In dem Beitrag überschrieben ‚Von Milet nach Toledo‘ gab ich meine Version der abendländischen Geistesgeschichte
zum Besten. Ich glaubte, ich hätte so etwas wie eine kohärente Erzählung, eine
Story. Wie man sich doch täuschen kann. Selten erschien es, als ob zwei oder
drei Bücher eines Autors ausgereicht hätten, um mein Weltbild total zu
verändern. In diesem Falle ist es mein Geschichtsbild. Mir ist schon lange
klar, dass Geschichte nichts anderes ist als eine Erzählung. Wie oft habe ich
schon meine Zuhörer überrascht, wenn ich Teile der abendländischen Geschichte
geringfügig anders erzählte, als sie in den Geschichtsbüchern stand, die während
meiner Jugend in der Schule benutzt wurden. Dieser Blog enthält eine Reihe von
Kostproben in Form historischer Essays.
Ein bekannter Grund dafür,
warum Geschichte immer sehr einseitig erzählt wird, ist die Tatsache, dass sie
(fast) immer von den Siegern erzählt wird. Fast jedes Jahrhundert kannte
geistige oder meistens auch blutige Auseinandersetzungen. Meistens gab es
Unterlegene, die oft glücklich waren, dass man sie überhaupt am Leben ließ. Alle
Erzählungen, wie viel besser die Argumente (und die Streitkräfte) der Sieger
waren, blieben meistens unwidersprochen. Eng damit zusammen hängt der regionale
Blickwinkel. Viele Bekannte, die aus andern Teilen Deutschlands stammen als
ich, wundern sich manchmal über die von mir benutzte Sichtweise der deutschen
Geschichte. Ein typisches Beispiel ist die Rolle Preußens. Dass ein Rheinländer
oder Bayer kein besonderer Verehrer preußischen Heldentums ist, wird oft als
Kuriosität empfunden.
Was mir innerhalb Deutschlands
durchaus geläufig war, hatte ich (fälschlicherweise) nicht beachtet, was die
abendländische Geschichte anbetraf. Die geistigen und militärischen Sieger des
Abendlandes waren bekanntlich zuerst auf der griechischen Halbinsel und in
Kleinasien die Griechen gegen die Perser, dann auf dem italienischen Stiefel und
im östlichen Mittelmeer die Römer gegen die Phönizier (besser bekannt als Karthager),
dann weiter im Westen wieder die Römer jetzt gegen die Gallier und Germanen.
Erst seit Karl dem Großen (und Alkuin von York) etablierten sich die Germanen im
westlichen Europa als die kulturellen Sieger. Sie schauten zunächst nur nach
Rom, bis dass einige Jahrhunderte später auch die Welt der Griechen
wiederentdeckt wurde. An Phönizier und Perser dachte zunächst kaum jemand mehr,
von Ägyptern, Indern und andern Kulturen ganz zu schweigen.
Levante
Die drei Bücher, die ich im
Folgenden besprechen werde, wurden in New York geschrieben. Der Blick auf die
Welt und auf die Weltgeschichte erfolgt jedoch immer wieder von der Levante
aus. Die Levante ist die Ostküste des Mittelmeers. Es ist die ursprüngliche
Heimat der Phönizier. Die Phönizier hatten Niederlassungen, sowohl an der kleinasiatischen
Nordküste, wie an der afrikanischen Südküste des Mittelmeers. Nach dem
Untergang Karthagos breitete sich zuerst das Griechentum unter Alexander dem
Großen in diesen Gebieten aus. Später waren es die Römer, vor allem zurzeit von
Kaiser Augustus. Sowohl Griechen wie Römer hatten Kontakte zu den Ägyptern. Es
entstanden Zentren der Hochkultur, zuerst in den phönizischen Städten Byblos, Sidon
und Tyros, danach in Alexandrien und Antiochien und schließlich in Byzanz, dem
späteren Konstantinopel.
Das Oströmische Reich mit
seiner Hauptstadt Konstantinopel bestand bis ins 15. Jahrhundert. An seine
Stelle trat für etwa 400 Jahre das Osmanische Reich. Beide, Ostrom und die Hohe
Pforte, waren keine Nationalstaaten, sondern Imperien bestehend aus einem
Vielvölkerverbund. Eines der wirtschaftlichen Zentren, sowohl Ostroms wie des Osmanischen
Reiches, war die Levante. Erst nach dem Ersten Weltkrieg wurde das Gebiet
zunächst zwischen den Einflusszonen Englands im Süden und Frankreichs im Norden
aufgeteilt. Aus dem englischen Teil gingen die heutigen Staaten Ägypten, Saudi
Arabien, Jordanien, Palästina und Israel hervor. Aus dem französisch
dominierten Teil gingen Syrien und der Libanon hervor.
Autorprofil
Der Autor, um den es im
Folgenden geht, heißt Nassim Nicholas Taleb (*1960), und ist gebürtiger Libanese. Er
stammt aus einer alten christlichen Politiker- und Diplomatenfamilie. Er
verließ seine Heimat, um in den USA zu studieren. Er blieb nach dem Studium dort
und wurde unter anderem Derivatehändler an der Wall Street. Nach langer
Durststrecke erwies sich die Finanzkrise von 2008 als seine große Gewinnchance.
Seither ist er wirtschaftlich unabhängig. Zurzeit ist er Professor an der New
York University und an der London Business School. Taleb spricht fließend
Englisch, Französisch und Arabisch. Außerdem beherrscht er Italienisch,
Spanisch, Griechisch, Latein, Hebräisch und Aramäisch.
Literarischer Durchbruch
Das Buch, mit dem der Autor 2008
bekannt wurde, hatte den Titel ‚Der Schwarze Schwan‘. Taleb benutzte darin ein auf den schottischen
Philosophen David Hume (1711-1776) zurückgehendes Bild, um klarzumachen, dass
Induktion keine sichere Schlussweise ist. Selbst wenn man Tausende weiße Schwäne
gesehen hat, ist das kein Beweis, dass es nur weiße Schwäne gibt. Aber nur ein einziger
schwarzer Schwan reicht aus, um die Existenz schwarzer Schwäne zu beweisen. (Inzwischen
hat man schwarze Schwäne in Tasmanien beobachtet.) Taleb versteht unter einem
schwarzen Schwan ein unvorhersehbares, seltenes Ereignis, das wir aber nicht
ausschließen können. Sein Standardbeispiel ist die Lehman-Pleite und der
nachfolgende Börsenzusammenbruch. Taleb nennt die Denkweise, die keine
schwarzen Schwäne zulässt, auch die Truthahn-Logik. Ein Truthahn, der von
seinem Metzger gemästet wird, hält diesen mit zunehmender Sicherheit für ein
ihm freundlich gesinntes Wesen. An Thanksgiving kommt die Überraschung. Kein
Truthahn überlebt, um andere zu warnen. Ein Börsianer darf nicht so tun, als ob
es keine schwarzen Schwäne gibt. Generell kann man Daten nutzen, um eine
Behauptung zu entkräften, jedoch niemals um sie zu beweisen.
Erstlingswerk
Das erste Buch dieses Autors
heißt ‚Narren des Zufalls‘. Es erschien im Jahre 2001. Darin vertritt
der Autor die Meinung, dass der Einfluss
von Glück oder Zufall auf unser Leben und unsere Anlageentscheidungen meist
unterschätzt wird. Während Glück von erfolgreichen Menschen oft als eigenes
Geschick interpretiert wird, halten sie die Rolle des Zufalls für Bestimmung. Solche
Menschen seien glückliche Narren. Er will sie nicht loswerden. Sie sollten sich
nur dieser Tatsache bewusst werden. Er selbst gehöre oft dazu. Wie Daniel Kahnemann, der aus derselben Weltgegend (Israel)
stammt, nachwies, können wir Menschen mit Zufall nicht gut umgehen. Wir versuchen
alles zu rationalisieren, meistens rückwirkend. Von dem was Kahneman kognitive
Verzerrungen nennt, sieht Taleb vor allem die narrative Verzerrung am Werk. Bei
Kahneman hieß es dazu:
Wir versuchen immer aus der
Vergangenheit eine kohärente und kausale Geschichte zu machen. Wir überschätzen
unser Wissen über die Welt. Wir bemühen uns die Vergangenheit zu verstehen und
weigern uns, Zufall als dominierend anzuerkennen.
Zeitkritik
Dabei machen wir sehr oft
Rückschau-Fehler, d.h. wir beurteilen die Vergangenheit mit Wissen von heute.
Genau wie Kahneman ist Taleb der Meinung, dass unser Gehirn nicht mit
Wahrscheinlichkeiten umgehen kann. So halten
fast alle Leute ein Erdbeben in Nordamerika für ein geringeres Risiko als ein Erdbeben
in Kalifornien, wohlwissend dass Kalifornien ein Teil Nordamerikas ist. Ein Toter durch die Vogelgrippe erregt mehr Aufsehen
als der Tote durch einen Verkehrsunfall, obwohl letztere wesentlich häufiger
sind. Man bewertet Risiken oft rein emotional. Taleb ist der Ansicht, dass
Kahneman (und sein verstorbener Kollege Tversky) das wirtschaftliche Denken der
Welt bereits mehr beeinflusst haben als John Keynes und Milton Friedman
zusammen.
Griechisches Erbe
Taleb hält viele der Grundideen,
von denen der Westen sich leiten ließ, stärker von Utopien geprägt als von echtem
Weltverständnis. Der Grund: Das Abendland wurde von dem ‚dogmatischen
Rationalismus‘ des hellenistischen Zeitalters geprägt, ein Thema, das auch im neuen
Buch Talebs eine große Rolle spielt (siehe unten). Eine Drillform, die das
Denken besonders kujonierte, nannten sie Logik. Dieses Erbe führte dazu, dass
wir für Symbolismus anfällig wurden. So glaubten einige, dass Nasenkratzen
ausreichen würde, um Regen herbeizuführen. Oder anders gesagt, für viele
Menschen ist eine schlechte Erklärung besser als keine. Europa hatte eine
Chance heil über die Runden zu kommen, hätte man auf Montaigne (1533 –
1592) statt auf Descartes (1596 –
1650) gehört. Danach suchte man nur noch nach der Maschine im Menschen.
Die Geschichte lehrt uns, dass
Dinge, die nie zu geschehen scheinen, doch geschehen. Diese ‚seltenen
Ereignisse‘ widerlegen die Annahme, dass sich die Natur oder die Wirtschaft kontinuierlich entwickeln.
Sie lassen sich aus Zeitreihen nicht vorhersagen. Seltene Ereignisse mögen eine
geringe Wahrscheinlichkeit haben. Sie ist jedoch > 0. Man muss sich auch gegen sie absichern, sonst kommt es zu
Katastrophen (engl. Blow ups). Bevor die Aufklärung übernahm, verfügte die
Menschheit nur über Heuristiken, also eine Art von Trickkiste. Ganz langsam
beginnt der Westen einzusehen, dass man mit Logik allein nicht alle Probleme
lösen kann. Andere Kulturen haben dies nie behauptet. Zwei Beispiele, die eindeutig
in diese Richtung zeigen, werden mit den Begriffen Pfadabhängigkeit und
Netzwerk-Effekt beschrieben. Das eine bedeutet, dass historische Fakten in
Betracht gezogen werden, das andere berücksichtigt psychologische Gegebenheiten.
Der Philosoph Karl Popper, mit dem wir uns auch in diesem Blog beschäftigt haben, hat den Autor sehr beeinflusst. Popper habe der
Wissenschaft ihre absolutistische Autorität genommen. Nach ihm sind Theorien
nie richtig. Sie sind entweder schon falsifiziert oder noch zu falsifizieren.
Den Ausführungen Poppers zum Trotz nehmen wir dennoch die Wissenschaft viel zu
ernst. Popper unterlief der Fehler, dass er annahm, dass die Falsifikation immer
fehlerfrei ist.
Meisterwerk
Das dritte Buch mit dem Titel ‚Antifragilität‘ betrachtet der Autor als sein Meisterwerk. Es
umfasst 668 Seiten und erschien im Jahre 2012. Der Titel ist eine
Wortschöpfung, abgeleitet von fragil, also zerbrechlich. Das Buch fasst quasi
sein Weltwissen zusammen. Es ist eine Abrechnung mit Allem, was schlecht ist,
und Allen, die ihm zuwider sind. Es beginnt im Altertum und endet in unseren
Tagen. Dazwischen gibt es, wie schon in den anderen Büchern, autobiografische
Einlagen. Dass wir Europäer so denken, wie wir es tun, gehe auf die
altgriechischen Klassiker (Platon, Aristoteles) und deren Interpreten, die
Araber, zurück. Deren Sichtweise habe uns nicht nur genutzt.
Thales von Milet
Schon am Beispiel des Thales von Milet (um
624 – 547 vor Chr.) sei eine ganz eindeutige Verfälschung nachweisbar. Ich bringe
diese Geschichte ausführlich, weil sie besser als alle anderen die Botschaft
des Buches verdeutlicht. Thales war phönizischer
Abstammung. Während seine Freunde alle als Händler erfolgreich waren, hänselten
sie ihn, weil er eine brotlose Kunst betreibe, das Philosophieren. Thales rückte
die Dinge daraufhin kurz zurecht. Er kaufte Optionen (bitte den Begriff
merken!) auf alle Ölmühlen in Milet und der vorgelagerten Insel Chios. Als im
darauffolgenden Jahr die Olivenernte besonders ergiebig ausfiel, nahm er die
Option wahr. Er wurde daraufhin ein reicher Mann und konnte für den Rest des
Lebens Philosophie betreiben. Soweit Talebs Version der Geschichte.
Was ist uns armen Abendländern bezüglich
dieser Geschichte überliefert worden? Antwort: Nur was in das Weltbild der
griechischen Klassiker passte. Es gibt zwei Versionen. In der einen halfen die
Götter. In der andern Version, die Aristoteles erzählte, war es die
Wissenschaft. Thales sei in der Lage gewesen, das Wetter der Region (aus den
Sternen) und damit die Olivenernten vorherzuberechnen. Das kann aber heute noch
niemand (!). Dass es Zufall war, wird einfach ausgeschlossen, bzw.
uminterpretiert.
Lehre der Stoa
Talebs Lebensregeln erinnern an
die Philosophie der Stoiker. Immer wieder bezieht er sich auf Seneca (1 - 65 n.
Chr.). Es sei entschuldbar, dass man Erdbeben, Tsunamis, Revolutionen usw.
nicht vorhersagen kann. Es sei jedoch nicht entschuldbar, so zu bauen oder zu
tun, als ob es sie nicht gäbe. Besser als zu versuchen Habgier auszulöschen, sei
es die Wirtschaft so umzubauen, dass Habgier ihr nichts anhaben kann. Man darf
sich nicht verschulden, weder gegenüber anderen Leuten, noch gegenüber dem
Schicksal. Besitz schafft Asymmetrie. Man wird dadurch gegen Verlust
empfindlicher als gegen entgangenen Gewinn. Man muss sich geistig von Besitz
lösen, ebenso wie von Emotionen. Man muss Furcht in Klugheit umwandeln, Schmerz
in Information. Fehler, die man macht, sollte man als Chancen sehen, als Anstöße zum
Lernen. Reichtum sei der Sklave des Weisen und der Herrscher des Narren.
Grenzen des Wissens
Fast ebenso stark argumentiert
er gegen eine Überbetonung des Wissens und der Wissenschaftlichkeit. Was nicht messbar und
vorhersagbar ist, bleibt es, egal wie gut die Mathematik ist, die wir beherrschen. Ein
System, das auf der Notwendigkeit beruht, Wahrscheinlichkeiten berechnen zu
können, muss zusammenbrechen. Der direkte Weg von der Wissenschaft zur Technik
und dann in die Praxis wurde als Ideal von Francis Bacon (1561
– 1626) propagiert. Es funktionierte bisher nur ein einziges Mal, nämlich beim
Bau der Atombomben. Nach dieser Logik müsse die Mathematik in Verbindung mit der
Ornithologie den Vogelflug zustande gebracht haben. Manche Wissenschaftspublizisten
versuchen, ̶ in
analogen Fällen ̶ den
Laien einzureden, dass es nur so und nicht anders gewesen sein kann. Dass
Bildung Wohlstand zur Folge habe sei ein Epiphänomen, d.h.
nicht kausal erklärbar. Es sei eher umgekehrt. Als Beispiele nennt er Ägypten für
hohe Bildung bei niedrigem Wohlstand, und die USA mit niedriger Bildung bei
hohem Wohlstand.
Hanteln und Handeln
Sowohl an der Börse wie im
Leben allgemein gelte der Grundsatz: Überleben geht vor Gewinnen. Das ist ein
elementares Beispiel von Pfadabhängigkeit. Daher empfiehlt er für alle Formen
von Anlagen eine so genannte Hantel-Strategie. Man legt die Gewichte nicht in
die Mitte, sondern an die beiden Enden. Übersetzt in die Investor-Sprache:
Man soll nicht alles auf das mittlere Risiko setzen; lieber einen Teil auf ein
geringes Risiko und einen Teil auf ein hohes. Die Gefahr, dass man alles
verliert, ist dann geringer. Bei einer Hantel werden Fragilitäten (siehe unten)
entfernt.
Auch Montaigne habe eine Hantelstrategie verfolgt. Bei ihm hieß sie:
Zuerst handeln, dann reflektieren. Volatilität im Markt ist eine Form von
Unordnung. Manchen Menschen widerstrebt es, sich Unordnung auszusetzen. Alles
Nicht-Lineare ist entweder konvex oder konkav je nach Intensität des Stressors.
Wir können die Funktion f(x) manipulieren, auch wenn wir x nicht kennen. Wir
können beides ‚behanteln‘, d.h. uns dagegen wappnen. Immer wieder lässt er
jüdische Spruchweisheiten einfließen, etwa diese: Triff Vorsorge für das
Schlimmste; das Beste erledigt sich von selbst.
Bei Thomas von Aquin stehe der
Satz, der Handelnde bewege sich nie ohne Ziel. Als Quelle gibt Thomas jedoch korrekterweise
nicht Aristoteles an, sondern dessen arabischen Interpreter Ibn Rushd
(Averroes). Taleb nennt dies die Touristen-Strategie. Ein Tourist folgt immer
seinem Plan. Das Gegenstück sei der Flaneur. Der verändert laufend seine Ziele
auf rationale Art. Er ist nicht Gefangener seines Planes. Immer wieder wird
Steve Jobs zitiert. Hier ist es der Satz: Menschen
wissen nicht, was sie wollen, bevor man es ihnen gibt. Jobs war für ihn
eine Lichtgestalt in der ansonsten unverstandenen Geschäftswelt, dazu noch mit
levantinischen Vorfahren.
Optionen als Geschäft
Was den USA bisher zum Erfolg
verhalf, sind nicht ihre Rohstoffe oder ihre Wissenschaft. Es sei die Tatsache, dass sie besser als
andere Länder wüssten, was Optionalität
ist und wie man mit ihr umgeht. Thales von Milet, der oben erwähnt wurde, erwarb
eine Option auf Olivenpressen. Optionen sind asymmetrisch. Sie sind ein Recht,
aber keine Pflicht. Vor allem benötigt man kein Wissen über die Zukunft. Man muss nur in der Lage sein, günstige
Resultate zu erkennen, und zwar in dem Moment, in dem sie eintreten. Die Kosten des Irrtums
sind bekannt und klein.
Als einfache Formel
ausgedrückt, kann man sagen: Option = Asymmetrie + Rationalität. Optionen sind
Ersatz für fehlendes Wissen. Sie sind die beste Waffe der Antifragilität. Wie
in der Grafik dargestellt, ist der Zusammenhang zwar nicht-linear, aber konvex.
Die Enden der Kurve zeigen nach oben. Der Verlauf im negativen Bereich ist
strikt limitiert, nicht jedoch der positive Teil. Die Asymmetrie zwischen Vor-
und Nachteilen ist klar erkennbar. Je mehr Unsicherheit herrscht, desto stärker
kann eine Option sich auswirken.
Triade der Widerstandsfähigkeit
Der Kern des Buches ist die
Beschreibung einer ‚Triade‘ von Eigenschaften, die Strukturen, Dinge oder
Unternehmungen haben können. Die relevanten Eigenschaften sind:
- Fragil: Sie erleiden Schaden durch Fehler, Störungen oder Variabilität
- Robust: Sie sind unempfindlich gegenüber Fehlern, Störungen oder Variabilität
- Antifragil: Sie profitieren von Fehlern, Störungen oder Variabilität
Lebensweisheiten
Vieles, was die Länge des
Buches ausmacht, sind Weisheiten allgemeiner Art. Er hat sie außer bei Stoikern
(wie Seneca) noch bei Nietzsche, Wittgenstein, Jobs oder Yogi Berra (dem Coach
der NY Yankees) gefunden. Einige, die mir besonders gefielen, seien
herausgegriffen:
- In der Theorie gibt es keinen Unterschied zwischen Theorie und Praxis. In der Praxis schon. (Yogi Berra)
- Vielleicht gibt es ein Reich der Weisheit, aus dem der Logiker verbannt ist. (Nietzsche)
- Unsere Sprache ist nicht in der Lage die Wirklichkeit auszudrücken. (Wittgenstein)
Zeitkritik
Seitenweise wettert er gegen Neomanie. Das ist die Leidenschaft für
das Moderne um seiner selbst willen. Sein Motto heißt, was lange bestanden hat,
hat bewiesen, dass es gut ist. Deshalb empfiehlt er griechische und römische
Autoren. Gerne lasse er alles weg, was es bei seinen Vorfahren nicht gab. Je
älter eine Technologie ist, desto länger würde sie sich halten. Eine
Technologie existiert nämlich informationell, nicht physisch. Im Gegensatz zum
Menschen altert sie nicht organisch. Bei allen Techniken, die in die Natur
eingreifen (wie die Gentechnik), sieht er die Beweislast bei denen, die etwas
Neues machen. Die Mutter Natur wisse nämlich mehr als wir Menschen. Dass er
sich mit papiernen Büchern wohler fühlt als mit E-Books, ist schon fast
schrullig [Ich las keines seiner Bücher auf Papier]. Völlig überraschte mich, dass
er am Schluss geradezu Gift und Galle in Richtung einiger anderer Autoren verspritzt,
so auf Thomas Friedman und Joseph Stiglitz.
Fazit und Plädoyer
Das Buch ist eine vehemente Anklage
gegen 'Fragilisten' aller Art: unkündbare Beamte, Wissenschaftler, Journalisten, den
Teil des medizinischen Establishments, der vor allem die Pharma-Industrie
unterstützt. Noch streichen Banker weiterhin Boni ein für den Teil der
Geschäfte, der Gewinne abwirft. Der Steuerzahler trägt immer noch die Verluste. Die Idee
eines Rückhol-Bonus hat sich nicht durchgesetzt. Viele Banker benutzen
verborgene Optionen auf Kosten der Firma oder der Gesellschaft. Wir benötigen
Politiker, die Verantwortung für das Gemeinwohl übernehmen, Wissenschaftler,
die sich zu ihren Fehlschlägen genauso bekennen wie zu ihren Erfolgen und
Journalisten, die nicht nur durch Sensationen Aufmerksamkeit erheischen,
sondern ehrlich informieren. Wir benötigten Alltagshelden, die sich für andere
opfern und die bei ihren Unternehmungen die eigene Haut aufs Spiel setzen. Von
ihnen hängt die Antifragilität einer Gesellschaft ab, nicht von Bankern,
Kritikern, Spekulanten oder Drohnenlenkern.
Kritikern, Spekulanten oder Drohnenlenkern.
Nachbemerkung am 29.6.2013:
Im vorangehenden Text habe ich nicht immer klar zum Ausdruck gebracht,
was Talebs Meinung und was meine Meinung ist. Das ist nicht weiter schlimm. Im
Zweifelsfall kann man annehmen, dass unsere Sicht nicht allzu verschieden ist.
Zufällig las ich dieser Tage einige Seiten in Josef Werles Seneca
für Zeitgenossen. Der folgende Satz fiel mir auf: "Mit dem
fünfzigsten Jahre begebe ich mich in den Ruhestand. Mit dem sechzigsten mach'
ich mich frei von jeder amtlichen Tätigkeit". Nassim Taleb scheint dies fast
gelungen zu sein. Mit Interesse las ich auch die Biografie Senecas. Es ist erschütternd, wie das Leben mit ihm umsprang. Er
war reich, hatte Zugang zum römischen Kaiserhaus und wirkte als Erzieher des jugendlichen
Nero. Nachdem dieser erwachsen war, zeigte sich dessen Wahnsinn. Zuerst ließ er seine Mutter Agrippina ermorden.
Anschließend erteilte er den Befehl, dass Seneca Selbstmord verüben müsse. Die
Macht von Senecas Worten hat seinen Körper jedoch bereits mehr als 2000 Jahre
überlebt. Ähnlich erging es Senecas Zeitgenossen Jesus von Nazareth.