfteln, immer wieder Ausprobieren. Das liegt zu einem erheblichen Teil an der historisch gewachsenen Komplexität der heutigen Software und ihres Zusammenspiels Neuerungen wurden immer auf Altes draufgesetzt und auch IT-Experten verlassen sich viel mehr auf 'Trial and Error' denn auf die theoretisch mögliche eindeutige Klärung unerwarteten IT-Verhaltens. Das verwirrt den betagten Anfänger, liest und hört der doch ständig, Computer arbeiteten streng logisch und exakt.
Aber diese Probleme lösen sich im Zeitablauf: Mit dem Älterwerden der 'digital natives' einerseits und mit einer Entwicklung zu mehr Humanisierung andererseits!
BD: Frau Heilmann, vielen Dank für das interessante und ausführliche Interview.

Donnerstag, 22. Dezember 2011

Die deutsche Hochschul-Informatik und ihre Geschichten

In Deutschland arbeiten laut Angaben der Bundesregierung etwa 800.000 Menschen in der Informations- und Kommunikationstechnik. Sie ist neben dem Automobilbau eine unserer größeren Branchen. Die Landwirtschaft, die früher einmal die grosse Masse unseres Volkes beschäftigte, verfügt noch über weniger als 500.000 Arbeitsplätze. Von der fast eine Million Menschen, die heute in informatiknahen Tätigkeiten ihr Brot verdienen, haben allerdings nur etwa 10% eine Ausbildung als Informatiker oder Informatikerin genossen. Es ist verwunderlich, ja verdrießlich, dass diese Elite versucht, die Geschichten über das Fachgebiet so zu erzählen, wie man sie gerne von den Massen geglaubt haben möchte. Viele historische Mythen sind so entstanden, etwa die Gründungsgeschichte der Stadt Rom oder der Ursprung des Geschlechts der Inca-Könige. Die Ahnen wurden teils zu Heroen, teils zu Göttern.

Ganz in diese Richtung geht, was Stefan Jaehnichen und Oliver Günther, der alte und neue Präsident der GI, am 19. 12. diesen Jahres in einer Präsidiumskolumne zum Stand der Informatik verkünden. Dort heisst es wörtlich:

Die wissenschaftliche Basis an den Hochschulen sorgt für die weltweite Anerkennung der deutschen Informatik, fördert Innovation und Fortschritt und trägt damit direkt zum Wohlstand unseres Landes bei.

Hier werden die Tatsachen ganz kräftig verbogen. Alle drei Aussagen stossen bei mir auf inneren Widerstand. Vielleicht leben noch ein paar Kollegen, denen es so wie mir ergeht.

Dass die deutsche Hochschulinformatik in der Welt etwas Besonderes ist, bescheinigen sich die Betroffenen immer wieder selbst. Nur bleiben sie den Nachweis meistens schuldig. Natürlich gibt es einige positive Beispiele. Offiziell anerkannt wurde von der internationalen akademischen Fachwelt allerdings nur ein deutschsprachiger Kollege. Der ist dummerweise Schweizer, nämlich Niklaus Wirth. Er gilt als Erfinder mehrerer Programmiersprachen, die praktisch bedeutend wurden. Für jemanden, der nicht wissen sollte, was ich mit Anerkennung meine, füge ich hinzu: Es handelt sich um die Verleihung des Turing-Awards der ACM, des inoffiziellen Nobelpreises der Informatik. Für eine ziemlich praktische Erfindung aus dem Jahre 1953 erhielt dagegen Friedrich L. Bauer eine internationale Auszeichnung, den IEEE Pioneer Award. Geehrt wurde Bauer für die Erfindung des Kellerprinzips. Selbst das bei uns mehr als irgendwo in der Welt mit Fördermitteln ausgestattete Teilgebiet der Künstlichen Intelligenz (KI) hat derartige Erfindungen oder Anerkennungen nicht aufzuweisen.

Was Innovation und Fortschritt anbetrifft, ist es geradezu pervers, diese primär bei den Hochschulen zu verorten. Zwar muss das Internet immer wieder als Vorzeigebeispiel herhalten, aber E-Mails schrieben ich und meine damaligen Firmenkollegen schon lange vor seiner Einführung. Auch tauschten wir Programme, Zeichnungen und Fotos aus.

Schliesslich ist es eine Frage des gesunden Menschenverstands, dass man die Vorstellung zurecht rücken muss, wir verdankten unseren Wohlstand den Hochschulen. Da die Informatik von Praktikern wie Gates, Jobs und Plattner vorangetrieben wurde, können wir uns das Hochschulfach leisten. Es wurde von der Industrie gefordert und gefördert. Das Fachgebiet Informatik mit Hochschul-Informatik gleichzusetzen, ist nicht nur eine gravierende Einschränkung, es ist auch eine Beleidigung. Die Firmen Apple, Google, IBM, Oracle, usw. treiben die Informatik voran und nicht nur deren Anwendungen.

Es stört mich ziemlich, dass die Spitzen der (akademischen) Informatik in Deutschland ein Bild von der Informatik haben, das ich als viel zu eng ansehe. Zur Informatik gehören nach meinem Dafürhalten z.B. alle  Gerätetechniken zur Erfassung, Speicherung und Wiedergabe von Information in Form von Texten, Bildern, Zeichnungen, Geräuschen und Bewegungen. Dazu dienen Prozessoren, Speicher, Bildschirme, Uebertragungsgeraete, Sensoren und Aktoren. Informatik umfasst vor allem auch Software. Die Informatik ist jedoch nicht darauf beschränkt. Besonders typisch sind die vier Kategorien Systemsoftware, Analyse- und Entwicklungswerkzeuge, betriebliche und technische Anwendungen und  eingebettete Systeme. Es gibt viele andere Kategorien, die man dazu rechnen kann oder auch nicht. Das verbreitetste Beispiel sind die Computerspiele.

Es wird in dem Artikel der Eindruck vermittelt, als erfolge die Wertschöpfung bei uns primär in den Anwendungen. Es ist zwar richtig, dass wir Informatiker dem Automobilbau, der Chemie, dem Einzelhandel, Unterhaltung und Verkehr dabei helfen, ihr hervorragendes  Leistungsangebot zu verbessern. Was Informatik-Produkte betrifft, wird leider in Deutschland recht wenig entwickelt. Sie deshalb von der Informatik auszuklammern, ist hanebüchen. Deutsche Informatiker helfen immerhin dabei, Informatik-Angebote aller Art zu verkaufen, zu verteilen und zu warten. Auch bilden sie Nutzer aus.  Produkte werden primär von Firmen aus Korea, Finnland, Japan und  USA entworfen und geplant. Gefertigt werden sie in China, Malaysia, Taiwan und Singapur. Deutschland spielt nur in Teilmärkten eine Rolle, so bei ERP-Software. SAP ist einer der größeren Arbeitgeber Baden-Württembergs.
             
Noch einmal will ich den Text der Präsidenten zitieren. 

Um die Informatik vor dem Hintergrund der beschriebenen Entwicklungen nicht weiter „unsichtbar“ werden zu lassen,  müssen wir in den Hochschulen wie in der betrieblichen Praxis darauf achten, die Standards unserer Informatikaus- und Weiterbildung hoch zu halten. Wir brauchen mehr junge Frauen und Männer, die Informatik und ihre Anwendungen studieren, wir brauchen Ingenieure mit ausgeprägten Kompetenzen in den technischen Aspekten der Informatik, und wir brauchen anwendungsorientierte Informatiker ... Die Wirtschaft ist auf diese Expertise angewiesen, wird allerdings ihre Wertschöpfung leicht in andere Länder verlagern, wenn wir diese Qualifikationen nicht bieten können.

Einiges davon klingt gut. Skeptisch werde ich, wenn hohe Standards für das Studium gefordert werden. Heisst dies ein extra langes Studium? Also den Master für alle. Ich hoffe nicht. Informatiker sollten in erster Linie Informatik beherrschen, und zwar die ganze Informatik, und diese erheblich besser als ein Anwender. Der Anwender muss ohnehin seine Anwendungen kennen. Es reicht auch nicht, wenn Informatiker sich auf Software allein beschränken oder gar auf KI. Sortieren und Suchen sind keine Anwendungen. Ebenso Komprimieren, Transformieren und Sichern. Das sind Grundtechniken der Informatik. Die Liste lässt sich beliebig verlängern. Aber warum muss ich das einem gewesenen und zukünftigen GI-Präsidenten eigentlich erzählen?            

Die GI muss sich in Acht nehmen, dass sie nicht zu einer Vertretung von weltabgerückten Universitätsprofessoren verkommt. Dann wäre nicht nur ihr zahlenmäßiges Wachstum begrenzt, auch die Rolle, die sie in der Gesellschaft spielen kann, wäre eine andere. Man müsste dann eine andere fachliche Heimat für Informatik-Praktiker suchen.

Mittwoch, 21. Dezember 2011

Peter Mertens über Wirtschaftsinformatik, Gesellschafts- und Industrie-Politik

Peter Mertens war von 1970 bis 2005 Inhaber des Lehrstuhls für Betriebswirtschaftslehre, insbesondere Wirtschaftsinformatik an der Universität Erlangen-Nürnberg. Davor war er an der TU München, der Universität Linz und am MIT tätig. Mertens gilt als einer der Begründer der Wirtschaftsinformatik in Deutschland. Er war elf Jahre Hauptherausgeber der Zeitschrift WIRTSCHAFTSINFORMATIK. Mertens ist Autor von 23 Monografien, die er allein oder als federführender Koautor verfasst hat, und Herausgeber zahlreicher Sammelwerke. Der Band 1 seiner Monographie Integrierte Informationsverarbeitung wird demnächst in 18. Auflage erscheinen. Bücher von ihm sind ins Englische, Chinesische, Italienische und Russische übersetzt worden. Weiterhin hat er über 230 Zeitschriftenartikel und mehr als 250 Beiträge zu Sammelwerken verfasst. Mertens ist Fellow der Gesellschaft für Informatik, Ehrenmitglied des Verbandes der Hochschullehrer für Betriebswirtschaft und Ehrendoktor von fünf Universitäten in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Mertens hatte an der TH Darmstadt Wirtschaftsingenieurwesen studiert und dort promoviert. Habilitiert hatte er sich an der TU München.

 


Bertal Dresen (BD): Ihr wissenschaftliches Werk hat einen derartigen Umfang, dass ich fast nicht weiß, wo ich anfangen soll. Ich möchte daher auch nicht einzelne fachliche Detailfragen behandeln, sondern eher einige Grundsatzfragen anschneiden. Es sind dies Fragen, von denen ich weiß beziehungsweise vermute, dass Sie sich damit immer wieder beschäftigt haben. Beginnen wir mit den übergeordneten Zielen der Wirtschaftsinformatik. Seit einem Gespräch mit Ihnen vor Jahren klingen mir zwei Begriffe im Ohr, Integration und Vollautomation. Ist es richtig anzunehmen, dass Fortschritt auf Ihrem Fachgebiet vor allem darin besteht, möglichst alle Funktionen und Prozesse eines Unternehmens miteinander zu verknüpfen und den Menschen überflüssig zu machen? Welche Vorteile bringt dies? Erhöht sich dadurch nicht das Risiko, dass wenn etwas schief geht, gleich der ganze Betrieb stillsteht? Gibt es nicht auch Gründe, die dafür sprechen, den Menschen nicht zum rein passiven Beobachter des Geschehens zu degradieren?

Peter Mertens (PM): Ich hatte vorgeschlagen, die sinnhafte Vollautomation als  Langfristziel der Wirtschaftsinformatik im Sinn einer Konkreten Utopie zu wählen. Als Konkrete Utopie sieht die Gesellschaftsforschung ein Ziel, dem man tastend und experimentierend entgegen strebt, wohl wissend, dass man es wohl nie  erreichen kann. So wie Ärzte den völlig krankheits- und beschwerdefreien Menschen als eine Art Richtschnur nehmen. Sinnhaft meint, dass IT-Systeme im Betrieb alle jene Aufgaben übernehmen, die sie mindestens gleich gut wie ein Mensch erledigen können. Man würde so ständig steigende Produktivität erreichen, auf die es vor allem in Deutschland mit seinen extremen demographischen Problemen ankommt.

BD: Dank des Fortschritts der Technik dringen die Anwendungen der Informatik in immer neue Lebensbereiche vor. Ein IT-Leiter hat sich neulich dahingehend geäußert, dass er keine langfristige Planung mehr macht, sondern nur noch im Nachhinein periodisch feststellt, welche Geräte und Anwendungen seine internen Kunden inzwischen benutzen, und sich dann überlegt, wie er sie am besten unterstützen kann. Müssen Informatiker (oder IT-Fachleute) überhaupt noch überlegen, welche Anwendungen nützlich und wichtig sind?

PM: Einerseits werden extern, vor allem von Kunden, angestoßene Innovationen generell immer wichtiger, und der Anstoß wird durch IT-Systeme  leichter. Das gilt auch speziell für die Informationsverarbeitung. Denken Sie z.B. daran, wie viele Verbesserungsvorschläge die Bahnkunden für die Mensch-Maschine-Dialoge an den früher unsäglichen Fahrkartenautomaten der Bahn vorbrachten. Inzwischen wird es besser, aber immer noch liegen diese Geräte weit hinter dem Stand der Kunst zurück. Hier sind die Kunden offenbar besser als die leitenden Kräfte in der IT-Abteilung dieses Großkonzerns. Andererseits wissen wir, wie viele gute Pioniersysteme wir der Kreativität und der Fachkompetenz von Führungskräften der betrieblichen IT verdanken.

BD: Wir haben uns vor einiger Zeit darüber ausgetauscht, wie wir beide die Rolle von Wissenschaft und Praxis sehen. Ich habe damals meine Idealvorstellung als eine Iterationsschleife skizziert: (P = Praxis, W = Wissenschaft):



Natürlich beobachtet und konzipiert die Praxis auch. Bei diesen Tätigkeiten ist die Zusammenarbeit von Praxis und Wissenschaft sehr von Nutzen. Ergänzend schrieb ich damals: Das Beobachten dessen, was in der Praxis geschieht (und darüber zu reflektieren), ist die primäre Aufgabe der Wissenschaft. Um das Beobachtete zu verstehen und zu erklären, ist Theoriebildung unabdingbar. Darauf basierend können Verbesserungen vorgeschlagen werden. Sie haben damals nicht ausführlich auf meine Ideen reagiert. Vielleicht gefiel es Ihnen nicht, dass ich die Praxis an den Anfang der Schleife stellte. Kann ich Sie dazu bewegen, mir jetzt einige Kommentare zu geben?

PM:  Grundsätzlich sehe ich das wie Sie. Jedoch dürfen wir nicht verallgemeinern, was die erste Einfahrt in den  Kreisverkehr angeht. Viele Anstöße kommen aus der Wissenschaft, andere aus der Praxis. ARIS kam aus der Wissenschaft, die DATEV oder SAP aus der Praxis, wobei die Wissenschaft dann etliches zur Weiterentwicklung beitrug. Einiges hängt aber davon ab, wen man als Wissenschaftler, wen als Praktiker ansieht. War Archimedes Wissenschaftler, der über die Mechanik und Mathematik des Hebels nachdachte, oder Konstrukteur von Kriegsmaschinen, wobei die Hebelgesetze als Nebenprodukt abfielen? Ist Plattner mit seinen sehr bemerkenswerten Arbeiten zum In-memory-computing und deren betrieblicher Nutzung ein Wissenschaftler an der Universität Potsdam oder  Aufsichtsratsvorsitzender der SAP AG?

BD: Wie ich weiß, haben Sie sich auch Gedanken darüber gemacht, wie man die wissenschaftliche Leistung und den wissenschaftlichen Fortschritt auf einem Gebiet wie der Wirtschaftsinformatik bewerten kann. Zählt nur die Anzahl von Veröffentlichungen, unabhängig von deren Niveau und in welchem Medium sie erschienen? Zählen nur die englischsprachigen Veröffentlichungen? Ist es eher die Zahl der Promotionen oder Habilitationen? Welche Rolle spielen Erfindungen und Patente für die Wissenschaft?

PM: Nein, die gegenwärtigen Usancen, Wissenschaftler und ihre Institutionen sehr bevorzugt oder gar ausschließlich mit bibliometrischen Methoden zu bewerten, halte ich für eine sehr unglückliche Entwicklung. Dort, wo ich z. B. Vergleichsgutachten zu erstellen habe, richte ich mich nicht danach, sondern versuche eine ganzheitliche Sicht auf die Wissenschaftlerpersönlichkeit und benutze dazu eine aus zehn Kriterien bestehende Liste, die ich nach dem Vorbild der Leichtathletik den Zehnkampf nenne. Sie enthält auch von Ihnen angesprochene Kriterien, z. B. dort, wo es in Frage kommt, auch Patente. Es wäre übrigens der Tod des Zehnkampfs, wenn das Olympische Komitee z. B. dem Stabhochsprung als zugegeben schwierige Disziplin 90% aller Wertungspunkte geben würde oder beim Eiskunstlauf dem dreifachen Axel 80%.

BD: Das Thema der staatlichen Industriepolitik war immer Gegenstand kontroverser Diskussionen. Schon die DV-Programme der Bundesregierung in den 1960er Jahren verfolgten den Zweck, der nationalen Industrie Vorteile zu verschaffen gegenüber der internationalen Konkurrenz. Manchmal wurde das Geld nicht direkt an die Industrie gegeben, sondern an Hochschulen für grundlegende oder begleitende Forschung. Im letzteren Falle kam es nicht selten zu Interessenkonflikten. Wie sehen Sie die Erfolgsbilanz der staatlichen Industriepolitik sei es auf der Ebene der Länder, des Bundes oder Europas? Würden nicht    Steuervergünstigungen oder staatliche Beschaffungsprogramme ausreichen? Sollte der Staat nicht ein Klima für Startups schaffen, da diese primär neue Märkte erschließen?

PM: Ich sah mit Freude, wie meine Vorstellungen im bayerischen FLÜGGE-Programm  (Flexibler Übergang in eine Gründer-Existenz)  verwirklicht wurden, und durfte lange im Auswahlausschuss mitwirken. Junge Akademiker, die eine technische- und/oder betriebswirtschaftliche Idee z. B. aus ihrer Diplom- oder Doktorarbeit in einem eigenen Unternehmen verwirklichen wollen, bekommen für eine gewisse Zeit vom Staat eine Stelle finanziert. Sie arbeiten zur Hälfte in der Universität, wo sie z. B. nachts die Laborgeräte nutzen dürfen, und helfen bei der Ausbildung der Studierenden, etwa indem sie Studienarbeiten oder Praktika betreuen. Zur anderen Hälfte gründen sie ihr Unternehmen. Dergleichen halte ich für sinnvoll. Ähnliches gilt für Lehrinnovationen. So hatte ich als Mitglied der Senatskommission für Rechenanlagen der Deutschen Forschungsgemeinschaft mit Begeisterung die Initiative zur Einführung der ersten CIP-Räume (Computer-Investitionsprogramm) in den Hochschulen begleitet. Bei Forschungsarbeiten in marktnahen Bereichen müssen die Staatsvertreter den Einfluss mächtiger Lobbyisten mit guten Beziehungen sehr sorgfältig beobachten und hinterfragen, um Wettbewerbsverzerrungen vorzubeugen. Noch diffiziler und m. E. bisher unterschätzt ist das Problem, welche Forschungsergebnisse in welchem Stadium international veröffentlicht werden sollen. Die sog. Targeting-Offensive der Volksrepublik China, mit der sehr gezielt solche Resultate auf ca. 50 ausgewählten Feldern gesammelt werden, wird in ihrer volkswirtschaftlichen Bedeutung unterschätzt. In Sachen EU-Subventionen war ich schon immer ähnlich skeptisch wie gegenüber der Währungsunion (nicht gegenüber dem Gemeinsamen Markt!).

BD: In Ihrem Beitrag in der Zeitschrift WIRTSCHAFTSINFORMATIK (Heft 3/2007) haben Sie das deutsche wohlfahrtsstaatliche System kritisiert und auf die folgenden Gefahren hingewiesen:

1. Die Gewinner und Verlierer der Umverteilung werden immer weniger erkennbar.
2. Wegen 1. können politische Eingriffe nicht genügend treffsicher erfolgen.
3. Die Fehlallokationen gemäß 2. verändern die Leistungs- und Sparanreize zu Lasten der Effizienz des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Systems und damit auch der internationalen Wettbewerbsfähigkeit sowie des Lebensstandards im weitesten Sinn.

Was kann die Politik tun, um diese Gefahren zu bannen? Gibt es in der heutigen Konstellation von Parteien und Interessengruppen noch Hoffnung, dass etwas geschieht?

PM: Aus Sicht der Wirtschaftsinformatik plädiere ich dafür, dass man die in zahlreichen Dateien der öffentlichen Verwaltung vorliegenden Daten über die Bürgerinnen und Bürger (u. a. Zahlung von Zwangsabgaben wie Steuern, Sozialabgaben oder die neue Fernsehsteuer, erhaltene Subventionen, wie etwa solche zur ökologischen Haussanierung oder zur Kurzarbeit, anteilige Vollkosten der in Anspruch genommenen öffentlichen Dienste wie eines Hochschulstudiums, gesetzliche Gesundheitsversicherung und Kosten von Therapien, aber auch das monetäre Äquivalent von ehrenamtlichen Leistungen) zu einem Konto, dem Integrierten Bürgerkonto, zusammenführt. Nach meiner Schätzung müsste das in absehbarer Zukunft weit gehend automatisch gelingen, zumal die vielen Personennummern wie die lebenslange Steuernummer, die Nummer auf der elektronischen Gesundheitskarte oder die Sozialversicherungsnummer informationstechnisch dies sehr erleichtern werden. Natürlich müssen wir über den angemessenen Datenschutz nachdenken und dazu profundes Informatik-Wissen einbringen.

Wenn uns  mittel- und langfristig ein gutes System gelänge - und Vorbilder wie etwa die Gesundheitssparkonten in Singapur oder in chinesischen Großstädten ermutigen -, würde das für die im Wohlfahrtsstaat bisher vermisste Transparenz sorgen und zahlreiche Vorteile bringen, z. B. was die Anreize angeht, sich für die Gesellschaft zu engagieren.

BD: Eine persönliche Frage zum Schluss. Sie sind seit sechs Jahren emeritiert, d.h. im Ruhestand. Neulich schrieben Sie mir, dass Sie immer noch als Erster morgens an Ihrem alten Arbeitsplatz sind. Darf ich daraus schließen, dass Sie Anhänger einer flexiblen Ruhestandsregelung sind und dass Sie wie ich auch    glauben, dass Beschäftigung die beste Medizin ist? Dass ohne uns, Deutschland nicht zu retten ist, glauben wir doch beide nicht.

PM: Ich fahre deshalb früh in die Universität, damit ich nicht im Berufsverkehr lande und wertvolle Millisekunden im Stau verliere. Vielleicht ist es aber auch die berühmte präsenile Bettflucht ;-). Aber im Ernst: Ich musste erleben, wie einer größeren Anzahl sehr tüchtiger Kolleginnen und Kollegen durch Wissenschaftsminister in Deutschland die Weiterarbeit im Lehrkörper verweigert wurde, obwohl man der Altersdiskriminierung (eine der wenigen Diskriminierungen, die das Recht in Deutschland und Europa noch erlaubt) skeptisch begegnen müsste. Das Dickicht aus Allgemeinem Gleichbehandlungsgesetz, aus TV-L, aus dem europäischen Verbot der Altersdiskriminierung sowie aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs und des Bundesarbeitsgerichts vermag ich nicht zu durchdringen. Was spricht dagegen, gerade jetzt, wo es wegen der starken Abiturientenjahrgänge einige Jahre lang gilt, den Spitzenbedarf flexibel abzudecken, wie in den USA die Bellheims zur reaktivieren? Das inzwischen sehr vorteilhaft entwickelte System der Evaluation des Lehrkörpers durch die studentischen Kundinnen und Kunden dürfte wohl gewährleisten, dass die Tüdeligen rechtzeitig verabschiedet werden.

Dass die Arbeit die Gesundheit mehr als der Müßiggang fördert, glaube ich bis auf Weiteres  noch, obwohl oder weil mir meine Klassenkameraden auf dem Gymnasium vorhersagten, ich würde schon mit 30 einen Herzinfarkt bekommen.

BD: Herr Mertens, vielen Dank für das zum Nachdenken anregende Interview. Möge Ihnen - ob als Bellheim oder anders - ein langes Wirken vergönnt sein.