Laut C.P Snow gab es 1959 in England zwei Kulturen.
Entweder hatte er nicht genau hingesehen, oder aber die Dinge haben sich
weiterentwickelt. Heute haben wir es eindeutig mit drei Kulturen zu tun, und
das nicht nur in Europa. Ob das Fortschritt ist, darüber kann man streiten. Ich
halte es für nützlich, diese Differenzierung zu betonen. Das widerstrebt
denjenigen, die sich mehr davon versprechen, wenn die Einheit der
Wissenschaften zum Ideal erklärt wird. Wer näher hinschaut, weiß, dass sie sehr
brüchig ist und oft nur mit Mühe zusammengehalten wird. So wie Kinder ihre Dissonanzen
verbergen, wenn sie gemeinsam etwas von den Eltern wollen, so betonen die
Wissenschaften gerne, dass alle gleich sind, wenn immer sie gemeinsam um die
Futtertröge buhlen, die der Souverän aufstellt. Ich will zunächst nur die
Situation beschreiben. Ich darf dabei – entgegen der üblichen Gepflogenheit –
hinten anfangen.
Ingenieurwissenschaften (Kultur 1)
Ingenieurwissenschaften (Kultur 1)
Es gibt ihre Art von Aufgaben und die Tätigkeiten schon einige Tausend
Jahre. Es begann etwa zu der Zeit, als Menschen anfingen neben dem Jagen und
Fischen sich durch Ackerbau zu ernähren. Es entstanden Berufe wie Klempner, Schmied,
Steinmetz und Architekt. Später baute man außer Palästen und Tempeln auch Maschinen. Zuerst
waren sie vom Wasser, dann vom Dampf getrieben. Danach kamen Generatoren und
Batterien. Man verlegte Kabel von Haus zu Haus, ja sogar auf den Meeresgrund.
Man pumpte Wasser aus Bergwerken und ersetzte die Karbidlampen. Schließlich
konnte man Morse-Signale um die Welt schicken.
Man sah ein Problem und tüftelte, bis dass man eine Lösung hatte.
Manchmal war es sportlicher Ehrgeiz, der einen antrieb, einen Turm zu bauen,
der höher war als alle Türme vorher. Man probierte, bis man wusste, dass es
hielt oder dass es funktionierte. Es war dabei völlig sekundär, warum etwas
hielt oder warum etwas funktionierte. Mathematische Formeln brauchte man nicht.
Aus Handwerk wurde Technik. Heute betreiben wir das Ingenieurwesen auch
wissenschaftlich. Wenn man etwas gebaut hat, kann man nachher der Baupolizei
erklären, warum es nicht zusammenfällt. Dem Auftraggeber war es vor allem wichtig,
dass jemand sich traute, den Turm oder die Maschine zu bauen. Das Prüfen und Rechnen
überließ er gern seinen Beamten.
Im Gegensatz zu den ‚freien‘ Wissenschaften
sind Ingenieurwissenschaften die ‚Notwissenschaft‘ par excellence. Ingenieure
betreiben Wissenschaft nur, wenn sie es müssen. Paul Lorenzen, der diesen
Begriff prägte, meinte etwas anderes damit. Er meinte damit die Wissenschaften,
deren Aufgabe und Anliegen es ist, Not zu lindern.
Naturwissenschaften
(Kultur 2)
Der Mensch sieht nachts die Sterne und fragt sich, warum leuchten
diese. Er stellt fest, dass einige, wie z. B. der Mond, gar nicht selbst
leuchten, sondern nur das Licht anderer Sterne reflektieren. Die Frage ist
damit nur verschoben auf den Rest der Sterne. Da diese sich nicht zu bewegen
scheinen, nennt man sie Fixsterne. Warum diese als Leuchten wirken, dafür hat
man heute Theorien. Eine davon besagt, dass es die Atomkerne sind, die
zerfallen und Wärme erzeugen. Wir sehen das Feuer, weil es Licht aussendet,
wissen aber zunächst nicht, was Licht ist. Kluge Leute sagen, es sei sowohl
Welle wie Partikel. Bei einer Sonnenfinsternis konnte die Wellennatur bewiesen
werden. Beim Doppelspalt geht es wieder durcheinander.
Die Naturwissenschaftler bemühen sich, Dinge wie diese zu erklären. Manchmal
kommt dabei etwas heraus, was Ingenieure anregt oder gebrauchen können. Manchmal
produzieren sie nichts als Theorien. Bei den Physikern scheint dies seit 40
Jahren der Fall zu sein. Die Biologen sind besser dran. Sie haben Werkzeuge von
Ingenieuren bekommen, z. B. Rastermikroskope und Kernspintomographen, mit denen
sie eine Menge von Fragen klären können. Sie benötigen weniger oder keine
Theorien. Da alles, was Biologen herausfinden, einen Bezug zur Medizin und
damit zum Menschen hat, ist ihnen das Interesse der Öffentlichkeit sicher.
Geisteswissenschaften
(Kultur 3)
Ihre Grundannahme ist, dass Naturwissenschaftler nie alles erklären können.
Es wird zwar immer weniger, aber noch bleibt einiges offen. Dafür entwickelt man
Theorien, die postulieren (jedoch nicht beweisen), dass die erreichte Grenze
eine endgültige ist. Es kann sein, dass in Zukunft einige der Fragen doch noch
geklärt werden. Dann erübrigen sich diese Theorien.
Heute noch (teilweise) ungeklärt ist, wie und warum Leben entstand, wie und warum das
Weltall entstand, ob der Mensch Dinge erfährt, für die er kein Organ hat, usw.
Da vielleicht nie alles als deterministischer Ablauf gedeutet werden kann, muss
der Mensch das Leben organisieren. Dafür Regeln zu ersinnen, ist hilfreich. Das
machen Religionsstifter, Staatsgründer oder Vereinsmitglieder. Auch kann man
den Menschen beobachten, wie er auf Situationen reagiert, wenn ihm keine oder
bestimmte Vorgaben gemacht wurden. Das nennt man Psychologie. Beobachtet man
nicht einzelne Individuen, sondern Gruppen in ihrem Verhalten, sprechen wir von
Soziologie.
Manche Geisteswissenschaftler tragen auch zur Bildung, Erbauung und Unterhaltung
ihrer Mitmenschen bei. Das tun z. B. Pädagogen, Schauspieler, Dichter und
Musiker. Dabei ist es hilfreich, Material zu haben, sowohl Lehrmaterial wie
Spielstoffe. Das liefert die Geschichte oder die Kreativen. Wer nichts von der
Vergangenheit hält, wird Revolutionär. Eine etwas mildere Form sind die
Reformatoren. Wenn Kreative versuchen mit ihren Kreationen Geld zu verdienen,
ist dies anrüchig. ‚Freie‘ Künste leben quasi vom Sonnenlicht, genau wie Blumen. Geld führt zur
Knechtschaft.
Eine früher von den Geisteswissenschaften wahrgenommene Aufgabe, Wissen
zu archivieren und wieder auszubuddeln, übernimmt heute (teilweise) das Internet. Es bleibt
die Aufgabe, Wissen zu bewerten und zu strukturieren. Auch die undankbare
Aufgabe des Dolmetschens wird die Technik lösen.
Da Kultur 1 und Kultur 2 in der Vergangenheit die herrschende Schicht
(Adel, Theologen, Juristen) relativ wenig interessierte, hat dies zur Folge,
dass sich die Vertreter von Kultur 3 (immer noch) als die Träger von Kultur schlechthin
ansehen.
Position der Informatik
Die Frage steht im Raum, zu welcher der drei Kulturen die Informatik
gehört bzw. gehören sollte. Ich persönlich bin überzeugt, dass alle drei eine
Rolle spielen. Ausgehen muss auch Informatik von der Ingenieur-Kultur (Kultur
1), nämlich der Frage, was sie beitragen kann zum körperlichen und geistigen Wohlbefinden
des Menschen, d.h. seinem Unterhalt und seiner Unterhaltung. In einem anderen
Zusammenhang nannten Broy und Endres dies Lebensqualität.
Wenn auch noch gesagt werden kann, warum gewisse Rezepte und Verfahren so wirken
wie sie das tun, kann dies helfen. Es ist aber nicht die Voraussetzung dafür,
überhaupt etwas zu tun. Da es (vielleicht) eine Illusion ist, alles logisch zu
erklären, sollten wir psychologische und soziologische Kriterien nicht außer
Acht lassen.
Welches Gewicht die jeweilige Kultur für einen Informatiker hat, hängt
von der Tätigkeit ab, die er/sie ausübt. Bei einem Vertriebsmitarbeiter spielt
Kultur 3 eine große Rolle, bei einem Entwickler Kultur 1 und bei einem Forscher
Kultur 2. Wer sich für einen Informatik-Lehrstuhl in Deutschland bewirbt, muss
berücksichtigen, dass zwischen den Hochschulen die Gewichtung sehr
unterschiedlich ist. Fachhochschulen und einige jüngere Universitäten betonen
primär Kultur 1. Für einige alt-ehrwürdige Universitäten zählt nur die Kultur 2.
In Bremen und Hamburg gehört Informatik angeblich zur Kultur 3.
Rolle der Mathematik
Die Mathematik, die zu keiner der drei Kulturen gehört, spielt in der
Informatik die Rolle einer Hilfswissenschaft. Sie hat schöne Namen und Behälter
für Dinge, die Informatiker manchmal brauchen. Sehr oft sind die Namen
irreführend (z.B. reelle Zahlen) oder die Behälter unpassend (z. B. Mengen). Manchmal
sagt sie auch, dass gewisse Fragen durch (noch so langes) Rechnen nicht
beantwortet werden können.
Die Mathematik kann ˗ entgegen
langjähriger Beteuerung ˗ es nicht schaffen, für die Informatik eine Theorie
zu liefern. Die Mathematik erklärt die Welt nicht, sie gestattet nur, sie auf eine
bestimmte Art zu beschreiben. Diese Beschreibungen passen am besten im mittleren
Größenbereich (von 10-6 bis 106 Meter). Der Anstrich, den
Mathematiker Produkten aus der Informatik geben können, ist oberflächig. Meist
blättert er nach kurzer Benutzung ab.
NB. Soviel für heute. Wer sich angegriffen oder herausgefordert fühlt,
möge sich melden.
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