Dieser Tage macht meine 18-jährige Enkeltochter ihr Abitur. G8 heißt das. Sie war bis vor kurzem noch wie ein Kind. Immer wieder ermahnte mich meine Frau, doch dem lieben Kind bei der Berufswahl zu helfen. Ich wollte nicht. Man kann Kindern nichts raten, meinte ich. Die lassen sich von Erwachsenen ungern etwas sagen. Das war früher bei uns so und ist bestimmt heute wieder so, eher noch ausgeprägter.
Ich beschränkte meine Berufsberatung auf zwei oder drei Gelegenheiten, wo ich wusste, dass das Mädchen zuhören würde, so bei ihren Geburtstagsfeiern im Familienkreise. Es sei noch bemerkt, dass dies nur die Nebenfeiern waren. Wirklich gefeiert wurde immer mit Gleichaltrigen, ohne Großeltern und Verwandte. Bei diesen Predigten bemühte ich mich, die Dinge auf den Punkt zu bringen. Der erste Punkt war, dass ein Beruf eine Lebensgrundlage sein muss. Er muss einen ernähren, und zwar ausreichend. Daraus folgt, er muss angesehen und nützlich sein. Ein Beruf ist auf der Skala der von Menschen ausgeübten Tätigkeiten als Profession anzusehen, wenn nicht jeder ihn ohne Vorkenntnisse ausüben kann und wenn er einen Nutzen für Mitmenschen und Gesellschaft erbringt. Kunstgeschichte und Psychologie sind das nicht. Theologe ist es nicht mehr. Im Grunde sind es nur zwei Berufe, Ärzte und Ingenieure. Mehrere Betriebswirte, die zuhörten, mussten kräftig schlucken.
Der Arztberuf ist mehrere Tausend Jahre alt. Die Menschen haben Ärzte immer geachtet und ihre Hilfe in Anspruch genommen, lange bevor die Medizin zur Wissenschaft wurde. Ingenieure waren früher Mechaniker oder Architekten. Ihr Ansehen war und ist dem von Ärzten nicht vergleichbar. Dennoch tun sie etwas, was für die Mitmenschen sehr wichtig ist. Ich riet meiner Enkeltochter sich zu fragen, ob sie den Arztberuf aushält, d.h. ob sie Blut sehen kann und dauernd mit Kranken umgehen möchte. Sie sollte sich dafür ein halbes Jahr Zeit nehmen, um sich darüber klarzuwerden. Wenn sie es nicht aushält, sollte sie Ingenieur werden, so wie ihre Eltern und ihr Großvater.
Von den gelegentlichen Predigten abgesehen, bombardierte ich meine Enkeltochter regelmäßig mit Tipps aller Art. Es waren dies meist Links zu schönen Geschichten von erfolgreichen Frauen in technischen Berufen oder zu Statistiken mit vergleichenden Gehaltsangaben. Eigentlich benötigte sie diese Informationen nicht. Sie hatte genug Beispiele in ihrem Familien- und Bekanntenkreis. Ein Jahr vor ihrem Abitur ging meine Enkeltochter eine Woche als Praktikantin in ein Krankenhaus. Nach dem was sie uns wissen lässt, will sie im Moment Ingenieur werden. Dazu muss ich sagen, dass sie eine der Besten ihres Jahrgangs in Mathematik ist und Physik ihr Spaß macht.
Letzte Woche schob ich ihr mal wieder einen Link zu. Es war der Blog-Eintrag eines gewissen Marc Hack mit dem Titel „18 Sachen, die man mir hätte sagen soillen, als ich 18 war“. Ich fand das, was hier ein 28-jähriger von sich gab, alles sehr altklug. Umso mehr war ich überrascht, als ich nach vier Stunden folgende Antwort bekam:
Vielen Dank für den Link - Ich habe den Artikel gerade gelesen und finde diese Tipps echt hilfreich. Ich versuche sie in Zukunft einzusetzen und davon zu profitieren. Jetzt habe ich auch das Gefühl, dass ich weiß, was ich will. Danke!
Die in diesem Blog verkündete Philosophie kam mir etwas extrem vor, aber nicht unsympathisch. Regel Nummer 1 heißt nämlich: Verpflichte Dich dazu Fehler zu machen! Nur so lernst Du. Die zahlreichen Kommentare (über 150), die der Autor bekam, machten mich als Blog-Schreiber geradezu neidisch.
Mir fiel ein, dass ich mir für meine Entscheidungen sehr stark ein anderes Prinzip zu eigen machte, nämlich: Wichtiger als etwas zu wollen, ist zu wissen, was man nicht will. Bei vielen Entscheidungen, die ich in meinem Leben zu treffen hatte, ging ich von gut gemeinten Ratschlägen aus, bei denen ich mir klarwerden musste, warum ich sie nicht befolgen würde. Es handelt sich oft um traditionelle Erwartungen, sei es in der Familie, sei es in meiner späteren beruflichen Umgebung. Obwohl andere Leute an diesen Entscheidungen beteiligt waren, traf ich sie im Grunde doch allein.
Im Folgenden greife ich vier Beispiele heraus, von denen jede eine ganz andere berufliche Ebene betrifft. Ich spreche über sie, nicht weil ich glaube, dass ich besonders klug gehandelt habe, sondern weil ich weiß, dass auch andere Menschen in solche Situationen kommen können. Ich kann mir vorstellen, dass meine Überlegungen andern Menschen von Nutzen sein können, vor allem jungen Menschen,
Kein Geistiger oder Geistlicher, sondern Ingenieur
Ich stamme aus einer bäuerlichen katholischen Familie, wo es geradezu erwartet wurde, dass wenigstens ein Junge in der Familie Theologe wird. Es bestand sogar eine klare Tradition. Zwei Vettern meines Vaters waren Theologen, einer von ihnen Professor am Trierer Priesterseminar. Ein Onkel meiner Mutter leitete das Cusanus-Stift im Moselstädtchen Bernkastel-Kues. Mein ältester Vetter erhielt – als ich das Abitur machte - gerade die Priesterweihe und darauf seine erste Pfarrstelle in der Eifel. Zwei Schwestern meiner Mutter waren als Oberinnen im Kloster und sehr angesehen und beliebt in der Familie. Die eine leitete das Kloster Nonnenwerth, das auf einer schönen Insel mitten im Rhein liegt und ein Gymnasium betreibt. Die andere leitete ein Heim, in dem körperlich und geistig behinderte Kinder betreut wurden, zuerst in Schönecken in der Eifel, danach in Rheydt. Es fehlte nicht an Bemühungen, ehe die Familie ihre Hoffnung aufgab, mich in diese Richtung lenken zu können.
Ohne über meine religiösen Überzeugungen im Einzelnen zu sprechen, möchte ich sagen, dass ich mich nicht in der Lage sah, in allen Lebenssituationen eine aus der Religion hergeleitete Antwort als angemessen und maßgebend zu betrachten und dafür bei andern Menschen zu werben. Auch der Versuch meines Mathe-Lehrers mich für ein Philologie-Studium mit Mathematik als Schwerpunkt zu begeistern, schlug fehl. Wörtlich sagte ich ihm: „Ich gehe doch nicht in die Schule, um wieder in die Schule zu gehen“. Ich wollte lieber meine Mathe-Fähigkeiten und -Kenntnisse anwenden als nur weitergeben.
Kein Berufsbeamter, sondern Angestellter in der freien Wirtschaft
Nach meinem Vordiplom war ich als Austauschstudent in den USA. Als ich nach Deutschland zurückkehrte, hatten meine Semesterkollegen fast alle ihr Diplomexamen hinter sich und traten Stellen als Referendar an. Dem folgte die Assessor-Prüfung und – in den meisten Fällen – eine lebenslange Anstellung als Beamter. Danach lockte ein gut situierter Ruhestand. Ich dachte zunächst viel kurzfristiger. Ich hatte in den USA elektronische Rechner kennen gelernt. Ich wollte zunächst meine Kenntnisse vertiefen (und eventuell promovieren). Ich ließ die Anwartschaft auf eine Referendarstelle verfallen und trat ‚ins kalte Wasser‘.
Aus dem Praktikum wurde eine 35-jährige Festanstellung. An interessanten Aufgaben bestand kein Mangel. Wir vertraten eine Spitzentechnologie und moderne Prinzipien der Unternehmensführung und hatten internationale Kontakte und Projekte. Wir taten etwas, von dem wir wussten, dass viele Leute es wertschätzten. Viele unserer Kunden waren auf unsere Maschinen und Programme angewiesen. Ohne sie konnten sie ihr anspruchsvolles Geschäft nicht bewältigen.
Keine internationale, sondern eine nationale Karriere
Die Firma förderte und ermöglichte die Ausdehnung der beruflichen Laufbahn ihrer Mitarbeiter über Deutschland hinaus. Ein zweiter USA-Aufenthalt – diesmal mit Familie – machte klar, welche internationalen Karriere-Möglichkeiten sich boten, und was es heißt, im Ausland zu leben. Manche Kollegen setzten ihre Karriere in Amerika fort, ja wurden Amerikaner. Das hätte bedeutet, alle in Deutschland und Europa bestehenden Kontakte zu vernachlässigen.
Ich entschied mich dagegen. Das Leben in Europa erschien mir attraktiver als das in Amerika. Man ist näher an Highlights der Kultur und Touristik. Die Gesellschaft ist homogener. Für die Kinder ist es eher ein Nachteil in Europa aufzuwachsen.
Kein Vollzeit-Professor, sondern nur Lehrbeauftragter
Viele Kollegen kehren der Industrie nach einigen Jahren den Rücken. Dies geht bis zum 45. Lebensjahr durch einen Sprung zur Hochschule. Die technischen Fächer sind darauf angewiesen, die Qualität der Ausbildung zu verbessern, indem sie auch Erfahrungen aus der Praxis im Lehrangebot berücksichtigen.
Ich musste mich in diesem Falle nicht entscheiden. Da die Firma dies zuließ, konnte ich beide Welten kombinieren. Ich konnte als Lehrbeauftragter Anregungen von beiden Seiten empfangen, von Wissenschaft und Praxis, und Anstöße in beide Richtungen geben. Nach meiner Industrie-Laufbahn war ich noch vier Jahre lang Vollzeit-Professor.
Am Ende dieser Predigt steht kein Amen, sondern ein Toi Toi Toi. Das Abi ist kein Ende, sondern ein Anfang. Entscheidungen, die man jetzt trifft, sind nicht endgültig. Sie können korrigiert werden. Voraussetzung ist, dass man nicht aufhört zu lernen. Wie man dies am besten macht, sagt Marc Hack unter Nummer 11: Rede mit andern Leuten und Nummer 13: Stelle Fragen.
PS. Was ich bei früherer Gelegenheit zum Thema Professionalität von mir gab, schien auf großes Interesse gestoßen zu sein. Der entsprechende Eintrag war lange Zeit Spitzenrenner in diesem Blog bezüglich der Zahl der Besucher.
Am 11.3.2012 schrieb Hartmut Wedekind:
AntwortenLöschenAus den vier klassischen Fakultäten: Theologie, Juristerei, Medizin, Philosophie (die Vernünftler laut Kant), sollte man aber die Juristerei nicht unerwähnt lassen, insbesondere wenn sie gegen die zunehmende Streitlust und Mordlust der Menschen, als Krankheit wie Masern und Diphterie, ankämpfen. Die Ingenieure sind aus der Philosophie entstanden wie alle Naturwissenschaftler und Logiker. Hier gehörten sie zu der unteren Fakultäten, die Artisten-Fakultät genannt wurde. Das war gar nicht hochmütig gemeint, sondern im Gegenteil, man bewunderte das, was man selber nicht konnte. Das war eben Kunst, im Ausdruck Ingenieurkunst noch enthalten. Die Philosophen-Fakultät ist in den letzten 800 Jahren explodiert. Es ist nur das noch übrig geblieben, was man das Nachdenken über Gott und die Welt nennt. Die Wissenschaftstheorie, also das Nachdenken über (meta) Wissenschaften, ist eines der letzten Kinder, das auch ausgewannder ist.
Hallo,
AntwortenLöschender Beitrag ist wirklich interessant geschrieben.
meine Tochter macht derzeit Ihr Wirtschaftsabitur auf einem Wirtschaftsgymnasium (Heidelberg International Business School) und steht auch vor der Berufswahl. Mit dem Wirtschaftsgymnasium waren wir bisher sehr zufrieden, weil sie dort schon viele betriebswritschaftliche Kenntnisse erlangen konnte. Informationen darüber findet man hier: Wirtschaftsgymnasium Ich bin dafür, dass sie sich für ein klassisches Betriebswirtschaftsstudium entscheiden soll. Dann stehen ihr noch alle Wege offen.
Gruß,
Bernd