Freitag, 6. Dezember 2013

Ist Deutschlands Zukunft wirklich so klar?

Die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Zukunft sollte eigentlich sehr nützlich sein. Schon einmal hatte ich mich im Januar dieses Jahres mit diesem Superthema befasst. Damals hatte ich mich mit dem Journalisten Matthias Horx und dessen Ansatz auseinandergesetzt. In der Zielsetzung vergleichbar, aber im Ansatz völlig anders geht Horst Opaschowski das Thema an. Er war Professor an der Universität Hamburg und wurde als Leiter des BAT Freizeitforschungsinstituts bekannt. Seine Klientel war die Tourismusbranche, die von ihm wissen wollte, wo und wie die Deutschen ihren Urlaub verbringen. Seit seiner Emeritierung veröffentlicht er ein Buch nach dem andern. Sein vorletztes 2011 erschienenes Buch hat den Titel Der Deutschland-Plan. Die wichtigsten Aussagen des Buches sind auf seiner Homepage als ‚Deutschland-Vision 2030‘ zusammengefasst. Mit drei Mal zehn Thesen beschreibt er dort die Essenz seiner Analysen.

Demoskopische Methode

Opaschowskis Kredo ist die Befragung der Bürger, die Demoskopie. Für jede nur denkbare Frage hat er ein Umfrageergebnis. Dass diese Methode nicht immer der Wahrheitsfindung dient, soll gleich am Anfang an einem Beispiel gezeigt werden. Oder anders ausgedrückt, das Ergebnis mag zwar wahr sein, im Sinne von ehrlich und korrekt, das Ergebnis ist aber nicht sehr hilfreich.

Gefragt, ob die Menschen gerne Genaueres über ihre Zukunft wissen möchten, ist die Mehrzahl dafür. Daraus wird geschlossen, dass die meisten Menschen ein großes Interesse an Zukunftsfragen (also an Opaschowskis Spezialgebiet) haben. Das ist aber nicht der Fall. Gefragt, ob man Politikern glaubt, ist die Antwort sehr negativ. Gefragt, was man von Politikern hören möchte, so sind dies Visionen für die Zukunft. Es sollten dies aber keine Illusionen oder ideologisch geprägte Idealvorstellungen sein, sondern verlässliche Aussagen, wie es wirklich kommt. Ein weiterer klarer Widerspruch. Zum Glück – so möchte ich hier einfügen – gibt es kaum Politiker, die sich bemühen, diesem Wunschbild gerecht zu werden. Das können sie nämlich nicht. Trotz dieser Kritik am Ansatz macht Opaschowski eine Reihe von Aussagen oder benutzt Schlagworte, über die man nachdenken sollte.

Zunehmende Brasilianisierung

Uns wird eine krasse Klassengesellschaft vorhergesagt, in der sich die sozialen Ungleichheiten eher verschärfen als reduzieren. In unsern Großstädten entstünden Ghettos ähnlich wie in Brasilien. Die Armen zögen sich zusammen, aber auch die Reichen. Dabei ist der Begriff ‚arm‘ sehr relativ. Die Grenze verschiebt sich im Laufe der Zeit, da nach der offiziellen EU-Definition sie sich an dem sich ändernden Haushaltseinkommen der Gesamtbevölkerung ausrichtet. Arm ist, wer unter dem Durchschnitt liegt.

Größerer Anteil alter Menschen

Die Fortschritte der Medizin führen zum rasanten Anstieg der Lebenszeit. Als Folge davon werden die Menschen nicht nur länger arbeiten. Der Anteil von Senioren und Invaliden an der Bevölkerung steigt. Die Wohnungswelt muss sich dem Anpassen. Die Einweisung in ein Altersheim ist nur eine mögliche Lösung. Das Zusammenleben von mehreren Generationen in einem Haus gewinne an Bedeutung. Es sei sogar möglich, dass Generationenbeziehungen wichtiger werden als Partnerbeziehungen.

Vermehrte Bürgerbeteiligung

Da das Vertrauen in die Lösungskompetenz der Politiker aller Couleur abgenommen habe, drängen Bürger zu stärkerer Direktbeteiligung. Nicht regierungs- oder parteigebundene Organisationen (NGOs) drängen sich vor. Stuttgart 21 mit der im Fernsehen übertragenen Schlichtung durch Heiner Geißler gilt als Musterbeispiel. Die verschiedensten Themen oder Projekte führen zu spontanen Aktionen der Zivilgesellschaft. Bürger möchten mitmischen. Es bestehe ein Trend, möglichst keine langfristigen Bindungen mehr einzugehen. Manchmal heißt es, man begnüge sich immer mehr mit einer Zuschauerrolle. Das ist zwar ein Widerspruch. Dennoch mag beides richtig sein.

International gesehen nehmen Kriege zwischen Ländern ab, umso öfters komme es zu Bürgerkriegen. In Anbetracht der Übermacht der globalen Finanzbeziehungen trete eine gewisse Ohnmacht der Staaten zutage. Der Einzelne sähe sich immer mehr eingeschränkt bezüglich seiner Privatsphäre. Die Bedrohungen stammten ebenso sehr von internationalen Organisationen wie vom eigenen Staat. [Dieses Thema war wiederholt Gegenstand dieses Blogs].

Nicht-Ökonomisches als Fortschritt

Dass als Maß des Fortschritts einer Gesellschaft das Bruttoinlandsprodukt (BIP) nicht besonders aussagefähig ist, wird von vielen Seiten beklagt. Die von Frankreichs vorletztem Staatspräsident Nikolas Sarkozy ins Leben gerufene Stiglitz-Sen-Fitoussi-Kommission hatte sich bereits mit dieser Frage auseinander gesetzt.

Auch Opaschowski regt an, nicht nur quantitatives ökonomisches Wachstum anzustreben. Er schlägt vor, Fortschritt als ein Weiterkommen in politischer, wirtschaftlicher, sozialer und ökologischer Hinsicht anzusehen. Wohlstand umfasse auch die immateriellen Werte, die eine Gesellschaft auszeichnen. Als Beispielbereiche benennt er Gesundheit, Kultur, Natur, Nachbarn und Freunde. Vor allem müssen die Interessen der nachfolgenden Generationen berücksichtigt werden. Dazu gehört, dass unsere Generation durch Schuldenabbau und Nachhaltigkeit aller Projekte keine Belastungen für die Zukunft ansammelt. [Die Kritik der Opposition am derzeitigen Koalitionsvertrag setzt unter anderem hier an].

Wandel der gesellschaftlichen Werte

Obwohl Opaschowski angeblich das Ohr am Puls der Massen hat, sind einige seiner Aussagen für mich etwas überraschend. So stellt er fest, dass das Interesse für Kinder-, Familien- und Altenbetreuung seit der Jahrtausendwende im Ansteigen begriffen sei. Ähnlich wie die Finnen möchten auch junge Deutsche einen Rechtsanspruch für Kinderbetreuung haben. Die Stellung der Familie würde derzeit eine Aufwertung erfahren. Außerdem nimmt er an, dass es einen Wunsch nach Steuervergünstigung für soziales Engagement gibt. Wir kämen nicht umhin, Ehrenämter aufzuwerten und ihnen verstärkte Anerkennung zu verschaffen. Die für ganze Nachbarschaften eingerichteten Helferbörsen zeigten einen Weg.

Dass sich der in Großstädten in den letzten Jahrzehnten festzustellende Trend zu Singles oder Kleinstfamilien umkehren wird, ist zwar noch nicht zu erkennen. Es wäre dann nur noch eine Frage der Zeit, bis der Umschwung erfolgt.

Sinnsuche jenseits der Erwerbstätigkeit

Eine auf die Maximierung des Wohlstands ausgerichtete Gesellschaft sei nicht ohne weiteres in der Lage, auch die Frage nach dem Sinn des Lebens zu beantworten. Sie stelle sich unweigerlich und unentwegt. Woher die Antworten kommen, lässt Opaschowski jedoch offen. Ob es eine Renaissance des Religiösen geben wird, wie viele hoffen, sei dahingestellt. Dass die berufliche Tätigkeit überhaupt keine Rolle dabei spielen soll, ist zumindest bei akademischen Berufen nicht zu verstehen. Nur Zweitjobs lieferten Sinnbezug und Anerkennung, schreibt er. Man fände sie vor allem in Freizeitangeboten.

Unvorhersehbares in den Modellen

Die meisten Zukunftsforscher kommen zu ihren Aussagen, indem sie bereits beobachtete Trends extrapolieren. Natürlich werden sie nicht von zwei Jahren gleich auf zwanzig Jahre hochrechnen. Sie können auch die Verknappung von Ressourcen in Ansatz bringen oder den Fortschritt der Technik. Nur was aus Bestehendem heraus sich weiterentwickelt oder wächst, lässt sich vorhersagen. Auch Opaschowski unterliegt denselben Beschränkungen.

Sehr schwierig ist es, in Zukunftsmodellen Vorkehrungen für sporadische Ereignisse zu treffen. Es gibt eine Vielzahl von Ereignissen, die zwar relativ selten sind, aber mit Gewissheit eintreten werden. Die Frage ist lediglich wann. Beispiele von Ereignissen, die bestimmt Einfluss auf die Wirtschaftsentwicklung haben werden, sind Orkane, Hochwasser, Frost- und Dürreperioden, Währungskrisen und Inflationen, Konkurse großer Unternehmen, Strom- oder Gasausfälle, größere Unfälle oder Katastrophen bei Kraftwerken oder im Verkehr, Streiks im öffentlichen Dienst oder bei der Bahn, Piloten- oder Lotsenausstände im Flugverkehr, Volksaufstände, drohender Staatsbankrott, Machenschaften von Mafia oder Rauschgift-Kartellen sowie die Unterwanderung durch fremde Volksgruppen.

Nur wenn man diese grundsätzliche Schwäche aller Vorhersagemethoden berücksichtigt, kann man die Aussagen von Zukunftsforschern richtig einordnen. Erinnerungen an die Denkweise eines levantinischen Autors (Nassim N. Taleb) drängen sich auf. Er machte den Ausdruck ‚Schwarze Schwäne‘ in Politik und Wirtschaft populär, um nicht vorhersagbare, aber reale Ereignisse zu beschreiben.

3 Kommentare:

  1. Am 6.12.2013 schrieb Hartmut Wedekind aus Darmstadt:

    Zukunft ist immer spekulativ, es sei denn man hat eine wahrscheinlichkeitstheoretische Basis in Form eines Modells. Spekulativ kommt von "speculum = Spiegel". D.h.: Der Zukunftsforscher schaut in einen Spiegel und sieht, informatorisch gesprochen, ein virtuelles Bild. Ein Zerrbild, auch Vexierbild genannt?

    Und: Menschliche Handlungen sind nur selten präzise vorherzusagen. In Politik und Wirtschaft äußert man sich deshalb in der Regel schwammig. Blah-Blah. Oder man sagt: Ich gehe davon aus!

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  2. Am 6.12.2013 schrieb Otto Buchegger aus Tübingen:

    Wie heißt so schön das arabische Sprichwort: Willst du Allah erheitern, dann erzähle ihm von der Zukunft!

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  3. Am 11.12.2013 schrieb Peter Hiemann aus Grasse:

    der wichtigste Hinweis in Ihrem Blog Eintrag über Horst Opaschowskis Aussagen zu Deutschlands Zukunft ist der Link zum Report der von Frankreichs vorletztem Staatspräsident Nikolas Sarkozy ins Leben gerufene Stiglitz-Sen-Fitoussi-Kommission

    Der Report befasst sich mit konkreten Zielsetzungen, zukünftig zusätzliche Daten zu erfassen, die für die Beurteilung gesellschaftlicher Zustände relevant sind. Hat man erst einmal die Daten, können potentielle zukünftige gesellschaftliche Entwicklungen besser abgeschätzt werden. Diese Daten würden vermutlich auch erlauben, die Folgen unvorhergesehener Krisen und Katastrophen besser zu überwinden.

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