Nachdem ich mich mehrmals etwas kritisch zur Situation der deutschen
Wirtschaft geäußert habe, ist es an der Zeit, dem dadurch geschaffenen Eindruck
etwas entgegenzustellen. Anlass hierfür ist
für mich das Buch von Hermann Simon mit
dem Titel ‚Hidden
Champions des 21. Jahrhunderts‘. Es erzählt eine ausgesprochen positive
Geschichte, nämlich die des durch den deutschen Mittelstand bewirkten
Exportwunders. Das Buch hat 452 Seiten und erschien im Jahre 2007. Das ist sechs Jahre her, war also vor der Insolvenz von Lehman Brothers und der nachfolgenden Wirtschaftskrise. Ein Auftritt
des Autors letzte Woche in der 3SAT-Sendung
‚Scobel‘ machte mich auf das Buch aufmerksam. Das Buch hat – wie man das
von einem lesenswerten Buch erwartet ̶ in mehreren Punkten meine Meinung bestätigt oder verändert oder aber
meinen Blickwinkel erweitert.
Der Autor ist fest davon überzeugt, dass wir in Deutschland einige der
besten Firmen in der Welt haben und auf sie stolz sein können. Zulange hat man die deutsche Industrie gleichgesetzt
mit unseren DAX-Konzernen, den BASF, Bayer, BMW, Bosch, Daimler, Miele,
SAP, Siemens und VW. Diese Firmen sind zwar auch
nicht schlecht, ihresgleichen gibt es jedoch in allen Ländern der industrialisierten
Welt. Viele Firmen aus dem Mittelstand sind zwar unbekannt, aber enorm
erfolgreich. Keine von ihnen bettelt um Subventionen. Sie strahlen Optimismus
aus und vertrauen auf die eigene Kraft. Im Folgenden werde ich die Aussagen des
Buches nach einigen der Merkmale gruppieren, die zu den Erfolgsfaktoren der
‚Hidden Champions‘ wurden. Es verleitet mich darüber hinauszugehen, und einige
mögliche Lehren für mein Fachgebiet, die Informatik, abzuleiten.
Mutige Ziele und solide Visionen
Der Erfolg im Leben und in der Wirtschaft stellt sich selten von selbst
sein. Meistens steht am Anfang der unternehmerische Wille, der sich in
konkreten Zielen ausdrückt. Diese Ziele können qualitativer Art sein (bester,
freundlichster Lieferant im Markt) oder quantitativ (% Umsatzsteigerung). Das
Wort Vision vermeidet man, da es nicht immer gelingt eine gute Balance zu
finden zwischen Realitätssinn und Utopie. Wer dennoch von Visionen spricht (wie
Reinhold Würth), muss dafür sorgen, dass sie durch Analysen begründet sind,
sonst entwickeln sie ein Eigenleben.
Alle erfolgreichen Mittelständler bekennen sich zu Wachstum und
Marktführerschaft. Dazu wird Energie und Führungskraft benötigt. Nur dadurch
werden alle Mitarbeiter auf die Ziele eingeschworen (engl. committed) und
ziehen am gleichen Strang. Typischerweise verzehnfachte sich der Umsatz einiger
Unternehmen zwischen 1995 und 2005. Aus der Informatik-Branche gehören dazu Logitech,
Bechtle, IDS Scheer und Software AG. Neu im Kreis ist die Firma Omicron, die
Raster-Mikroskope herstellt. Als Wachstumstreiber gelten vorrangig die Globalisierung,
danach die Innovation.
Starke Fokussierung und
Spezialisierung
Alle Unternehmen dieser Gruppe bedienen Nischenmärkte. Sie sind
Spezialisten par excellence. Sie vertiefen ihr Leistungsangebot entlang der Wertschöpfungskette
anstatt die Verbreiterung (Diversifikation) zu suchen. Durch die starke Fokussierung
wird keine Energie außerhalb des Kreises potentieller Kunden verschwendet. Dort
– wo es darauf ankommt – ist man sehr bekannt. Man macht keine unnötige
Werbung. [Ein Freund berichtete mir von der Firma seiner Schwester, die ihre
medizinischen Spezialgeräte ausschließlich über Google vertreibt. Sie zahlen
Google fünf Dollar pro Klick]
Am besten sind die Unternehmen dran, die sich einen neuen Markt
schufen, auf dem es noch keine Mitbewerber gab. Sie sind dann quasi die
Marktbesitzer. Das Risiko besteht dann darin, dass der Markt schrumpft oder
verschwindet. Deshalb betreiben einige Unternehmen eine ‚weiche‘
Diversifikation. Beispiele sind die Firma Trumpf in Ditzingen, die von ihrem
Spezialgebiet der industriellen Lasertechnik in die Medizintechnik expandierte,
und Gieseke & Devrient, die außer Geldscheinen jetzt auch Chip-Karten
anbietet. Die Gefahr, sich zu verzetteln, ist groß. Wo es darauf ankommt,
schlägt der Spezialist den Generalisten. Außer den bereits erwähnten gelten
folgende Firmen als Weltmarktführer: 3B Scientific, Phoenix Contact und Wacker.
Wie bei Vitronic und Brainlab (siehe unten) ist sehr oft die Persönlichkeit
des Firmengründers sehr bestimmend. Outsourcing ist für diese Art von Firmen keine
Alternative. In der Tiefe der Wertschöpfungskette liegt ihre Stärke.
Bewusste Globalisierung
Will man seine Stärke als Spezialist zur Geltung bringen, muss man dahin
gehen, wo die potentiellen Kunden sind – so wie dies schon der mittelalterliche
Handwerker und Heilpraktiker tat. Warten, bis die Kunden zu einem selbst
kommen, konnten sich nur wenige leisten (vielleicht die Goldschmiede). Um hohe F&E-Kosten
zu rechtfertigen, muss man aus Europa heraus. Der Weltmarkt ist 10-12 Mal so groß
wie der deutsche Markt. Das Wachstumspotential
liegt vor allem in Osteuropa und Asien. Die USA sind ein harter Testmarkt (frei
nach dem Lied über New York ‘If you make
it there, you‘ll make it everywhere’). Der Warenaustausch beträgt bereits
über 2000€ pro Jahr pro Kopf der Weltbevölkerung, und wächst, wie am
Container-Verkehr leicht zu erkennen.
Besser als Japaner und Südeuropäer beherrschen Nord- und Mitteleuropäer die
Kommunikation in Englisch. Außerdem steigt die Zahl ausländischer Studenten,
die später als Botschafter für deutsche Produkte in ihren Heimatländern werben.
Nicht nur unsere oben erwähnten DAX-Unternehmen profitieren davon. Auch
Mittelständler wie Stihl und Kärcher sind zu Weltmarken aufgestiegen. Für
Marktführer sind die Margen hoch. Sie erkämpfen ihren Marktanteil nicht durch
niedrige Preise, sondern durch gute Leistung. Sie überzeugen durch
Technologieführerschaft, Produktqualität, Wirtschaftlichkeit und
Liefertermintreue. Viele der Mittelständler sind Familienunternehmen. Sie
können daher langfristig denken, nämlich in Generationen statt in Quartalen.
Innovation und
Leistungsbereitschaft
Innovationen können sich auf Produkte und Prozesse beziehen.
Entscheidend ist die Leistungsbereitschaft der Mitarbeiter. Die Anregungen für
Innovationen können primär von innen kommen, aber auch von außen (Stichwort
Offene Innovation [1]). Die Bedeutung von Erfindungen ist unbestritten. Nur
bezüglich des Werts der Patentierung gibt es Meinungsverschiedenheiten zwischen
den Branchen. Als Beispiel zweier unterschiedlicher Auffassungen gelten
Biotechnik (für Patente) und Informatik (gegen Patente). Der Aufwand, der mit
ihrer Durchsetzung und Verteidigung verbunden ist, schreckt ab. Statt sich zu
verteidigen, gibt man sich lieber gleich geschlagen.
Der Aufwand, den ‚Hidden Champions‘ für F&E betreiben, ist bei einigen doppelt so hoch wie beim Durchschnitt
der entsprechenden Branche. Simon hat festgestellt, dass bei diesen Unternehmen
drei Mal so viele Patente pro Mitarbeiter angemeldet werden als beim
Branchendurchschnitt. Einen besonders hohen Wert misst z.B. die Firma Sennheiser
ihren Patenten zu, weil sie im Wettbewerb mit Sony steht, einem
Industrie-Giganten. Die Firma Enercon nimmt für sich in Anspruch, dass sie 40%
aller Patente der Windenergie-Branche besitzt.
Kundennähe und Dezentralisierung
Die wahre Stärke der ‚Hidden
Champions‘ zeigt sich in ihrer Kundennähe. Da sie in der Regel keine Produkte
für den Massenmarkt herstellen, werden Kundenbeziehungen langfristig gepflegt. Dank
des Direktvertriebs wird man von Top-Kunden zur Leistung angetrieben. Nicht nur
hört die Entwicklung auf den Kunden, sondern auch auf den eigenen
Fertigungsbereich. Ein Musterbeispiel für direkte Kommunikationsform wird von
der österreichischen Firma Krones berichtet. Damit Monteure nicht von
Konstrukteuren untergebuttert werden, berichten sie über ihre Erfahrungen stets
in Anwesenheit des Firmenleiters.
Die organisatorische Dezentralisierung dient ebenfalls dazu,
Kommunikationswege zu verkürzen. Produkte werden ständig und in kleinen
Schritten verbessert. Man wartet nicht auf große Durchbrüche. Es ist
entscheidend, dass man auch die kleinen Dinge besser macht als andere. Die
Stärke der Ingenieure ist das Sowohl-als-auch-Denken.
Lehren für die Informatik
Für die Informatik gilt zweierlei: (1) Obwohl diese Firmen primär in
andern Branchen tätig sind, können IT-Firmen sehr viel von ihnen lernen. Der Autor
ist offensichtlich mit der Software-Branche nicht vertraut. Vielleicht hätte er
einige ‚Hidden Champions‘ benennen können. Das Bild wäre trotzdem nicht sehr
günstig ausgefallen. (2) Informatik-Studenten benennen zwar internationale
Großunternehmen, deren Produktmarke bekannt ist, wenn sie nach dem Wunscharbeitsgeber
gefragt werden. Die Mehrzahl von ihnen geht jedoch zu Firmen des Mittelstands. Das ist völlig richtig so. Die großen Firmen – mit SAP an der Spitze – sind nämlich nicht auf Informatiker aus Deutschland angewiesen.
Meiner Überzeugung nach liegen die Ursachen dafür, dass in Deutschland
die Informatik – mit Ausnahme von SAP – ein verhältnismäßig schwaches Bild
abgibt, an den Besonderheiten unserer Informatik-Ausbildung. Pragmatismus ist
bei uns als unwissenschaftlich verschrien. Erfindungen zu machen, ist verpönt.
Die aus der Mathematik stammenden Professoren gefallen sich dabei,
alles was praktische Relevanz hat, als Fachhochschul-Niveau zu diffamieren.
Man engagiert sich lieber im Semikolon-Krieg, d.h. im Streit um die ‚beste‘
Programmiersprache. Ich erinnere mich noch sehr gut an die Polemiken gegen 4GL-Sprachen wie
ABAP, die in Vorlesungen verbreitet wurden. Stattdessen wurde auch 30 Jahre
nach Einführung von Algol 60 noch Disputationen über den Unterschied von ‚Call
by value‘ und ‚Call by name‘ als Wissenschaft gepflegt.
Unsere Hochschulen sehen es nicht als ihre Aufgabe an, zukünftige Unternehmer
oder Erfinder auszubilden. Sie ziehen lediglich Importeure heran für ausländische Ideen und
Produkte. So lange Informatiker eher als mittelmäßige Mathematiker denn als
gute Ingenieure ausgebildet werden, wird sich daran auch nicht viel ändern.
Einschränkende Zusammenfassung
Das Buch von Hermann Simon versucht eine wichtige Aufgabe zu erfüllen.
Es will die Stimmung im Lande aufhellen, die nach seiner Ansicht schlechter ist
als die Lage. Wir sollten Mut und Selbstvertrauen schöpfen, und zwar nicht nur
in den Branchen, in denen die ‚Hidden Champions‘ angesiedelt sind. Wo es
negative Nachrichten gibt, etwa den Stellenabbau betreffend, da stammen diese
eher von Großfirmen als von Mittelständlern.
Die von Simon beschriebene Situation ist typisch nicht nur für
Deutschland, sondern auch für Österreich, die Schweiz und Luxemburg. In
Frankreich verlässt sich die Industrie ziemlich stark auf den Staat. Simon
sieht es als Irrweg an, so genannte nationale Champions mit dem Staat als
Garanten schaffen zu wollen. In Japan sind KMUs völlig abhängig von der Großindustrie.
Sie wagen es nicht, selbständig im Ausland aufzutreten. In den USA existieren
so gut wie keine mittelständigen Firmen.
Karriere-Vorbilder
Meine früheren Listen von Unternehmern und Erfindern, die Vorbild für junge Studierende sein könnten, kann ich um zwei weitere Namen (Norbert Stein, Stefan Vilsmeyer) ergänzen.
Norbert Stein (193x-), promovierter Elektrotechniker, gründete 1984 die Firma Vitronic in Wiesbaden. Über 10.000 ihrer Bildverarbeitungssysteme haben branchen- und weltweiten Einsatz gefunden. In der Automobilindustrie dienen sie der robotergeführten Schweißnaht-Inspektion. In der Logistik lesen sie Adressen und Versandcodes und steuern den Materialfluss in Paketverteilzentren. Sie erlauben Bekleidungshäusern mittels Ganzkörperscan Kleidung nach Maß herstellen zu lassen. Sehr bekannt ist die automatische Erkennung von Autokennzeichen bei Toll Collect. Jährlich investiert Vitronic mehr als 10 Prozent des Umsatzes in Forschung und Entwicklung. Mehr als die Hälfte ihrer Produkte ist jünger als drei Jahre. Das Unternehmen hat derzeit 500 Mitarbeiter, von denen mehr als die Hälfte einen Hochschulabschluss hat. Es hat Niederlassungen in Australien, China, Malaysia, Litauen, England und Frankreich. Stein ist Vorsitzender des Fachverband Robotik und Automation im VDMA. Im Jahre 2005 wurde er als „Entrepreneur des Jahres“ ausgezeichnet und erhielt in den USA einen Preis für sein Lebenswerk.
Meine früheren Listen von Unternehmern und Erfindern, die Vorbild für junge Studierende sein könnten, kann ich um zwei weitere Namen (Norbert Stein, Stefan Vilsmeyer) ergänzen.
Norbert Stein (193x-), promovierter Elektrotechniker, gründete 1984 die Firma Vitronic in Wiesbaden. Über 10.000 ihrer Bildverarbeitungssysteme haben branchen- und weltweiten Einsatz gefunden. In der Automobilindustrie dienen sie der robotergeführten Schweißnaht-Inspektion. In der Logistik lesen sie Adressen und Versandcodes und steuern den Materialfluss in Paketverteilzentren. Sie erlauben Bekleidungshäusern mittels Ganzkörperscan Kleidung nach Maß herstellen zu lassen. Sehr bekannt ist die automatische Erkennung von Autokennzeichen bei Toll Collect. Jährlich investiert Vitronic mehr als 10 Prozent des Umsatzes in Forschung und Entwicklung. Mehr als die Hälfte ihrer Produkte ist jünger als drei Jahre. Das Unternehmen hat derzeit 500 Mitarbeiter, von denen mehr als die Hälfte einen Hochschulabschluss hat. Es hat Niederlassungen in Australien, China, Malaysia, Litauen, England und Frankreich. Stein ist Vorsitzender des Fachverband Robotik und Automation im VDMA. Im Jahre 2005 wurde er als „Entrepreneur des Jahres“ ausgezeichnet und erhielt in den USA einen Preis für sein Lebenswerk.
Stefan Vilsmeyer (1967-) gründete im Jahre 1989, also im Alter von 22 Jahren, die Firma Brainlab in Feldkirchen bei München. Er war damals Student der Informatik an der TU München im ersten Studiensemester. Im Alter von 17 Jahren hatte er ein Buch über 3D-Grafik verfasst, das mit mehr als 50.000 verkauften Exemplaren ein wahrer Bestseller geworden war. Die Firma Brainlab entwickelt und vermarktet komplette Hardware- und Softwaresysteme für das bildgesteuerte Operieren sowie die Strahlentherapie. Sie gehört mit mehr als 5.000 installierten Systemen in etwa 80 Ländern zu den Marktführern. Die Brainlab-Gruppe beschäftigt derzeit 1.070 Mitarbeiter weltweit, mit rund 600 Mitarbeitern an dem Brainlab-Hauptsitz in München. Das Unternehmen verfügt über 17 Niederlassungen in Europa, Asien, Australien, Nord-und Südamerika. Im Dezember 2002 wählte das World Economic Forum (WEF) in Davos ihn zu einem "Global Leader for Tomorrow‘. Vorher schon erhielt er den Bayerischen Innovationspreis für das Jahr 2000.
Zusätzliche Referenz
- Endres, A.: Offene Innovationen und die sie begünstigenden Systeme. Informatik-Spektrum 34,4 (2011), 391-399
Am 7.5.2013 schrieb Hermann Simon aus Bonn:
AntwortenLöschenDanke für die Rezension in Ihrem Blog... Kann es sein, dass Ihnen die frühere Ausgabe des Buches in die Hände gefallen ist. Die neue ist im Herbst 2012 erschienen. Die grundlegenden Einsichten haben sich nicht geändert. Zwei Kapitel sind völlig neu und sehr viele neue Cases...