Bertal Dresen (BD): Ich weiß, dass ich Ihnen schwerlich das Etikett einer Feministin anhängen kann, dennoch interessiert mich Ihre Meinung zu dem nicht nur aktuell diskutierten Komplex „Frauen in der Wirtschaft“. Hatten Sie, beispielsweise bei Ihrem Berufsstart, spezifische Schwierigkeiten als Frau? Mit welchen Problemen und Benachteiligungen haben Frauen heute besonders zu kämpfen? Was raten Sie jungen Frauen in Bezug auf Berufswahl und Qualifizierung? Brauchen wir eine gesetzlich festgelegte Frauenquote?
Heidi Heilmann (HH): Der Reihe Ihrer Fragen nach: Ich könnte etliche Geschichten zu Anerkennungsproblemen als Frau aus meinen Anfangszeiten erzählen – belassen wir es dabei, dass man (nur damals?) bei Anrufen bei einem Geschäftspartner prinzipiell zunächst als (natürlich nicht gesprächsberechtigte) Sekretärin eingestuft wurde! Ab einem gewissen Bekanntheitsgrad galt dann eher, dass man als kompetente Frau mehr auffiel und daraus Vorteile zog. Wie sehr sich das bis heute geändert hat, kann ich nach zehn Jahren im Ruhestand nicht mehr sicher einschätzen. Dass speziell im Informatik-Bereich inzwischen viel mehr Frauen als damals aktiv sind, wirkt sich sicher positiv aus.
Was ich rate? Den Beruf sehr ernst zu nehmen und einen zu wählen, den man gerne ausübt – also nicht vorrangig den, der eine besonders hohe Verträglichkeit mit Familienpflichten verspricht, oder nur eine kurze Ausbildungszeit verlangt oder vorrangig ein sicheres Einkommen garantiert; was alles natürlich auch für junge Männer gilt! Heutzutage banal: lebenslang lernbereit und neugierig (!) bleiben, sich flexibel zeigen.
Bei der Frauenquote bin ich gespalten. Einerseits: Wer möchte schon eine „Quotenfrau“ sein? Andererseits: Wenn es die faktische Gleichberechtigung schneller voran bringt, warum nicht? Vielleicht entsteht dadurch mehr Bewusstsein dafür, dass man auch unter Frauen nach fähigen Kandidaten für eine offene Position suchen könnte?
BD: Mit der Gründung der Firma Integrata gingen Sie früh den Weg in die berufliche Selbständigkeit. Welche neuen Probleme und Belastungen brachte dies mit sich im Vergleich zu Ihrer vorausgegangenen Tätigkeit als Mitarbeiterin einer großen DV-Firma? Welche Erfahrungen möchten Sie an potenzielle Firmengründerinnen weitergeben?
HH: Dazu erzähle ich am besten eine kleine Geschichte. Als ich nach der Geburt unseres vierten Kindes 1965 meine IBM-Stelle kündigte, um nicht mehr nur abends und am Wochenende für die Integrata zu arbeiten, sondern dort voll in Beratung und Schulungstätigkeit einzusteigen, machte mein Mann mir diesen Wechsel u.a. mit dem Hinweis „schmackhaft“: „Stell Dir vor, Du kannst an einem schönen Sommerwerktag Deine vier Kinder ins Auto packen und mit ihnen ins Schwimmbad fahren – Du bist in Deiner Arbeitszeitgestaltung dann ja völlig frei“. Um es kurz zu machen: Ich war kein einziges Mal werktags mit meinen Kindern im Schwimmbad, und jedes Kind hatte eine Phase, in der es jammernd an mir hing und nicht wollte, dass Mama zur Arbeit geht; wobei zu ergänzen ist: ich konnte teilweise zu Hause arbeiten, die Kinder bekamen von ihrer bei uns lebenden Großmutter immer liebevolle Zuwendung und die sonstigen Pflichten eines Sieben-Personen-Haushalts ließen sich mit Personal lösen.
Heutige potenzielle Firmengründerinnen sollten unverändert neben dem „richtigen“ Beruf (s.o.) und einem tragfähigen Geschäftsmodell vor allem ihre Arbeit lieben (eine 30-40-Stunden-Woche langweilig finden...), viel Selbstvertrauen und Durchhaltevermögen haben.
BD: Bereits Anfang der 1980-er Jahre zog es Sie an die Hochschule. Gleichzeitig haben Sie neben Ihrer beruflichen Tätigkeit promoviert. Was motivierte Sie dazu, diesen für Sie neuen Berufsweg zu gehen?
HH: Einerseits der Wunsch, mit der Promotion durch die Geburten der Kinder Aufgeschobenes nachzuholen; dann: in der Lebensmitte nochmals etwas Neues zu beginnen; andererseits aber auch die Erkenntnis aus der in der Integrata sehr intensiven Seminartätigkeit, dass es Spass macht, anderen etwas verständlich zu erklären und Forschungsfragen nicht nur zu stellen, sondern auch zu lösen. Es gab auch einen direkten Anstoß: Die ersten Studierenden an der damals neuen Berufsakademie Stuttgart, die unwahrscheinlich motiviert und lernbegeistert waren!
BD: Sie leiteten am Betriebswirtschaftlichen Institut der Universität Stuttgart 14 Jahre die Abteilung ABWL und Wirtschaftsinformatik - an einer überwiegend technisch ausgerichteten Hochschule mit stark nachgefragten Informatikstudiengängen. Wie sehen Sie heute die Rollenabgrenzung zwischen der (Kern-) Informatik und der Wirtschaftsinformatik? In welcher Hinsicht ist das Verhältnis noch verbesserungsfähig? Was kann die Gesellschaft für Informatik (GI) tun, um hier zusätzliche Brücken zu bauen?
HH: Auch hier der Reihe nach: Als ich meine erste Vorlesung in Stuttgart hielt, in einem Hörsaal im inzwischen längst abgebrochenen „Backsteingebäude“, in dem ich Jahrzehnte zuvor selbst studentische Zuhörerin gewesen war, fühlte sich das an wie „nach Hause kommen“. Ich habe den Studierenden damals sogar verraten, dass ich genau in diesem Hörsaal anfangs oft nur „Bahnhof“ verstanden und vorübergehend ernsthafte Zweifel an meiner Studierfähigkeit hatte.
Zu den Kollegen aus der Stuttgarter Informatik bestand nach anfänglichem vorsichtigen „Beschnuppern“ ein sehr gutes Verhältnis. Es gab wechselseitigen Austausch: Studierende der BWL konnten Informatik als „technisches Wahlfach“ wählen, umgekehrt Studierende der Informatik BWL; und letztere fanden es für die spätere Berufstätigkeit nützlich, im Hauptstudium die spezielle BWL namens Wirtschaftsinformatik zu wählen. Die Zusammensetzung „meiner“ Studierenden aus Informatikern und Betriebswirten empfand ich immer als sehr fruchtbar, wurden doch die verschiedenen Motivationen für die Berufswahl dadurch erkennbar und die spätere Zusammenarbeit der Absolventen in der Praxis erleichtert. Beispielhaft: Bei Examensvorbesprechungen versuchte ich immer den Informatikern klarzumachen, dass sie mir mehr als nur Stichworte liefern müssten – und den Betriebswirten, dass die mehrfache Wiederholung desselben Arguments absolut nichts am Ergebnis ändern würde.
Insgesamt hat sich das Verhältnis zwischen der Informatik und der Wirtschaftsinformatik in hohem Maße „normalisiert“, der noch in den 80-er Jahren seitens der Informatik benutzte Begriff der „Bindestrich-Informatik“ wurde obsolet. Die Gesellschaft für Informatik hat meiner Einschätzung nach dazu auch einen wichtigen Beitrag geleistet.
BD: Sie sind heute unter anderem im Fachbeirat der Integrata-Stiftung tätig. Außerdem haben Sie im Jahre 2010 ein Buch herausgegeben, das die humanen Aspekte der Informatik thematisiert. Was bewog Sie zu dieser Veröffentlichung? Was konnte die Integrata-Stiftung auf diesem Gebiet bisher bewirken? Was können wir Informatiker tun, damit die humanen Aspekte stärker wahrgenommen und gewürdigt werden?
HH: Aufgrund meiner Verbundenheit zur Stiftung seit ihrer Gründung und meiner beruflichen Erfahrungen lag es nahe, diesen Beitrag zum Anliegen der Stiftung zu leisten. Der Band „Humane Nutzung der IT“ bringt die Intentionen der Integrata-Stiftung für humane Nutzung der Informationstechnologie zum Ausdruck: Computer nicht vorrangig zur Kostenreduktion und Gewinnerzielung einzusetzen, sondern zur umfassenden Verbesserung der menschlichen Lebensqualität. Die Beiträge behandeln zum einen übergreifende Fragen der humanen Nutzung, zum anderen beschreiben sie praktische Beispiele aus dem Kreis der Integrata-Preisträger.
Die sichtbare Wirkung einer finanziell relativ beschränkten Stiftung ist naturgemäß begrenzt und macht sich erst nach und nach bemerkbar. Was getan werden kann: Das Bewusstsein für humane Aspekte bei allen Beteiligten schärfen, Informatiker in diesem Bereich aus- und weiterbilden (wohlgemerkt: Über die reine Ergonomie an der Benutzungsschnittstelle hinaus) und –in der Praxis vermutlich entscheidend?- ihnen genügend Zeit zur Berücksichtigung humaner Aspekte in den einzelnen Phasen der Systementwicklung einzuräumen.
BD: Als Kollege Gunzenhäuser und ich im letzten Jahr ein Buch ‚Schuld sind die Computer!‘ publizierten, konnten wir uns über Ihre sehr umfangreichen und wertvollen Kommentare zum Manuskript freuen. Wie ich einem Interview entnehme, das Sie im Jahre 2007 Bernd Oestereich gaben, gibt es noch viele weitere Autoren von wissenschaftlichen Buch- und Zeitschriftenbeiträgen, die diese Form Ihrer Hilfe genießen durften. Welche wichtigen Erfahrungen haben Sie als Schriftleiterin von namhaften Zeitschriften oder Gutachterin von wissenschaftlichen Beiträgen gemacht? Welche generellen Fehler machen die Autoren am häufigsten?
HH: Vordergründig fällt am meisten auf, dass Beiträge abgegeben werden, die gar nicht sorgfältig durchgesehen sein können, so viele Fehler unterschiedlichster Provenienz entdeckt man als Gutachter darin. Vorgaben zur Beitragslänge werden häufig überschritten, die Struktur der Beiträge und eine ausgewogene Behandlung von Teilthemen lässt zuweilen zu wünschen übrig.
Die in meiner aktiven Hochschulzeit Studierenden empfohlene Vorgehensweise wird allem Anschein nach nicht immer eingehalten, obwohl sie naheliegt und auch dem Autor Vorteile bringt. Wenn davon auszugehen ist, dass der geplante (Buch- oder Zeitschriften-)Beitrag Interesse findet und der Autor über die dazu nötige Kompetenz verfügt, sind die weiteren Regeln einfach:
- Identifizieren Sie Ihre Zielgruppe, verzichten Sie dabei auf „Rundumschläge“ („Reine Anfänger bis Top-Experten").
- Sammeln Sie Ideen; beruhen diese auf Quellen, halten Sie deren Herkunft vom ersten Moment an eindeutig fest (Kurzbezeichnung und parallele Aufnahme in ein vorläufiges Quellenverzeichnis).
- Bewerten und ordnen Sie Ihre Ideen, entwickeln Sie daraus die Struktur (Grobgliederung) Ihres Beitrags.
- Vergeben Sie Gewichte: Wie intensiv müssen welche Gliederungspunkte zum Nutzen der Zielgruppe behandelt werden?
- Rechnen Sie ausgehend vom verfügbaren Gesamtplatz aus, wie viel davon die einzelnen Gliederungspunkte beanspruchen können, welche Ideen ggfs. nur angedeutet werden können oder sogar gestrichen werden müssen.
- Erst dann beginnen Sie mit dem Ausformulieren! Verwenden Sie dabei eine zielgruppen-gerechte Sprache.
- Sehen Sie Ihr Opus mit hinreichendem zeitlichen Abstand mehrmals sorgfältig auf Verbesserungsmöglichkeiten und Fehler durch.
Für umfangreichere Werke und insbesondere bei mehreren beteiligten Autoren empfiehlt sich darüber hinaus von allem Anfang an die Erstellung eines Glossars der verwendeten Terminologie; dieses Glossar stellt unabhängig davon, ob es später mit abgedruckt wird oder nicht, sicher, dass durch das gesamte Werk und zwischen verschiedenen Autoren keine Begriffswechsel stattfinden, die spätere Leser ohne profunde Vorkenntnisse verwirren könnten.
BD: Anfang Dezember letztes Jahr schickten Sie mir ein Foto Ihrer derzeitigen Residenz am Bodensee, vom ersten Schnee wie eingepudert. Welche Erfahrungen machen Sie dort bezüglich des Lebens im Kreise anderer Senioren? Wie weit können auch neue Errungenschaften der Informatik (Internet-Dienste, Smartphones und dgl.) unseren Altersgenossen das Leben erleichtern oder verschönern? Erfordert deren Nutzung ein nennenswertes Beratungspotenzial?
HH: Ich habe die Entscheidung für meinen Alterssitz bereits sehr früh, neun Jahre vor dem geplanten und realisierten Umzug, getroffen. Die Gründe sind einfach: Selbst entscheiden können, wo ich meine letzten Lebensjahre verbringe; meinen Kindern nicht zur Last fallen; umziehen, so lange ich die damit verbundenen Arbeiten noch gut bewältigen und mich einleben kann.
Bereut habe ich diese Entscheidung noch nie, weder hinsichtlich der Ortswahl (die Bodenseegegend ist sehr ansprechend!) noch des Zeitpunkts vor nunmehr vier Jahren. Der Vorteil einer rechtzeitigen Veränderung ist, dass man sich in Ruhe umgewöhnen, neue Bekanntschaften und Freundschaften schließen und die Sicherheit und Bequemlichkeit einer Seniorenresidenz richtig genießen kann.
Informatik zu nutzen ist dabei selbstverständlich möglich: es gibt DSL-Anschlüsse in der eigenen Wohnung, für die Bewohnerbelange ist ein separater zentraler Server vorhanden, Hilfestellung wird angeboten. Eher skeptisch beobachte ich allerdings die Nutzung erst ab höherem Lebensalter; diese verlangt sehr viel Eingewöhnungszeit und Bereitschaft zum „Tüfteln“, immer wieder Ausprobieren. Das liegt zu einem erheblichen Teil an der historisch gewachsenen Komplexität der heutigen Software und ihres Zusammenspiels – Neuerungen wurden immer auf Altes draufgesetzt und auch IT-Experten verlassen sich viel mehr auf 'Trial and Error' denn auf die theoretisch mögliche eindeutige Klärung unerwarteten IT-Verhaltens. Das verwirrt den betagten Anfänger, liest und hört der doch ständig, Computer arbeiteten streng logisch und exakt.
Aber diese Probleme lösen sich im Zeitablauf: Mit dem Älterwerden der 'digital natives' einerseits und mit einer Entwicklung zu mehr Humanisierung andererseits!
BD: Frau Heilmann, vielen Dank für das interessante und ausführliche Interview.
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