Freitag, 13. April 2012

Wirkt die Evolution auch außerhalb der Biologie?

Seit Jahren führe ich eine lebhafte Diskussion mit meinen Freunden über diese Frage. Sie bejahen sie teilweise aus der Überlegung heraus, dass es Phänomene gibt, die man anders kaum erklären kann.

In der Biologie hat Charles Darwin Gesetze erkannt, die sehr universell zu sein scheinen. Fast sind es Tautologien. Modern und etwas flapsig ausgedrückt, lehrt heute die Biologie Folgendes: In der Natur kommt es beim Kopieren der Gene, also der Erbinformation, hin und wieder zu Fehlern (Variation genannt). Wo gibt es das nicht? Auch wir Informatiker kennen Kopierfehler und haben Gegenmittel erfunden. Der Phänotyp, also der vom Fehler betroffene Nachkomme, macht das Beste daraus. Er versucht zu überleben. Manchmal hat er keine Chance, manchmal hilft ihm der Fehler sogar dabei. Dann hat er längere Ohren, bessere Augen oder stärkere Muskeln. Er verdrängt die lahmen Geschwister vom Euter oder von der Dorfwiese (Selektion genannt). Diese verhungern oder bleiben ohne Nachkommen. Werden die ‚falsch kopierten‘ Gene weitervererbt, haben wir es mit einem neuen Genotyp, also einer neuen Art, zu tun (Stabilisierung genannt).

Darwin folgerte einst: Wer die besten Voraussetzungen fürs Überleben hat, der überlebt. Das klingt nach etwas ganz Selbstverständlichem, war aber eine tiefe Einsicht. Ebenso fundamental war die daraus folgende Einsicht, dass die Entwicklung in der Biologie kein Ziel hat (nicht teleologisch ist). Sie ist jedoch auf den sehr mächtigen Überlebenstrieb abgestützt. Der sorgt für genügend Motivation, gibt genug Antrieb. Dass immer ‚intelligentere‘ Arten entstanden, war ein netter Nebeneffekt der biologischen Entwicklung, nicht jedoch das Ziel.

Das Substantiv ‚Evolution‘ ist im Deutschen schon fast belegt durch Darwin, aber noch nicht ganz. Nur das Verb ‚evolvieren‘ ist noch frei. Nur da, wo Variation, Selektion und Stabilisierung stattfinden, sollte man daher von darwinscher Evolution oder einem darwinschen Prozess (DP) sprechen. Formal ausgedrückt: Ein darwinscher Prozess ist eine Konkatination von einem Variationsprozess (VP), einem Selektionsprozess (SP) und einem Stabilisationsprozess bzw. Replikationsprozess (RP). 

DP = VP.SP.RP

Laufen nicht alle drei Teilprozesse ab oder nicht in genau der angegebenen Reihenfolge, so können dennoch teilweise dieselben Ergebnisse entstehen. Auch das kennen Informatiker, die Programme nur mit wenigen Testfällen verifizieren möchten.

Nicht alle Fachgebiete, die von Evolution reden, halten sich an diese strenge Definition. Beginnen möchte ich mit den Wissenschaften, die den Menschen zum Thema haben, nämlich Psychologie, Soziologie und Ökonomie. Die Medizin ist hier als Teil der Biologie zu verstehen.

Die Psychologie hat es schwer, Gesetzmäßigkeiten zu definieren. Soweit der Mensch als biologisches Wesen zu begreifen ist, findet die Evolutionstheorie Anwendung. Das ist selbst für die Medizin nicht ausreichend, um Erfolg zu haben. Das Individuum kann lernen, d. h. Dinge verstehen und bewerten und sich Fähigkeiten aneignen. Das Erlernte durch Kopieren an die Nachkommen weitergeben zu können, wäre schön. Es funktioniert aber nicht. Da aber beim Lernen Unterschiede bestehen, sagt man, dass hier Selektion im Spiel sei, also Darwin. Selektion ist aber nur einer der drei obigen Schritte.

In der Soziologie nimmt man zur Kenntnis, dass nicht nur Individuen lernen können sondern sogar ganze Gruppen. Man nennt das Paradigmenwechsel, Meinungsbildung, Moden oder Volksbewegungen. Es funktioniert dies nicht dank paralleler Vererbung, sondern mittels Kommunikation. Hier kommt Niklas Luhmann ins Spiel. Er erklärt Gesellschaften als selbstreproduzierende Systeme (Autopoiesie). Da nur solche Systeme kommunizieren können, die eine gewisse Zeit lang stabil sind, müssen sie Überlebenskraft haben. Die kann nur ein darwinscher Prozess geben, so glaubt man. Es stimmt aber nicht.

In der Ökonomie kennt man Wettbewerb, also Selektion. Das sei Darwinismus, schreien die Gegner von Wettbewerb. Sie möchten lieber planen, d.h. Gott spielen.

In der Physik gibt es viele Formen der Entwicklung. Eine Staubwolke wird zum leuchtenden Stern, dieser zur Supernova, dann zum roten Riesen, ehe daraus ein Schwarzes Loch wird. Dieses verändert sich weiter. Zu den Kräften, die dies bewirken, gehört die Gravitation. Sie treibt leichte Teile nach oben, schwere nach unten. Es gibt aber auch die Wärmeausdehnung, die für die Erosion verantwortlich ist. Schließlich erzeugt Reibung Wärme oder bewirkt, dass die Rotation der Erde sich verlangsamt. Hier an Darwin zu appellieren, scheint schon recht gewagt.

Für die Chemie gilt wohl dasselbe. Eine Säure frisst alles, was ihr nicht widersteht. Die Mathematik schließlich ist ganz frei von biologischen Gesetzen. Theorien heißen Vermutungen, wenn sie etwas zu erklären versuchen, was widerlegt werden kann. Es gibt zwar evolutionäre Algorithmen, mit denen versucht wird, die Prozesse zu beschreiben, die bei der Evolution eine Rolle spielen.

Die Biologie hat sich schon lange genug mit Darwin (und Mendel) beschäftigt, um zu verstehen, was passiert und um Grenzen zu erkennen. So weiß man inzwischen, dass die Gene nicht alles bestimmen. Es beginnt mit der Gen-Expression, die abhängig ist von der Umwelt. Gemeint ist, dass nicht alle Gene überall wirksam sind. Sie können an- oder abgeschaltet werden. Vor allem aber spielt die Umwelt während der embryonalen Entwicklung eine große Rolle. Ob Erlerntes zur Erbmasse wird, ist noch in der Diskussion. Das berührt die Frage, was Lernen ist. Eric Kandels Meeresschnecke speicherte Gelerntes durch Wachsen von Nervenzellen. Damit sind noch keine neuen Gene erzeugt oder Änderungen vollzogen, die richtig oder falsch kopiert werden. Die Vererbung zeigt sich am deutlichsten bei Populationen, die vom Rest der Welt abgeschlossen sind, wie bei den Galapagos-Finken und – mit  etwas  Phantasie  ̶  den Amish in Pennsylvania. Entschließt sich eine Gruppe von Lebewesen auf Nachkommen zu verzichten, ist damit die Evolution beendet.

Zu diesen Gedanken schrieb mein Freund Peter Hiemann aus Grasse:

Jeder wissenschaftlich Interessierte wird einen Ansatz wählen, den er für sein Gebiet für Erfolg versprechend hält. Für viele wissenschaftliche und technische Sachgebiete ist es unerheblich, ob ein erkenntnistheoretischer Ansatz gewählt wurde. Nur der pragmatische Erfolg einer Arbeitshypothese zählt. Ich erachte Luhmanns evolutionäre Systemtheorie als am besten geeignet, mir Erkenntnisse zu erarbeiten, die den biologischen, geistigen und gesellschaftlichen Aspekten menschlichen Lebens am ehesten gerecht werden.

Übrigens ist Luhmanns Systemtheorie auch deshalb attraktiv, weil sie einen Informationsbegriff verwendet, der dynamischen Prozessen am besten gerecht wird: „Information setzt immer voraus, dass man eine Möglichkeit gegen andere Möglichkeiten abgrenzt und innerhalb eines Bereichs von Möglichkeiten die eine oder andere als Information vorgelegt bekommt. Information ist eine Selektion aus einem Bereich von Möglichkeiten; wird die Selektion wiederholt, enthält sie keine Information mehr.“ (Einführung in die Systemtheorie, S 128).    

Luhmann definiert evolutionäre Entwicklungen als fortlaufende Kommunikationsprozesse und unterscheidet zwischen Programmsystemen, Interaktionssystemen und Funktionssystemen. Deshalb betrachtet Luhmann evolutionäre Prozesse unter dem Aspekt des iterativen Austauschs von immer neuer Information, die zu Veränderungen der Komponenten (Einzelsysteme) eines Kommunikationssystems führen, die durch Variationen und Selektionen bedingt sind. Deshalb benutzt Luhmann der Begriff "Information" ausschließlich im Sinne einer Veränderung. Luhmanns Definition erlaubt die Anwendung auf eine breite Palette von Objekten. Für mich war besonders wertvoll, dass Luhmann dem Begriff Evolution eine konkrete prozessorientierte Definition gegeben hat.

Mein Kommentar dazu: Ob man Luhmann so missbrauchen wird, wie man Darwin missbraucht hat, ist eine offene Frage. Sie ist deshalb offen, weil Luhmann bisher weniger bekannt ist als Darwin. Hiemann fährt fort:

Vielleicht ist in diesem Zusammenhang auch erwähnenswert, dass die Thesen des populären Autor des Buches "Das egoistische Gen" (Richard Dawkins) meines Erachtens überholt sind. Dawkins hat sogar versucht, das Prinzip der "egoistischen Evolution" auf die Veränderungen geistiger Objekte, die er Meme nennt, anzuwenden. Das Sachgebiet bekam den Namen "Memetik" und hat auch heute seine Anhänger (z.B. Susan Blackmore).

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.