Ein treuer Leser dieses Blogs
bezeichnete mich neulich spaßeshalber als Wissenschaftstheoretiker. Wenn das
keine Beschimpfung sei, hätte ich nichts dagegen, erwiderte ich. Anschließend
präsentierte er eine Liste mit Namen von Wissenschaftstheoretikern, die mich
sehr beeindruckten: Albert Einstein, David Hilbert, Karl Popper, Ernst Mach, Paul Lorenzen, C.F. von Weizsäcker, Jürgen Mittelstraß, u.a. Auf seiner Liste fehlte der Name Bernd-Olaf Küppers (*1944). Dass er auch dazu gehören sollte, wurde mir klar, als ich dieser Tage sein
Buch ‚Die Berechenbarkeit der Welt‘ las, das im Jahre 2012 erschienen ist. Das Buch enthält neun Vorträge des Autors aus der Zeit von
1984 bis 2006 in überarbeiteter Fassung.
Küppers schneidet in diesem
Buch viele Fragen an, die auch in früheren Einträgen dieses Blogs behandelt
wurden. Um die Aussagen von Küppers zu diesen Ausführungen in Bezug zu setzen,
will ich (Bertal Dresen, BD) die Besprechung des Buches in Form eines Gesprächs
durchführen. Meine Gesprächspartner sind zwei frühere Kollegen, die bisher mit
einer Vielzahl von Beiträgen diesen Blog bereichert haben. Hans Diel (HD) aus
Sindelfingen hat sich bisher hauptsächlich zu Fragen aus der Physik geäußert.
Peter Hiemann (PH) aus Grasse ist sehr an Fragen der Molekular-Biologie und
Soziologie interessiert. Sie haben beide das Buch von Küppers mit Interesse
gelesen. Im Folgenden geht es nicht darum, den Inhalt des Buches korrekt und
vollständig wiederzugeben. Wir greifen nur die Themen heraus, die uns zum Nachdenken
anregten.
Natur und Naturwissenschaft
BD: Man müsse die Natur als eine Menge von
kommunizierenden, dynamischen Prozessen ansehen, nicht als statische
Struktur, meint Küppers. Wo machen wir da gerne Fehler? Was folgt daraus?
HD: Wie Sie wissen propagiere ich
schon seit einiger Zeit, dass der Prozessaspekt stärker in den physikalischen
Theorien berücksichtigt werden muss. So wie es für die Beschreibung eines
Computerprogramms nicht ausreicht, Formeln für das Verhältnis von Input zu
Output anzugeben, so ist es auch bei gewissen Themen der Physik nicht
ausreichend Formeln (Gleichungen, Axiome) betreffend der Zustandsänderungen zu
geben. In den Wissenschaften, die sich
mit komplexeren Prozessen befassen (z.B. Biologie, Soziologie, Geschichte) ist
das Ignorieren des Prozessaspektes noch weniger sinnvoll. Die Präferenz der
Physiker für Formeln, Gleichungen und Axiome und die Ablehnung von prozess-basierten
Beschreibungen ist durch zwei Punkte verursacht: (1) Formeln sind viel
kompakter und schöner. (2) In
den klassischen Physiktheorien (z.B.
Newtons Mechanik) sind die Axiome und Formeln in der Tat ausreichend, um das
dynamische Verhalten abzuleiten.
PH: Es gibt vermutlich mehrere Gründe, warum
wissenschaftliche Ansätze zu wenig Aufmerksamkeit kommunizierenden, dynamischen
Prozessen widmen. Institute verharren in eingefahrenen Denkansätzen. Sie kennen nicht die technologischen Möglichkeiten, dynamische Systeme zu
modellieren. Viele Institute besitzen keine
Ressourcen (weder Personen noch ausreichende Computerkapazität), um
Computermodelle zu entwickeln.
BD: Eine ‚exakte‘ Wissenschaft könne
nur Aussagen über Dinge machen, die sie vereinfacht, abstrahiert und
idealisiert. Nicht über Dinge, wie sie wirklich sind; nicht über historische
oder evolutionäre Ereignisse. Relativiert das die Naturwissenschaften?
HD: Ich sehe da drei
unterschiedliche Punkte: (1) Vereinfachung und Idealisierungen bei
Berechnungen. Selbst in Theorien, die (weitgehend) exakt verstanden sind (z.B.
Newtons Mechanik), gibt es kaum Berechnungen, die ohne Vereinfachungen und
Idealisierungen auskommen. (2) In dem Maß, wie Theorien durch Formeln und Gleichungen
formuliert werden (siehe vorherigen Punkt) sind Idealisierungen unumgänglich.
Bei Differentialgleichungen ist die Idealisierung inhärent. Solange man sich
über die Implikationen der Idealisierung im Klaren ist, sollte dies jedoch kein
Problem sein. (3) Bei Theorien zu historischen und evolutionären Ereignissen
sind die Vereinfachungen und Idealisierungen erforderlich, um die Komplexität
auf ein verständliches (und erträgliches) Maß zu begrenzen.
PH: Naturwissenschaften können keinen Anspruch
geltend machen, im Besitz von absoluten Wahrheiten zu sein. Auch nicht im
Besitz von Gesetzmäßigkeiten, die für alle Systeme Vorhersagen aller möglichen
Systemzustände erlauben. Dynamische Systeme, die evolutionären Variationen und
Selektionen unterworfen sind, produzieren sogar unvorhersehbare Änderungen
eines Systems (Emergenz).
BD: Hier möchte ich daran erinnern,
dass sich Medizin und Ingenieurwissenschaften auch mit Heuristiken zufrieden
geben, die in 80% der Fälle zum Erfolg führen. Die Naturwissenschaften verlangen
jedoch 100% Kausalität, wohl wissend, dass sie nur über hypothetisches Wissen
verfügen. Es gilt nur für Idealfälle und unter Randbedingungen und nur bis zum
Widerruf.
Küppers meint, man müsse unterscheiden
zwischen Kausalitätsprinzip und Kausalitätsgesetz. Was heißt das? Wie drückt
sich ein Kausalitätsgesetz aus? Die Nicht-Linearität von Kausalbeziehungen
führe zu Überbestimmung oder Chaos. Wie muss man sich das vorstellen? Ist
deterministisches Chaos ein Oxymoron?
HD: Das Kausalitätsprinzip besagt,
dass nichts ohne Ursache geschieht. Das Kausalitätsgesetz besagt, dass gleiche
Ursachen auch gleiche Wirkung haben. Man sagt, dass nicht-lineare
Differentialgleichungen zu chaotischem Verhalten führen. Inwiefern
Nicht-Linearität zu Überbestimmung führen kann, verstehe ich nicht. Warum man
„deterministisches Chaos“ nicht als Oxymoron betrachtet, hat den Grund, dass
die Gleichungen und Formeln, die zu Chaos führen, deterministisch sind. Es sind
die gleichen Formeln, die auch die nicht-chaotischen Fälle beschreiben. Das
nicht-vorhersagbare (chaotische) Verhalten entsteht durch die extreme Sensibilität bzgl. der Anfangsparameter. Diese Sensibilität bzgl.
der Anfangsparameter sabotiert die Berechenbarkeit.
Zu Küppers' Hinweis auf Gödels Theorie zur
Berechenbarkeit: Auch wenn ich ein großer Bewunderer von
Gödels Theorien bin (und damit stehe ich nicht alleine), sollte man darauf
hinweisen, dass in der Praxis (z. B. bei der Erstellung von Software) die von
Gödel entdeckte Nicht-Berechenbarkeit gewisser Funktionen kaum ein Problem ist.
Durch Einschränkung des Anwendungsbereichs (z.B. kontext-freie Syntax) oder
Unterscheidung von Spezialfällen lassen sich oft Probleme, die allgemein
nicht-berechenbar sind, trotzdem berechnen. Dies ist Küppers möglicherweise
nicht bekannt. Ich finde jedoch, dass Gödels Theorie der nicht-berechenbaren
Funktionen nicht in den Kontext der Frage „Gibt es unlösbare Welträtsel?“ gehört.
Auch wenn aus der Liste der „sieben Welträtsel“ mittlerweile nur noch zwei von
Küppers als ungelöst eingeordnet werden, bedeutet dies nicht, dass die
Wissenschaft nur noch zwei ungelöste Probleme hat. Mit dem Fortschritt der
Wissenschaft ändert sich die Liste der offenen Fragen.
Physik und Quantentheorie
BD: Küppers sagt (S. 24), die Physik
erziele ihre Fortschritte, dadurch dass sie absolute Aussagen und Begriffe
gegenüber relativen aufgibt. Wo ist das außerhalb der Relativitätstheorie noch
der Fall?
HD: Neben der Relativierung von Raum und Zeit (von Küppers bereits erwähnt)
könnte ich nur noch die folgenden Punkte als Relativierung sehen:
Relativierung von Geschwindigkeit, Masse, und Energie (hängt alles mit der
Relativierung von Raum und Zeit zusammen), "Relativierung" von Ort und
Impuls durch die Quantenphysik, "Relativierung" von Vorhersagen (in Richtung
Wahrscheinlichkeiten).
BD: Küppers meint, dass die Unbestimmtheit der Quantentheorie auf Unkenntnis von Gesetzen beruhen könne? Ist der Vorwurf begründet?
HD: Auch hier müssen zwei Themen
unterschieden werden: (1) Heisenbergs Unbestimmtheitsrelation, welche z. B.
besagt, dass wenn der Ort eines Teilchens mit der Wahrscheinlichkeitsverteilung
dx gegeben ist, dann ist der Impuls
mit einer dazu „inversen“ Wahrscheinlichkeitsverteilung dp gegeben. Diese „Unbestimmtheit“ ist keine Unkenntnis. Sie ist
vielmehr eine erstaunliche Erkenntnis. (2) Der Nicht-Determinismus der Quantenphysik wird schon seit 100 Jahren
versucht durch bisher unbekannte („verborgene“) Parameter zu erklären. All
diese Versuche sind bisher fehlgeschlagen. John von Neumann hatte einen
mathematischen Beweis geliefert, dass der Nicht-Determinismus nicht durch
verborgene Parameter erklärt werden kann. Später hat sich herausgestellt, dass
von Neumanns Beweis unzulässige Annahmen enthält. Ich würde von einer etwaigen
Unkenntnis an dieser Stelle der Quantenphysik keinen Vorwurf ableiten. Ich sehe
andere mehr gravierende Punkte von Unkenntnis in der Quantenphysik (etwa die Interferenz)
und sonstigen Physik.
Evolution und Leben
BD: Das Thema Evolution scheint allmählich
für jedes naturwissenschaftliches Fachgebiet Relevanz zu haben. Es hat in der
Biologie begonnen und erfasst jetzt auch viele andere Gebiete. Täuscht das?
PH: Die Evolutionstheorie ist kein metaphysisches Forschungsprogramm,
sagt Küppers. „Die natürliche Selektion ist ein universales Naturprinzip, das
unter bestimmten physikalischen Voraussetzungen auch im Bereich der Moleküle
wirksam ist“. „Die Evolution besitzt einen nahezu unbegrenzten Spielraum von
Möglichkeiten und es ist völlig ausgeschlossen, dass sie, vom gleichen Punkt
ausgehend, zweimal denselben Weg durchläuft“.
Küppers benutzt den Begriff „Wirkungsgefüge“. „Organisierte
Wirkungsgefüge, deren Dynamik auf die Erfüllung einer Funktion ausgerichtet
ist, sind immer informationsgesteuert“. Vielleicht bezieht sich Küppers auf den
von der Hirnforschung benutzten Begriff „Dynamisches Kerngefüge“ (Gerald
Edelmann), mit dem das neuronale Phänomen Bewusstsein erklärt wird. Er beschreibt die permanente Rückkopplung zwischen dem Genom (DNA)
und den Genprodukten (Proteine). „Diese Rückkopplung ist erforderlich, damit
sich der Organismus sukzessiv aus dem Genom, d.h. seine inneren
Organisationsstrukturen, entfalten kann. Damit die Kohärenz dieses Vorgangs
gewährleistet ist, muss der Informationsaustausch zwangsläufig die Form einer
Kommunikation haben.“ In einem Systemmodell, das auf fortlaufenden (auch
rückbezüglichen) Kommunikationsprozessen zwischen Programmsystem – Interaktionssystem
– Funktionssystem basiert (Luhmann), gibt Küppers Aussage zusätzliche Relevanz.
Unter anderem erklärt sich darin der Unterschied zwischen „algorithmisch
relevanter“ und „funktionell relevanter“ Information.
BD: Die Definition von Leben
(Stoffwechsel, Selbstreproduktion, Mutabilität) sei in der Physik anders als in
der Biologie, meint Küppers. Für Physiker sei Leben lediglich eine komplexe Ordnung,
für Biologen dagegen spiele das Auftreten von Information die entscheidende
Rolle. Wer hat Recht?
PH: Küppers bringt den Sachverhalt
eines lebenden Systems auf die Formel: „Leben = Materie + Information“. Er postuliert:
„Für alle Stufen der belebten Materie, vom Biomolekül bis zum Menschen, sind
die allgemeinen Prinzipien der Erzeugung, Speicherung und Übertragung von
Information essentiell.“ Er weist darauf hin, dass sich verschiedene
wissenschaftliche Fragestellungen auf Grund der Analyse einer gemeinsamen
Struktur ergeben. „Der Physiker betrachtet z.B. primär thermodynamische Aspekte
bei der Entstehung geordneter Strukturen. Der Molekularbiologe interessiert
sich für Merkmale der belebten Materie, z.B. für die Tatsache, dass Lebensvorgänge
informationsgesteuert sind. Der Zellbiologe wird die Zelle als autonome
Lebenseinheit betrachten.“
BD: Ist es nicht so, dass jedes
Fachgebiet sich einfach auf die Aussagen beschränkt, die es mit den ihm zur
Verfügung stehenden Methoden und Begrifflichkeiten machen kann. In manchen
Fällen, so bei den Themen Leben und Information, reicht das einfach nicht. Die Evolution
gäbe es auch in der Physik. Stimmt das?
HD: Evolution im Sinne von
(dynamischer) Weiterentwicklung von (komplexen) Systemen gibt es natürlich auch
in der Physik. Evolution, wie sie in der
Biologie definiert ist, ist mir in der Physik nicht bekannt.
PH: Der Übergang von unbelebter zu belebter Materie sei
fließend, meint Küppers. „Die Phase der chemischen Evolution unter
präbiotischen Reaktionsbedingungen war durch die Vielfalt chemischer
Verbindungen gekennzeichnet. Der entscheidende Schritt zur Entstehung von Leben
ist die konvergente Phase der Selbstorganisation gewesen (Hyperzyklus nach
Manfred Eigen).“ „Für die Ausbildung informationstragender Moleküle und
Molekülsysteme ist die natürliche Auslese unverzichtbar, weil überhaupt nur auf
diesem Wege Information entstehen kann.“ In den Experimenten mit
genetischem Material eines RNA-Virus, das Bakterien befällt (eines Phagen),
konnte gezeigt werden, dass Evolution eines RNA-Virus auch mit Verlust genetischer Information (Reduktion
von Komplexität) einhergehen kann.
Naturgesetze und ihre Simulation
BD: Die Naturgesetze seien
Differentialgleichungen, so heißt es. Sie setzten Anfangs- oder Randbedingungen
voraus. Kennen Sie Beispiele mit konkreten Randbedingungen? Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass außerdem Schrittweite und Zahlendarstellung sehr kritisch sein können. Was entspricht dem in der Natur?
HD: Beispiele für Randbedingungen
(nur für bestimmte Differentialgleichungen) sind: Die Energie darf keine negativen Werte
annehmen; ein Wert im Nenner (z.B. Masse) darf nicht Null werden; die
Wahrscheinlichkeit darf nicht größer als 1 werden; das betrachtete System muss
abgeschlossen sein. Ja, ich sehe, dass es so etwas wie den Einfluss von Schrittweite
und Zahlendarstellung auch in der Natur gilt und, dass (auch) deswegen die Formeln der Physik
meistens Idealisierungen sind (siehe oben). Was dies für die Physik bedeutet
wäre ein Thema für eine längere Diskussion.
BD: Physikalische Prozesse benötigen
Zeit. Alle bekannten Prozesse (z.B. Wärme-Austausch, Ausbreiten von Licht) laufen
nur in einer Richtung. Sie sind nicht reversibel. Sie haben einen Effekt,
hinterlassen eine Spur. Warum tut die Physik so, als ob die reversiblen Prozesse
der Normalfall wären? Warum wird Zeit so mühselig mittels Entropie erklärt?
HD: Ich bin der Meinung, dass (1) die Gesetze der Physik keineswegs
generell zeitsymmetrisch sind, und (2) um die Zeitasymmetrie zu zeigen, nicht
auf die Entropie verwiesen werden muss. Da mir jedoch kein Physiker bekannt ist, der das genauso sieht, und ich nicht
so anmaßend bin zu glauben, dass ich das besser verstehe als all die
Physiker, werde ich meine Argumente hier nicht ausbreiten. [Im nachfolgenden Eintrag wird dieses Thema vertieft]
BD: Das Computer-Experiment, das eine
beliebige Zeichenkette solange variiert, bis dass eine vorgegebenes Wort
entsteht, ist eher irritierend als erklärend. Wissen Sie warum man den Quatsch
immer noch bringt? Auch das Evolutionsspiel von Manfred Eigen überzeugte nicht.
HD: Ich habe das so verstanden, dass
diese Spiele demonstrieren sollen wie die Mischung von Zufall und
(deterministischer) Funktion den Konfigurationsraum für mögliche Ergebnisse
drastisch erhöht. Ich glaube, das wird auch demonstriert.
PH: Die Experimente zeigen, dass Evolution nicht mit
Fortschritt (Zunahme von Komplexität) gleichgesetzt werden darf. Küppers ist
sich bewusst, dass wissenschaftlich analytische Methoden unverzichtbar sind. Er
gibt aber auch ein paar Hinweise, dass strukturwissenschaftliche Methoden
durchaus das Potential besitzen, gewisse Zustandsvorhersagen für dynamische
Systeme, die sich analytischen Methoden entziehen, zu liefern. Aus Küppers
Sicht bieten Computermodelle vielfältige Möglichkeiten Prozesse dynamischer
Systeme zu simulieren. Damit besitzen Wissenschaftler strukturwissenschaftliche
Werkzeuge, die Einblicke in nicht-berechenbare „Mustervorhersagen“ ermöglichen.
Information und Kommunikation
BD: Wenn nur physikalische Kräfte im Spiel sind, wie beim Boxen und Billardspiel, dann ist das wohl Interaktion ohne Kommunikation. Wo liegt
die Trennungslinie? Wann wurde die Information als Kommunikationsmittel zum
ersten Mal benutzt (100 Millisekunden oder 100 Millionen Jahre nach dem
Urknall)?
HD: Interessante Frage. Zur Kommunikation (d.h. zum Austausch von Information) werden immer auch physikalische Prozesse benötigt.
HD: Interessante Frage. Zur Kommunikation (d.h. zum Austausch von Information) werden immer auch physikalische Prozesse benötigt.
PH: Die Trennungslinie muss man vermutlich auf
der Ebene informationstragender Moleküle (Nukleinsäuren vom Typ RNA) suchen.
Küppers postuliert: „Für
die Ausbildung informationstragender Moleküle und Molekülsysteme ist die
natürliche Auslese unverzichtbar, weil überhaupt nur auf diesem Wege Information
entstehen kann.“
BD: Sehr ausführlich befasst sich
Küppers mit dem Informationsbegriff. Vieles von dem, was er sagt, deckt sich
mit der in diesem
Blog vertretenen Meinung. Information existiere nur in Bezug auf einen bestimmten
Empfänger. Claude Shannon habe nur an den Sender gedacht. Auch Gregory Chaitins algorithmische Informationstheorie ignoriere die Bedeutung. Bedeutung sei eigentlich Teil der Pragmatik. Sie ergäbe sich aus dem Weltbezug. Bedeutung gäbe es nur relativ zu anderer Information. Der (Neuigkeits-) Wert von Information hänge vom Zustand des Empfängers ab. Das alles klingt recht gut. Was folgt daraus?
HD: Das weiß ich auch nicht. Das kann höchstens Konsequenzen haben für Theorien, die etwas zur Information sagen. Nach Küppers ist Information ein Naturphänomen (d.h. Gegenstand der Naturwissenschaften). Die gegenteilige Meinung (etwa eines Konstruktivisten) sei aus mehreren Gründen falsch. Verschiedene wissenschaftliche Disziplinen haben ein verschiedenes Verständnis von „Information“. Küppers sieht darin kein Problem. Hier ist er inkonsequent, da er sonst für fachübergreifende Begriffe plädiert.
HD: Das weiß ich auch nicht. Das kann höchstens Konsequenzen haben für Theorien, die etwas zur Information sagen. Nach Küppers ist Information ein Naturphänomen (d.h. Gegenstand der Naturwissenschaften). Die gegenteilige Meinung (etwa eines Konstruktivisten) sei aus mehreren Gründen falsch. Verschiedene wissenschaftliche Disziplinen haben ein verschiedenes Verständnis von „Information“. Küppers sieht darin kein Problem. Hier ist er inkonsequent, da er sonst für fachübergreifende Begriffe plädiert.
PH: Nach Küppers‘ Auffassung ist Information immer auf andere
Information bezogen. Information in einem absoluten Sinn existiert nicht. Der Wert von Information hängt nicht vom
Zustand eines Senders und Empfängers ab, sondern wie eine Variation eines
inhärenten Programms oder eines existierenden Funktionsumfanges während des Kommunikationsprozesses behandelt (selektiert
= akzeptiert oder verworfen oder ignoriert) wird.
BD: Kommunikation verlange Sprache. Sprechakte
bezögen sich immer auf einen Handlungskontext. Man könne nur verstehen, wenn man
schon versteht. Das seien typische Aussagen von Linguisten. Kann linguistische
Forschung (z. Bsp. Chomskys Sprachmodelle) der Biologie helfen?
PH: Küppers betrachtet Sprache als ein Naturphänomen und als
„Prinzip zur Organisation und als Mittel zum Austausch von Information“.
Sprache in diesem Sinn reicht von Information in genetischer Form bis zu
menschlichen komplexen geistigen Vorstellungen. Chomkys Vermutung, dass Grundregeln
menschlicher Sprache im menschlichen Genom verankert sind, ist vermutlich
unzutreffend. Der Erwerb menschlicher Sprache erfordert fortlaufende
Kommunikation mit einem menschlichen Umfeld. Menschliche Kommunikation erfolgt nicht nur
über Sprechakte sondern auch über intuitive Reaktionen, Mimik und Gesten.
Sprechakte erfordern ein hohes Maß an symbolischem Verständnis, das mühsam erworben werden muss. Übrigens gilt nach
Küppers, dass „Wechselwirkungsprozesse zwischen Begriffs- und
Theoriebildung nicht notwendig zu einer
Vereinheitlichung der Begriffe führen müssen.“ Information sei kein Naturgegenstand,
sondern lediglich ein zum Entropiebegriff korrespondierender Strukturbegriff.
Struktur- und Geisteswissenschaften
BD: Ist es sinnvoll Strukturen
unabhängig von Zweck und Inhalt zu studieren? Also Strukturwissenschaft zu
betreiben? Man sucht mühsam nach Themen. In der Physik von Sprachen zu reden,
ist doch nur Metapher?
HD: In den
„strukturwissenschaftlichen Disziplinen“ (siehe S. 273) weiter zu forschen
macht durchaus Sinn. Die dort erforschten Erkenntnisse auf allen möglichen Gebieten
anzuwenden, macht auch Sinn. Ein Wissenschaftsgebiet „Strukturwissenschaft“,
das den Anspruch hat die verschiedenen Gebiete zu vereinen oder zu verbinden,
sehe ich noch nicht als erstrebenswert.
PH: Eine Struktur erscheint dem Betrachter als „ungeordnet“,
„selbstähnlich“ oder „geordnet“. Die
verschiedenen Formen struktureller Komplexität sind in Wirklichkeit fließend.
Auf der mikroskopischen Skala der Betrachtung werden auch beeindruckende Formen
dynamischer Komplexität ersichtlich. Insbesondere zeigt Küppers eine Graphik
über „funktionale Komplexität“, wie sie in der geordneten Dynamik zellulärer
Stoffwechselprozesse zum Ausdruck kommt.
Seine Aussage, dass „strukturwissenschaftliches Denken
wissenschaftliches Denken schlechthin ist“, werden wohl alle wissenschaftlich
und ingenieurwissenschaftlich Tätigen mit ihm teilen. Küppers Prognose, dass
mehr oder weniger unabhängigen abstrakten „Strukturwissenschaften“ zukünftig
eine dominierende Rolle zufällt, ist mehr als zweifelhaft. Küppers Denkansätze
können aber helfen, divergierende wissenschaftliche Denkansätze einzelner
wissenschaftlichen Domänen zusammenzuführen. Es wäre auch denkbar oder gar
wünschenswert, gewisse strukturwissenschaftliche Methoden in einigen speziellen
akademischen wissenschaftlichen Domänen (z.B. Systemtheorie, Netzwerktheorie,
Informationstheorie) zu konzentrieren. Lehrstuhlinhabern solcher Domänen könnte
die gleiche Rolle für andere Wissensfächer zufallen, wie Statikern eine
grundlegende Rolle für alle Bauingenieure zukommt.
BD: Die Geisteswissenschaften
studieren Ereignisse, die Geschichte. Historikern gehe es ums Sinnverstehen
menschlichen Handelns. Die Naturwissenschaften versuchen Gesetze zu erkennen.
Können beide zusammenkommen? Ernst Cassirer machte
den Versuch beide zu vereinigen. Seine Lösung: Das Besondere ergibt sich aus der
Vielzahl der Beziehungen zum Allgemeinen. Ist das nur Wunschdenken?
PH: Dass sich der Begriff „Geisteswissenschaft“ als
Gegensatz zum Begriff „Naturwissenschaft“ eingebürgert hat, ist wenig
hilfreich. Es gibt einige nicht naturwissenschaftlichen Domänen bzw. Systeme,
die durchaus schon heute mit strukturwissenschaftlichen Methoden bearbeitet
werden und weiterentwickelt werden können. Zum Beispiel Systemmodelle für ökonomische (Unternehmen),
Infrastruktur- (Kommunen) oder soziale (Gesundheit, Alter) Prozesse. Die Analyse historischer Ereignisse mit
strukturwissenschaftlichen, statistischen Methoden wird nur sehr einschränkende
Aussagen zu menschlichen Verhalten liefern können (Kriege? Umweltkatastrophen?). Evolutionäre historische Abläufe wiederholen sich nicht.
Nicht so Überzeugendes
Nicht so Überzeugendes
BD: Es gibt ein Kapitel über
‚Schönheit‘ als Kriterium für Wahrheit. Ich halte das für mathematische
Romantik! Desgleichen gilt für den Versuch, Gesetze für die Geschichte der
Menschheit zu finden.
HD: Was schön ist, bleibt letztlich
subjektiv (jedoch nicht völlig subjektiv!). Ob A schöner ist als B, wird nie
berechenbar sein. Man kann eine Parallele zu Occams Razor ziehen, dass nämlich die
einfachsten (i.e. minimalsten) Annahmen zu der bevorzugten Theorie führen sollten.
Was die einfachsten Annahmen sind, ist oft auch (leicht) subjektiv.
BD: Ich finde, dass der Buchtitel
‚Berechenbarkeit der Welt‘ einen falschen Eindruck erweckt, dass dies nämlich ein
realistisches Ziel sei. Es ist fast so, als ob ein Mediziner über die
Heilbarkeit aller Krankheiten spricht, um Aufmerksamkeit zu erlangen.
HD: Es geht Küppers eher darum, die
Probleme und Grenzen der Berechenbarkeit in den verschiedensten Gebieten
aufzuzeigen, und weniger zu zeigen, dass oder wie man alles Mögliche berechnen
kann.
PH: Warum Küppers Buch den Titel ‚Die Berechenbarkeit der Welt‘
trägt, bleibt sein Geheimnis. Vermutlich hat der Hirzel Verlag darin ein
Verkauf förderndes Argument gesehen. Küppers ist sich offensichtlich bewusst,
dass die natürliche Welt nicht berechenbar ist. Bestenfalls kann man dem
Bemühen, mehr über die Welt zu wissen, auf die Sprünge helfen.
Zusammenfassung
PH: Küppers Hauptanliegen ist zu zeigen, dass alle wissenschaftlichen
Domänen gut beraten sind, sich mit strukturwissenschaftlichen Methoden vertraut
zu machen und zu benutzen. Insbesondere widmet sich Küppers Perspektiven und
Methoden, mit denen sich dynamische selbst-organisierende Strukturen und deren
evolutionäre Entwicklungen erklären lassen.
Am Ende stellt sich eine zusätzliche Frage, die auch in Küppers Buch
vielleicht nicht offen aber verdeckt gestellt wird: Warum wird erst heute
offensichtlich, dass Aspekte der Komplexität, der Nichtlinearität, der
Selbstorganisation und der Evolution für viele Wissenschaften eine wichtige
Rolle spielen, obwohl entsprechende Erkenntnisse schon vor mehr als 30 Jahren
verfügbar waren. Küppers verweist mehrfach auf Arbeiten des Nobelpreisträgers
Manfred Eigen, der schon 1971 über „Self-Organization of Matter and the
Evolution of Biological Macromolecules“ publiziert hat. Küppers würdigt auch Niklas
Luhmanns „funktionale Systemtheorie“ als den bisher umfassendsten Versuch einer
strukturwissenschaftlichen Grundlegung der Theorie sozialer Systeme. Übrigens
hat Luhmann das Prinzip „Blind Variation and Selective Retention“ von Donald T.
Campbell (1916 – 1996), einem amerikanischen Soziologen, übernommen. Es wird
gesagt, dass Campbell sich viele Gedanken über die Herkunft und Beharrlichkeit
von „falschem Wissen“ gemacht hat. Zum Beispiel scheinen traditionelle
Vorurteile und Konventionen ursächlich dafür zu sein, dass an fehlerhaften
Vorstellungen und Theorien festgehalten wird.
Nachtrag am 30.5.2013 von Peter Hiemann:
ich habe ein Video gefunden, in dem Küppers und Eigen sich zum Thema Selbstorganisation äußern. Das Video ist eine schöne Ergänzung zu Ihrem Blog-Eintrag. Der Link ist
http://www.youtube.com/watch?v=cBe1Ctvjm-8
Ich fand in dem Video auch Hinweise, die mich motivieren, meine Studien und Überlegungen über Selbstorganisation in biologischen, geistigen und gesellschaftlichen Systemen weiter zu treiben. Vielleicht haben Sie auch Lust (wie ich), Manfred Eigen eine halbe Stunde zuzuhören:
http://www.3sat.de/mediathek/index.php?display=1&mode=play&obj=26476
NB: Erstaunlich wie viele ähnliche Gedanken Manfred Eigen in dem Gespräch anspricht. Er zitiert übrigens C. F. von Weizsäckers Definition von Information, die ich nicht kannte: Information ist nur das, was Information erzeugt, Information ist das, was verstanden wird. Darüber kann man viel nachdenken.