Die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Zukunft sollte
eigentlich sehr nützlich sein. Schon einmal hatte ich mich im
Januar dieses Jahres mit diesem Superthema befasst. Damals hatte ich mich
mit dem Journalisten Matthias
Horx und dessen Ansatz auseinandergesetzt. In der Zielsetzung vergleichbar,
aber im Ansatz völlig anders geht Horst Opaschowski
das Thema an. Er war Professor an der Universität Hamburg und wurde als Leiter
des BAT Freizeitforschungsinstituts bekannt. Seine Klientel war die
Tourismusbranche, die von ihm wissen wollte, wo und wie die Deutschen ihren
Urlaub verbringen. Seit seiner Emeritierung veröffentlicht er ein Buch nach dem
andern. Sein vorletztes 2011 erschienenes Buch hat den Titel Der
Deutschland-Plan. Die wichtigsten Aussagen des Buches sind auf seiner Homepage als ‚Deutschland-Vision
2030‘ zusammengefasst. Mit drei Mal zehn Thesen beschreibt er dort die Essenz
seiner Analysen.
Demoskopische Methode
Opaschowskis Kredo ist die Befragung der Bürger, die
Demoskopie. Für jede nur denkbare Frage hat er ein Umfrageergebnis. Dass diese
Methode nicht immer der Wahrheitsfindung dient, soll gleich am Anfang an einem
Beispiel gezeigt werden. Oder anders ausgedrückt, das Ergebnis mag zwar wahr
sein, im Sinne von ehrlich und korrekt, das Ergebnis ist aber nicht sehr
hilfreich.
Gefragt, ob die Menschen gerne Genaueres über ihre Zukunft
wissen möchten, ist die Mehrzahl dafür. Daraus wird geschlossen, dass die
meisten Menschen ein großes Interesse an Zukunftsfragen (also an Opaschowskis
Spezialgebiet) haben. Das ist aber nicht der Fall. Gefragt, ob man Politikern
glaubt, ist die Antwort sehr negativ. Gefragt, was man von Politikern hören
möchte, so sind dies Visionen für die Zukunft. Es sollten dies aber keine
Illusionen oder ideologisch geprägte Idealvorstellungen sein, sondern verlässliche
Aussagen, wie es wirklich kommt. Ein weiterer klarer Widerspruch. Zum Glück –
so möchte ich hier einfügen – gibt es kaum Politiker, die sich bemühen, diesem
Wunschbild gerecht zu werden. Das können sie nämlich nicht. Trotz dieser Kritik
am Ansatz macht Opaschowski eine Reihe von Aussagen oder benutzt Schlagworte,
über die man nachdenken sollte.
Zunehmende Brasilianisierung
Uns wird eine krasse Klassengesellschaft vorhergesagt, in
der sich die sozialen Ungleichheiten eher verschärfen als reduzieren. In unsern
Großstädten entstünden Ghettos ähnlich
wie in Brasilien. Die Armen zögen sich zusammen, aber auch die Reichen. Dabei
ist der Begriff ‚arm‘ sehr relativ. Die Grenze verschiebt sich im Laufe der
Zeit, da nach der offiziellen EU-Definition sie sich an dem sich ändernden Haushaltseinkommen
der Gesamtbevölkerung ausrichtet. Arm ist, wer unter dem Durchschnitt liegt.
Größerer Anteil alter Menschen
Die Fortschritte der Medizin führen zum rasanten Anstieg der
Lebenszeit. Als Folge davon werden die Menschen nicht nur länger arbeiten. Der
Anteil von Senioren und Invaliden an der Bevölkerung steigt. Die Wohnungswelt
muss sich dem Anpassen. Die Einweisung in ein Altersheim ist nur eine mögliche Lösung.
Das Zusammenleben von mehreren Generationen in einem Haus gewinne an Bedeutung.
Es sei sogar möglich, dass Generationenbeziehungen wichtiger werden als
Partnerbeziehungen.
Vermehrte Bürgerbeteiligung
Da das Vertrauen in die Lösungskompetenz der Politiker aller
Couleur abgenommen habe, drängen Bürger zu stärkerer Direktbeteiligung. Nicht
regierungs- oder parteigebundene Organisationen (NGOs) drängen sich vor.
Stuttgart 21 mit der im Fernsehen übertragenen Schlichtung durch Heiner Geißler
gilt als Musterbeispiel. Die verschiedensten Themen oder Projekte führen zu spontanen
Aktionen der Zivilgesellschaft. Bürger möchten mitmischen. Es bestehe ein
Trend, möglichst keine langfristigen Bindungen mehr einzugehen. Manchmal heißt
es, man begnüge sich immer mehr mit einer Zuschauerrolle. Das ist zwar ein
Widerspruch. Dennoch mag beides richtig sein.
International gesehen nehmen Kriege zwischen Ländern ab,
umso öfters komme es zu Bürgerkriegen. In Anbetracht der Übermacht der globalen Finanzbeziehungen
trete eine gewisse Ohnmacht der Staaten zutage. Der Einzelne sähe sich immer
mehr eingeschränkt bezüglich seiner Privatsphäre. Die Bedrohungen stammten
ebenso sehr von internationalen Organisationen wie vom eigenen Staat. [Dieses
Thema war wiederholt Gegenstand dieses Blogs].
Nicht-Ökonomisches als Fortschritt
Dass als Maß des Fortschritts einer Gesellschaft das
Bruttoinlandsprodukt (BIP) nicht besonders aussagefähig ist, wird von vielen
Seiten beklagt. Die von Frankreichs vorletztem Staatspräsident Nikolas Sarkozy
ins Leben gerufene Stiglitz-Sen-Fitoussi-Kommission hatte sich bereits mit
dieser Frage auseinander gesetzt.
Auch Opaschowski regt an, nicht nur quantitatives ökonomisches
Wachstum anzustreben. Er schlägt vor, Fortschritt als ein Weiterkommen in politischer,
wirtschaftlicher, sozialer und ökologischer Hinsicht anzusehen. Wohlstand
umfasse auch die immateriellen Werte, die eine Gesellschaft auszeichnen. Als
Beispielbereiche benennt er Gesundheit, Kultur, Natur, Nachbarn und Freunde.
Vor allem müssen die Interessen der nachfolgenden Generationen berücksichtigt
werden. Dazu gehört, dass unsere Generation durch Schuldenabbau und Nachhaltigkeit
aller Projekte keine Belastungen für die Zukunft ansammelt. [Die Kritik der
Opposition am derzeitigen Koalitionsvertrag setzt unter anderem hier an].
Wandel der gesellschaftlichen Werte
Obwohl Opaschowski angeblich das Ohr am Puls der Massen hat,
sind einige seiner Aussagen für mich etwas überraschend. So stellt er fest,
dass das Interesse für Kinder-, Familien- und Altenbetreuung seit der
Jahrtausendwende im Ansteigen begriffen sei. Ähnlich wie die Finnen möchten
auch junge Deutsche einen Rechtsanspruch für Kinderbetreuung haben. Die Stellung der Familie
würde derzeit eine Aufwertung erfahren. Außerdem nimmt er an, dass es einen
Wunsch nach Steuervergünstigung für soziales Engagement gibt. Wir kämen nicht
umhin, Ehrenämter aufzuwerten und ihnen verstärkte Anerkennung zu verschaffen.
Die für ganze Nachbarschaften eingerichteten Helferbörsen zeigten einen Weg.
Dass sich der in Großstädten in den letzten Jahrzehnten festzustellende
Trend zu Singles oder Kleinstfamilien umkehren wird, ist zwar noch nicht zu
erkennen. Es wäre dann nur noch eine Frage der Zeit, bis der Umschwung erfolgt.
Sinnsuche jenseits der Erwerbstätigkeit
Eine auf die Maximierung des Wohlstands ausgerichtete
Gesellschaft sei nicht ohne weiteres in der Lage, auch die Frage nach dem Sinn
des Lebens zu beantworten. Sie stelle sich unweigerlich und unentwegt. Woher
die Antworten kommen, lässt Opaschowski jedoch offen. Ob es eine Renaissance
des Religiösen geben wird, wie viele hoffen, sei dahingestellt. Dass die
berufliche Tätigkeit überhaupt keine Rolle dabei spielen soll, ist zumindest
bei akademischen Berufen nicht zu verstehen. Nur Zweitjobs lieferten Sinnbezug
und Anerkennung, schreibt er. Man fände sie vor allem in Freizeitangeboten.
Unvorhersehbares in den Modellen
Die meisten Zukunftsforscher kommen zu ihren Aussagen, indem
sie bereits beobachtete Trends extrapolieren. Natürlich werden sie nicht von
zwei Jahren gleich auf zwanzig Jahre hochrechnen. Sie können auch die
Verknappung von Ressourcen in Ansatz bringen oder den Fortschritt der Technik. Nur
was aus Bestehendem heraus sich weiterentwickelt oder wächst, lässt sich
vorhersagen. Auch Opaschowski unterliegt denselben Beschränkungen.
Sehr schwierig ist es, in Zukunftsmodellen Vorkehrungen für
sporadische Ereignisse zu treffen. Es gibt eine Vielzahl von Ereignissen, die
zwar relativ selten sind, aber mit Gewissheit eintreten werden. Die Frage ist
lediglich wann. Beispiele von Ereignissen, die bestimmt Einfluss auf die
Wirtschaftsentwicklung haben werden, sind Orkane, Hochwasser, Frost- und
Dürreperioden, Währungskrisen und Inflationen, Konkurse großer Unternehmen,
Strom- oder Gasausfälle, größere Unfälle oder Katastrophen bei Kraftwerken oder
im Verkehr, Streiks im öffentlichen Dienst oder bei der Bahn, Piloten- oder
Lotsenausstände im Flugverkehr, Volksaufstände, drohender Staatsbankrott, Machenschaften von Mafia
oder Rauschgift-Kartellen sowie die Unterwanderung durch fremde Volksgruppen.
Nur wenn man diese grundsätzliche Schwäche aller
Vorhersagemethoden berücksichtigt, kann man die Aussagen von Zukunftsforschern
richtig einordnen. Erinnerungen an die Denkweise eines levantinischen
Autors (Nassim N. Taleb) drängen sich auf. Er machte den Ausdruck ‚Schwarze
Schwäne‘ in Politik und Wirtschaft populär, um nicht vorhersagbare, aber reale
Ereignisse zu beschreiben.
Am 6.12.2013 schrieb Hartmut Wedekind aus Darmstadt:
AntwortenLöschenZukunft ist immer spekulativ, es sei denn man hat eine wahrscheinlichkeitstheoretische Basis in Form eines Modells. Spekulativ kommt von "speculum = Spiegel". D.h.: Der Zukunftsforscher schaut in einen Spiegel und sieht, informatorisch gesprochen, ein virtuelles Bild. Ein Zerrbild, auch Vexierbild genannt?
Und: Menschliche Handlungen sind nur selten präzise vorherzusagen. In Politik und Wirtschaft äußert man sich deshalb in der Regel schwammig. Blah-Blah. Oder man sagt: Ich gehe davon aus!
Am 6.12.2013 schrieb Otto Buchegger aus Tübingen:
AntwortenLöschenWie heißt so schön das arabische Sprichwort: Willst du Allah erheitern, dann erzähle ihm von der Zukunft!
Am 11.12.2013 schrieb Peter Hiemann aus Grasse:
AntwortenLöschender wichtigste Hinweis in Ihrem Blog Eintrag über Horst Opaschowskis Aussagen zu Deutschlands Zukunft ist der Link zum Report der von Frankreichs vorletztem Staatspräsident Nikolas Sarkozy ins Leben gerufene Stiglitz-Sen-Fitoussi-Kommission
Der Report befasst sich mit konkreten Zielsetzungen, zukünftig zusätzliche Daten zu erfassen, die für die Beurteilung gesellschaftlicher Zustände relevant sind. Hat man erst einmal die Daten, können potentielle zukünftige gesellschaftliche Entwicklungen besser abgeschätzt werden. Diese Daten würden vermutlich auch erlauben, die Folgen unvorhergesehener Krisen und Katastrophen besser zu überwinden.