Peter Mertens war von 1970 bis 2005 Inhaber des Lehrstuhls für Betriebswirtschaftslehre, insbesondere Wirtschaftsinformatik an der Universität Erlangen-Nürnberg. Davor war er an der TU München, der Universität Linz und am MIT tätig. Mertens gilt als einer der Begründer der Wirtschaftsinformatik in Deutschland. Er war elf Jahre Hauptherausgeber der Zeitschrift WIRTSCHAFTSINFORMATIK. Mertens ist Autor von 23 Monografien, die er allein oder als federführender Koautor verfasst hat, und Herausgeber zahlreicher Sammelwerke. Der Band 1 seiner Monographie ‚Integrierte Informationsverarbeitung‘ wird demnächst in 18. Auflage erscheinen. Bücher von ihm sind ins Englische, Chinesische, Italienische und Russische übersetzt worden. Weiterhin hat er über 230 Zeitschriftenartikel und mehr als 250 Beiträge zu Sammelwerken verfasst. Mertens ist Fellow der Gesellschaft für Informatik, Ehrenmitglied des Verbandes der Hochschullehrer für Betriebswirtschaft und Ehrendoktor von fünf Universitäten in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Mertens hatte an der TH Darmstadt Wirtschaftsingenieurwesen studiert und dort promoviert. Habilitiert hatte er sich an der TU München.
Bertal Dresen (BD): Ihr wissenschaftliches Werk hat einen derartigen Umfang, dass ich fast nicht weiß, wo ich anfangen soll. Ich möchte daher auch nicht einzelne fachliche Detailfragen behandeln, sondern eher einige Grundsatzfragen anschneiden. Es sind dies Fragen, von denen ich weiß beziehungsweise vermute, dass Sie sich damit immer wieder beschäftigt haben. Beginnen wir mit den übergeordneten Zielen der Wirtschaftsinformatik. Seit einem Gespräch mit Ihnen vor Jahren klingen mir zwei Begriffe im Ohr, Integration und Vollautomation. Ist es richtig anzunehmen, dass Fortschritt auf Ihrem Fachgebiet vor allem darin besteht, möglichst alle Funktionen und Prozesse eines Unternehmens miteinander zu verknüpfen und den Menschen überflüssig zu machen? Welche Vorteile bringt dies? Erhöht sich dadurch nicht das Risiko, dass wenn etwas schief geht, gleich der ganze Betrieb stillsteht? Gibt es nicht auch Gründe, die dafür sprechen, den Menschen nicht zum rein passiven Beobachter des Geschehens zu degradieren?
Peter Mertens (PM): Ich hatte vorgeschlagen, die „sinnhafte Vollautomation“ als Langfristziel der Wirtschaftsinformatik im Sinn einer „Konkreten Utopie“ zu wählen. Als Konkrete Utopie sieht die Gesellschaftsforschung ein Ziel, dem man tastend und experimentierend entgegen strebt, wohl wissend, dass man es wohl nie erreichen kann. So wie Ärzte den völlig krankheits- und beschwerdefreien Menschen als eine Art Richtschnur nehmen. „Sinnhaft“ meint, dass IT-Systeme im Betrieb alle jene Aufgaben übernehmen, die sie mindestens gleich gut wie ein Mensch erledigen können. Man würde so ständig steigende Produktivität erreichen, auf die es vor allem in Deutschland mit seinen extremen demographischen Problemen ankommt.
BD: Dank des Fortschritts der Technik dringen die Anwendungen der Informatik in immer neue Lebensbereiche vor. Ein IT-Leiter hat sich neulich dahingehend geäußert, dass er keine langfristige Planung mehr macht, sondern nur noch im Nachhinein periodisch feststellt, welche Geräte und Anwendungen seine internen Kunden inzwischen benutzen, und sich dann überlegt, wie er sie am besten unterstützen kann. Müssen Informatiker (oder IT-Fachleute) überhaupt noch überlegen, welche Anwendungen nützlich und wichtig sind?
PM: Einerseits werden extern, vor allem von Kunden, angestoßene Innovationen generell immer wichtiger, und der Anstoß wird durch IT-Systeme leichter. Das gilt auch speziell für die Informationsverarbeitung. Denken Sie z.B. daran, wie viele Verbesserungsvorschläge die Bahnkunden für die Mensch-Maschine-Dialoge an den früher unsäglichen Fahrkartenautomaten der Bahn vorbrachten. Inzwischen wird es besser, aber immer noch liegen diese Geräte weit hinter dem Stand der Kunst zurück. Hier sind die Kunden offenbar besser als die leitenden Kräfte in der IT-Abteilung dieses Großkonzerns. Andererseits wissen wir, wie viele gute Pioniersysteme wir der Kreativität und der Fachkompetenz von Führungskräften der betrieblichen IT verdanken.
BD: Wir haben uns vor einiger Zeit darüber ausgetauscht, wie wir beide die Rolle von Wissenschaft und Praxis sehen. Ich habe damals meine Idealvorstellung als eine Iterationsschleife skizziert: (P = Praxis, W = Wissenschaft):
Natürlich beobachtet und konzipiert die Praxis auch. Bei diesen Tätigkeiten ist die Zusammenarbeit von Praxis und Wissenschaft sehr von Nutzen. Ergänzend schrieb ich damals: Das Beobachten dessen, was in der Praxis geschieht (und darüber zu reflektieren), ist die primäre Aufgabe der Wissenschaft. Um das Beobachtete zu verstehen und zu erklären, ist Theoriebildung unabdingbar. Darauf basierend können Verbesserungen vorgeschlagen werden. Sie haben damals nicht ausführlich auf meine Ideen reagiert. Vielleicht gefiel es Ihnen nicht, dass ich die Praxis an den Anfang der Schleife stellte. Kann ich Sie dazu bewegen, mir jetzt einige Kommentare zu geben?
PM: Grundsätzlich sehe ich das wie Sie. Jedoch dürfen wir nicht verallgemeinern, was die „erste Einfahrt in den Kreisverkehr“ angeht. Viele Anstöße kommen aus der Wissenschaft, andere aus der Praxis. ARIS kam aus der Wissenschaft, die DATEV oder SAP aus der Praxis, wobei die Wissenschaft dann etliches zur Weiterentwicklung beitrug. Einiges hängt aber davon ab, wen man als Wissenschaftler, wen als Praktiker ansieht. War Archimedes Wissenschaftler, der über die Mechanik und Mathematik des Hebels nachdachte, oder Konstrukteur von Kriegsmaschinen, wobei die Hebelgesetze als Nebenprodukt abfielen? Ist Plattner mit seinen sehr bemerkenswerten Arbeiten zum „In-memory-computing“ und deren betrieblicher Nutzung ein Wissenschaftler an der Universität Potsdam oder Aufsichtsratsvorsitzender der SAP AG?
BD: Wie ich weiß, haben Sie sich auch Gedanken darüber gemacht, wie man die wissenschaftliche Leistung und den wissenschaftlichen Fortschritt auf einem Gebiet wie der Wirtschaftsinformatik bewerten kann. Zählt nur die Anzahl von Veröffentlichungen, unabhängig von deren Niveau und in welchem Medium sie erschienen? Zählen nur die englischsprachigen Veröffentlichungen? Ist es eher die Zahl der Promotionen oder Habilitationen? Welche Rolle spielen Erfindungen und Patente für die Wissenschaft?
PM: Nein, die gegenwärtigen Usancen, Wissenschaftler und ihre Institutionen sehr bevorzugt oder gar ausschließlich mit bibliometrischen Methoden zu bewerten, halte ich für eine sehr unglückliche Entwicklung. Dort, wo ich z. B. Vergleichsgutachten zu erstellen habe, richte ich mich nicht danach, sondern versuche eine ganzheitliche Sicht auf die Wissenschaftlerpersönlichkeit und benutze dazu eine aus zehn Kriterien bestehende Liste, die ich nach dem Vorbild der Leichtathletik den Zehnkampf nenne. Sie enthält auch von Ihnen angesprochene Kriterien, z. B. dort, wo es in Frage kommt, auch Patente. Es wäre übrigens der Tod des Zehnkampfs, wenn das Olympische Komitee z. B. dem Stabhochsprung als zugegeben schwierige Disziplin 90% aller Wertungspunkte geben würde oder beim Eiskunstlauf dem dreifachen Axel 80%.
BD: Das Thema der staatlichen Industriepolitik war immer Gegenstand kontroverser Diskussionen. Schon die DV-Programme der Bundesregierung in den 1960er Jahren verfolgten den Zweck, der nationalen Industrie Vorteile zu verschaffen gegenüber der internationalen Konkurrenz. Manchmal wurde das Geld nicht direkt an die Industrie gegeben, sondern an Hochschulen für grundlegende oder begleitende Forschung. Im letzteren Falle kam es nicht selten zu Interessenkonflikten. Wie sehen Sie die Erfolgsbilanz der staatlichen Industriepolitik – sei es auf der Ebene der Länder, des Bundes oder Europas? Würden nicht Steuervergünstigungen oder staatliche Beschaffungsprogramme ausreichen? Sollte der Staat nicht ein Klima für Startups schaffen, da diese primär neue Märkte erschließen?
PM: Ich sah mit Freude, wie meine Vorstellungen im bayerischen FLÜGGE-Programm (Flexibler Übergang in eine Gründer-Existenz) verwirklicht wurden, und durfte lange im Auswahlausschuss mitwirken. Junge Akademiker, die eine technische- und/oder betriebswirtschaftliche Idee z. B. aus ihrer Diplom- oder Doktorarbeit in einem eigenen Unternehmen verwirklichen wollen, bekommen für eine gewisse Zeit vom Staat eine Stelle finanziert. Sie arbeiten zur Hälfte in der Universität, wo sie z. B. nachts die Laborgeräte nutzen dürfen, und helfen bei der Ausbildung der Studierenden, etwa indem sie Studienarbeiten oder Praktika betreuen. Zur anderen Hälfte gründen sie ihr Unternehmen. Dergleichen halte ich für sinnvoll. Ähnliches gilt für Lehrinnovationen. So hatte ich als Mitglied der Senatskommission für Rechenanlagen der Deutschen Forschungsgemeinschaft mit Begeisterung die Initiative zur Einführung der ersten CIP-Räume (Computer-Investitionsprogramm) in den Hochschulen begleitet. Bei Forschungsarbeiten in marktnahen Bereichen müssen die Staatsvertreter den Einfluss mächtiger Lobbyisten mit guten Beziehungen sehr sorgfältig beobachten und hinterfragen, um Wettbewerbsverzerrungen vorzubeugen. Noch diffiziler und m. E. bisher unterschätzt ist das Problem, welche Forschungsergebnisse in welchem Stadium international veröffentlicht werden sollen. Die sog. Targeting-Offensive der Volksrepublik China, mit der sehr gezielt solche Resultate auf ca. 50 ausgewählten Feldern gesammelt werden, wird in ihrer volkswirtschaftlichen Bedeutung unterschätzt. In Sachen EU-Subventionen war ich schon immer ähnlich skeptisch wie gegenüber der Währungsunion (nicht gegenüber dem Gemeinsamen Markt!).
BD: In Ihrem Beitrag in der Zeitschrift WIRTSCHAFTSINFORMATIK (Heft 3/2007) haben Sie das deutsche wohlfahrtsstaatliche System kritisiert und auf die folgenden Gefahren hingewiesen:
1. Die Gewinner und Verlierer der Umverteilung werden immer weniger erkennbar.
2. Wegen 1. können politische Eingriffe nicht genügend treffsicher erfolgen.
3. Die Fehlallokationen gemäß 2. verändern die Leistungs- und Sparanreize zu Lasten der Effizienz des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Systems und damit auch der internationalen Wettbewerbsfähigkeit sowie des Lebensstandards im weitesten Sinn.
Was kann die Politik tun, um diese Gefahren zu bannen? Gibt es in der heutigen Konstellation von Parteien und Interessengruppen noch Hoffnung, dass etwas geschieht?
PM: Aus Sicht der Wirtschaftsinformatik plädiere ich dafür, dass man die in zahlreichen Dateien der öffentlichen Verwaltung vorliegenden Daten über die Bürgerinnen und Bürger (u. a. Zahlung von Zwangsabgaben wie Steuern, Sozialabgaben oder die neue Fernsehsteuer, erhaltene Subventionen, wie etwa solche zur ökologischen Haussanierung oder zur Kurzarbeit, anteilige Vollkosten der in Anspruch genommenen öffentlichen Dienste wie eines Hochschulstudiums, gesetzliche Gesundheitsversicherung und Kosten von Therapien, aber auch das monetäre Äquivalent von ehrenamtlichen Leistungen) zu einem Konto, dem Integrierten Bürgerkonto, zusammenführt. Nach meiner Schätzung müsste das in absehbarer Zukunft weit gehend automatisch gelingen, zumal die vielen Personennummern wie die lebenslange Steuernummer, die Nummer auf der elektronischen Gesundheitskarte oder die Sozialversicherungsnummer informationstechnisch dies sehr erleichtern werden. Natürlich müssen wir über den angemessenen Datenschutz nachdenken und dazu profundes Informatik-Wissen einbringen.
Wenn uns mittel- und langfristig ein gutes System gelänge - und Vorbilder wie etwa die Gesundheitssparkonten in Singapur oder in chinesischen Großstädten ermutigen -, würde das für die im Wohlfahrtsstaat bisher vermisste Transparenz sorgen und zahlreiche Vorteile bringen, z. B. was die Anreize angeht, sich für die Gesellschaft zu engagieren.
BD: Eine persönliche Frage zum Schluss. Sie sind seit sechs Jahren emeritiert, d.h. im Ruhestand. Neulich schrieben Sie mir, dass Sie immer noch als Erster morgens an Ihrem alten Arbeitsplatz sind. Darf ich daraus schließen, dass Sie Anhänger einer flexiblen Ruhestandsregelung sind und dass Sie – wie ich auch – glauben, dass Beschäftigung die beste Medizin ist? Dass ohne uns, Deutschland nicht zu retten ist, glauben wir doch beide nicht.
PM: Ich fahre deshalb früh in die Universität, damit ich nicht im Berufsverkehr lande und wertvolle Millisekunden im Stau verliere. Vielleicht ist es aber auch die berühmte „präsenile Bettflucht“ ;-). Aber im Ernst: Ich musste erleben, wie einer größeren Anzahl sehr tüchtiger Kolleginnen und Kollegen durch Wissenschaftsminister in Deutschland die Weiterarbeit im Lehrkörper verweigert wurde, obwohl man der Altersdiskriminierung (eine der wenigen Diskriminierungen, die das Recht in Deutschland und Europa noch erlaubt) skeptisch begegnen müsste. Das Dickicht aus Allgemeinem Gleichbehandlungsgesetz, aus TV-L, aus dem europäischen Verbot der Altersdiskriminierung sowie aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs und des Bundesarbeitsgerichts vermag ich nicht zu durchdringen. Was spricht dagegen, gerade jetzt, wo es wegen der starken Abiturientenjahrgänge einige Jahre lang gilt, den Spitzenbedarf flexibel abzudecken, wie in den USA die „Bellheims“ zur reaktivieren? Das inzwischen sehr vorteilhaft entwickelte System der Evaluation des Lehrkörpers durch die studentischen Kundinnen und Kunden dürfte wohl gewährleisten, dass die „Tüdeligen“ rechtzeitig verabschiedet werden.
Dass die Arbeit die Gesundheit mehr als der Müßiggang fördert, glaube ich bis auf Weiteres noch, obwohl oder weil mir meine Klassenkameraden auf dem Gymnasium vorhersagten, ich würde schon mit 30 einen Herzinfarkt bekommen.
BD: Herr Mertens, vielen Dank für das zum Nachdenken anregende Interview. Möge Ihnen - ob als Bellheim oder anders - ein langes Wirken vergönnt sein.