Montag, 6. Mai 2013

‚Hidden Champions‘ und das Exportwunder

Nachdem ich mich mehrmals etwas kritisch zur Situation der deutschen Wirtschaft geäußert habe, ist es an der Zeit, dem dadurch geschaffenen Eindruck etwas entgegenzustellen.  Anlass hierfür ist für mich das Buch von Hermann Simon mit dem Titel ‚Hidden Champions des 21. Jahrhunderts‘. Es erzählt eine ausgesprochen positive Geschichte, nämlich die des durch den deutschen Mittelstand bewirkten Exportwunders. Das Buch hat 452 Seiten und erschien im Jahre 2007. Das ist sechs Jahre her, war also vor der Insolvenz von Lehman Brothers und der nachfolgenden Wirtschaftskrise. Ein Auftritt des Autors letzte Woche in der 3SAT-Sendung  ‚Scobel‘ machte mich auf das Buch aufmerksam. Das Buch hat – wie man das von einem lesenswerten Buch erwartet  ̶  in mehreren Punkten meine Meinung bestätigt oder verändert oder aber meinen Blickwinkel erweitert.

Der Autor ist fest davon überzeugt, dass wir in Deutschland einige der besten Firmen in der Welt haben und auf sie stolz sein können. Zulange hat man die deutsche Industrie gleichgesetzt mit unseren DAX-Konzernen, den BASF, Bayer, BMW, Bosch, Daimler, Miele, SAP, Siemens und VW. Diese Firmen sind zwar auch nicht schlecht, ihresgleichen gibt es jedoch in allen Ländern der industrialisierten Welt. Viele Firmen aus dem Mittelstand sind zwar unbekannt, aber enorm erfolgreich. Keine von ihnen bettelt um Subventionen. Sie strahlen Optimismus aus und vertrauen auf die eigene Kraft. Im Folgenden werde ich die Aussagen des Buches nach einigen der Merkmale gruppieren, die zu den Erfolgsfaktoren der ‚Hidden Champions‘ wurden. Es verleitet mich darüber hinauszugehen, und einige mögliche Lehren für mein Fachgebiet, die Informatik, abzuleiten.

Mutige Ziele und solide Visionen

Der Erfolg im Leben und in der Wirtschaft stellt sich selten von selbst sein. Meistens steht am Anfang der unternehmerische Wille, der sich in konkreten Zielen ausdrückt. Diese Ziele können qualitativer Art sein (bester, freundlichster Lieferant im Markt) oder quantitativ (% Umsatzsteigerung). Das Wort Vision vermeidet man, da es nicht immer gelingt eine gute Balance zu finden zwischen Realitätssinn und Utopie. Wer dennoch von Visionen spricht (wie Reinhold Würth), muss dafür sorgen, dass sie durch Analysen begründet sind, sonst entwickeln sie ein Eigenleben.

Alle erfolgreichen Mittelständler bekennen sich zu Wachstum und Marktführerschaft. Dazu wird Energie und Führungskraft benötigt. Nur dadurch werden alle Mitarbeiter auf die Ziele eingeschworen (engl. committed) und ziehen am gleichen Strang. Typischerweise verzehnfachte sich der Umsatz einiger Unternehmen zwischen 1995 und 2005. Aus der Informatik-Branche gehören dazu Logitech, Bechtle, IDS Scheer und Software AG. Neu im Kreis ist die Firma Omicron, die Raster-Mikroskope herstellt. Als Wachstumstreiber gelten vorrangig die Globalisierung, danach die Innovation.

Starke Fokussierung und Spezialisierung

Alle Unternehmen dieser Gruppe bedienen Nischenmärkte. Sie sind Spezialisten par excellence. Sie vertiefen ihr Leistungsangebot entlang der Wertschöpfungskette anstatt die Verbreiterung (Diversifikation) zu suchen. Durch die starke Fokussierung wird keine Energie außerhalb des Kreises potentieller Kunden verschwendet. Dort – wo es darauf ankommt – ist man sehr bekannt. Man macht keine unnötige Werbung. [Ein Freund berichtete mir von der Firma seiner Schwester, die ihre medizinischen Spezialgeräte ausschließlich über Google vertreibt. Sie zahlen Google fünf Dollar pro Klick]  

Am besten sind die Unternehmen dran, die sich einen neuen Markt schufen, auf dem es noch keine Mitbewerber gab. Sie sind dann quasi die Marktbesitzer. Das Risiko besteht dann darin, dass der Markt schrumpft oder verschwindet. Deshalb betreiben einige Unternehmen eine ‚weiche‘ Diversifikation. Beispiele sind die Firma Trumpf in Ditzingen, die von ihrem Spezialgebiet der industriellen Lasertechnik in die Medizintechnik expandierte, und Gieseke & Devrient, die außer Geldscheinen jetzt auch Chip-Karten anbietet. Die Gefahr, sich zu verzetteln, ist groß. Wo es darauf ankommt, schlägt der Spezialist den Generalisten. Außer den bereits erwähnten gelten folgende Firmen als Weltmarktführer: 3B Scientific, Phoenix Contact und Wacker. Wie bei Vitronic und Brainlab (siehe unten) ist sehr oft die Persönlichkeit des Firmengründers sehr bestimmend. Outsourcing ist für diese Art von Firmen keine Alternative. In der Tiefe der Wertschöpfungskette liegt ihre Stärke.

Bewusste Globalisierung

Will man seine Stärke als Spezialist zur Geltung bringen, muss man dahin gehen, wo die potentiellen Kunden sind – so wie dies schon der mittelalterliche Handwerker und Heilpraktiker tat. Warten, bis die Kunden zu einem selbst kommen, konnten sich nur wenige leisten (vielleicht die Goldschmiede). Um hohe F&E-Kosten zu rechtfertigen, muss man aus Europa heraus. Der Weltmarkt ist 10-12 Mal so groß wie der deutsche Markt. Das Wachstumspotential liegt vor allem in Osteuropa und Asien. Die USA sind ein harter Testmarkt (frei nach dem Lied über New York ‘If you make it there, you‘ll make it everywhere’). Der Warenaustausch beträgt bereits über 2000€ pro Jahr pro Kopf der Weltbevölkerung, und wächst, wie am Container-Verkehr leicht zu erkennen.

Besser als Japaner und Südeuropäer beherrschen Nord- und Mitteleuropäer die Kommunikation in Englisch. Außerdem steigt die Zahl ausländischer Studenten, die später als Botschafter für deutsche Produkte in ihren Heimatländern werben. Nicht nur unsere oben erwähnten DAX-Unternehmen profitieren davon. Auch Mittelständler wie Stihl und Kärcher sind zu Weltmarken aufgestiegen. Für Marktführer sind die Margen hoch. Sie erkämpfen ihren Marktanteil nicht durch niedrige Preise, sondern durch gute Leistung. Sie überzeugen durch Technologieführerschaft, Produktqualität, Wirtschaftlichkeit und Liefertermintreue. Viele der Mittelständler sind Familienunternehmen. Sie können daher langfristig denken, nämlich in Generationen statt in Quartalen.
  
Innovation und Leistungsbereitschaft

Innovationen können sich auf Produkte und Prozesse beziehen. Entscheidend ist die Leistungsbereitschaft der Mitarbeiter. Die Anregungen für Innovationen können primär von innen kommen, aber auch von außen (Stichwort Offene Innovation [1]). Die Bedeutung von Erfindungen ist unbestritten. Nur bezüglich des Werts der Patentierung gibt es Meinungsverschiedenheiten zwischen den Branchen. Als Beispiel zweier unterschiedlicher Auffassungen gelten Biotechnik (für Patente) und Informatik (gegen Patente). Der Aufwand, der mit ihrer Durchsetzung und Verteidigung verbunden ist, schreckt ab. Statt sich zu verteidigen, gibt man sich lieber gleich geschlagen.

Der Aufwand, den ‚Hidden Champions‘ für F&E betreiben, ist  bei einigen doppelt so hoch wie beim Durchschnitt der entsprechenden Branche. Simon hat festgestellt, dass bei diesen Unternehmen drei Mal so viele Patente pro Mitarbeiter angemeldet werden als beim Branchendurchschnitt. Einen besonders hohen Wert misst z.B. die Firma Sennheiser ihren Patenten zu, weil sie im Wettbewerb mit Sony steht, einem Industrie-Giganten. Die Firma Enercon nimmt für sich in Anspruch, dass sie 40% aller Patente der Windenergie-Branche besitzt.

Kundennähe und Dezentralisierung

Die wahre Stärke der ‚Hidden Champions‘ zeigt sich in ihrer Kundennähe. Da sie in der Regel keine Produkte für den Massenmarkt herstellen, werden Kundenbeziehungen langfristig gepflegt. Dank des Direktvertriebs wird man von Top-Kunden zur Leistung angetrieben. Nicht nur hört die Entwicklung auf den Kunden, sondern auch auf den eigenen Fertigungsbereich. Ein Musterbeispiel für direkte Kommunikationsform wird von der österreichischen Firma Krones berichtet. Damit Monteure nicht von Konstrukteuren untergebuttert werden, berichten sie über ihre Erfahrungen stets in Anwesenheit des Firmenleiters.

Die organisatorische Dezentralisierung dient ebenfalls dazu, Kommunikationswege zu verkürzen. Produkte werden ständig und in kleinen Schritten verbessert. Man wartet nicht auf große Durchbrüche. Es ist entscheidend, dass man auch die kleinen Dinge besser macht als andere. Die Stärke der Ingenieure ist das Sowohl-als-auch-Denken.

Lehren für die Informatik

Für die Informatik gilt zweierlei: (1) Obwohl diese Firmen primär in andern Branchen tätig sind, können IT-Firmen sehr viel von ihnen lernen. Der Autor ist offensichtlich mit der Software-Branche nicht vertraut. Vielleicht hätte er einige ‚Hidden Champions‘ benennen können. Das Bild wäre trotzdem nicht sehr günstig ausgefallen. (2) Informatik-Studenten benennen zwar internationale Großunternehmen, deren Produktmarke bekannt ist, wenn sie nach dem Wunscharbeitsgeber gefragt werden. Die Mehrzahl von ihnen geht jedoch zu Firmen des Mittelstands. Das ist völlig richtig so. Die großen Firmen – mit SAP an der Spitze – sind nämlich nicht auf Informatiker aus Deutschland angewiesen.

Meiner Überzeugung nach liegen die Ursachen dafür, dass in Deutschland die Informatik – mit Ausnahme von SAP – ein verhältnismäßig schwaches Bild abgibt, an den Besonderheiten unserer Informatik-Ausbildung. Pragmatismus ist bei uns als unwissenschaftlich verschrien. Erfindungen zu machen, ist verpönt. Die aus der Mathematik stammenden Professoren gefallen sich dabei, alles was praktische Relevanz hat, als Fachhochschul-Niveau zu diffamieren. Man engagiert sich lieber im Semikolon-Krieg, d.h. im Streit um die ‚beste‘ Programmiersprache. Ich erinnere mich noch sehr gut an die Polemiken gegen 4GL-Sprachen wie ABAP, die in Vorlesungen verbreitet wurden. Stattdessen wurde auch 30 Jahre nach Einführung von Algol 60 noch Disputationen über den Unterschied von ‚Call by value‘ und ‚Call by name‘ als Wissenschaft gepflegt.

Unsere Hochschulen sehen es nicht als ihre Aufgabe an, zukünftige Unternehmer oder Erfinder auszubilden. Sie ziehen lediglich Importeure heran für ausländische Ideen und Produkte. So lange Informatiker eher als mittelmäßige Mathematiker denn als gute Ingenieure ausgebildet werden, wird sich daran auch nicht viel ändern. 

Einschränkende Zusammenfassung

Das Buch von Hermann Simon versucht eine wichtige Aufgabe zu erfüllen. Es will die Stimmung im Lande aufhellen, die nach seiner Ansicht schlechter ist als die Lage. Wir sollten Mut und Selbstvertrauen schöpfen, und zwar nicht nur in den Branchen, in denen die ‚Hidden Champions‘ angesiedelt sind. Wo es negative Nachrichten gibt, etwa den Stellenabbau betreffend, da stammen diese eher von Großfirmen als von Mittelständlern.

Die von Simon beschriebene Situation ist typisch nicht nur für Deutschland, sondern auch für Österreich, die Schweiz und Luxemburg. In Frankreich verlässt sich die Industrie ziemlich stark auf den Staat. Simon sieht es als Irrweg an, so genannte nationale Champions mit dem Staat als Garanten schaffen zu wollen. In Japan sind KMUs völlig abhängig von der Großindustrie. Sie wagen es nicht, selbständig im Ausland aufzutreten. In den USA existieren so gut wie keine mittelständigen Firmen.

Karriere-Vorbilder

Meine früheren Listen von Unternehmern und Erfindern, die Vorbild für junge Studierende sein könnten, kann ich um zwei weitere Namen (Norbert Stein, Stefan Vilsmeyer) ergänzen.

Norbert Stein (193x-), promovierter Elektrotechniker, gründete 1984 die Firma Vitronic in Wiesbaden. Über 10.000 ihrer Bildverarbeitungssysteme haben branchen- und weltweiten Einsatz gefunden. In der Automobilindustrie dienen sie der robotergeführten Schweißnaht-Inspektion. In der Logistik lesen sie Adressen und Versandcodes und steuern den Materialfluss in Paketverteilzentren. Sie erlauben Bekleidungshäusern mittels Ganzkörperscan Kleidung nach Maß herstellen zu lassen. Sehr bekannt ist die automatische Erkennung von Autokennzeichen bei Toll Collect. Jährlich investiert Vitronic mehr als 10 Prozent des Umsatzes in Forschung und Entwicklung. Mehr als die Hälfte ihrer Produkte ist jünger als drei Jahre. Das Unternehmen hat derzeit 500 Mitarbeiter, von denen mehr als die Hälfte einen Hochschulabschluss hat. Es hat Niederlassungen in Australien, China, Malaysia, Litauen, England und Frankreich. Stein ist Vorsitzender des Fachverband Robotik und Automation im VDMA. Im Jahre 2005 wurde er als „Entrepreneur des Jahres“ ausgezeichnet und erhielt in den USA einen Preis für sein Lebenswerk.

Stefan Vilsmeyer (1967-) gründete im Jahre 1989, also im Alter von 22 Jahren, die Firma Brainlab in Feldkirchen bei München. Er war damals Student der Informatik an der TU München im ersten Studiensemester. Im Alter von 17 Jahren hatte er ein Buch über 3D-Grafik verfasst, das mit mehr als 50.000 verkauften Exemplaren ein wahrer Bestseller geworden war. Die Firma Brainlab entwickelt und vermarktet komplette Hardware- und Softwaresysteme für das bildgesteuerte Operieren sowie die Strahlentherapie. Sie gehört  mit mehr als 5.000 installierten Systemen in etwa 80 Ländern zu den Marktführern. Die Brainlab-Gruppe beschäftigt derzeit 1.070 Mitarbeiter weltweit, mit rund 600 Mitarbeitern an dem Brainlab-Hauptsitz in München. Das Unternehmen verfügt über 17 Niederlassungen in Europa, Asien, Australien, Nord-und Südamerika. Im Dezember 2002 wählte das World Economic Forum (WEF) in Davos ihn zu einem "Global Leader for Tomorrow‘. Vorher schon erhielt er den Bayerischen Innovationspreis für das Jahr 2000.

Zusätzliche Referenz
  1. Endres, A.: Offene Innovationen und die sie begünstigenden Systeme. Informatik-Spektrum 34,4 (2011), 391-399

1 Kommentar:

  1. Am 7.5.2013 schrieb Hermann Simon aus Bonn:

    Danke für die Rezension in Ihrem Blog... Kann es sein, dass Ihnen die frühere Ausgabe des Buches in die Hände gefallen ist. Die neue ist im Herbst 2012 erschienen. Die grundlegenden Einsichten haben sich nicht geändert. Zwei Kapitel sind völlig neu und sehr viele neue Cases...

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