Nur gut
einen Monat nach dem Tode Heinz Zemaneks, des Gründer des
Wiener Labors der IBM, trifft uns die Nachricht vom Tode Karl Ganzhorns. Ganzhorn war als
erster Leiter des deutschen IBM Labors in Böblingen ein unmittelbarer Förderer
und Weggenosse Zemaneks. Ich hatte das Glück, dass ich mit beiden fachlich eng
zusammenarbeiten konnte, wobei Ganzhorn mein direkter Bereichsleiter war. Beide
Kollegen erreichten ein sehr hohes Lebensalter. Normalerweise hat dies zur
Folge, dass der Abstand zu Berufskollegen größer wird und der gemeinsame Bekanntenkreis
sich verkleinert. In beiden Fällen blieb mein Kontakt lange über die gemeinsame
Berufszeit hinaus bestehen, im Falle Ganzhorns sogar bis unmittelbar vor seinem
Tode.
Auch
die Leser dieses Blogs blieben bezüglich Ganzhorns aktuellen Tätigkeiten und
Interessen im Bilde. Eine relativ ausführliche Würdigung brachte ich anlässlich
seines 90. Geburtstags. Ganzhorn leitete
nicht nur drei europäische Labors der IBM (Schweden, Österreich und
Deutschland), er nahm auch firmenweite technische Verantwortungen war. Bei dem
Ruheständler Ganzhorn hob ich seine Bemühungen hervor, die Geschichte des
Böblinger Labors zu dokumentieren. Die sieben Bände der so genannten Blauen
Reihe, die im Eigenverlag erschien, werden Ganzhorns fachliches Lebenswerk immer in Erinnerung rufen. Für die
internationalen Kollegen veröffentlichte er eine Zusammenfassung in den IEEE Annals [1]. Ein weiterer Beitrag
dieses Blogs befasste sich mit Ganzhorns biophysikalischen Arbeiten. Dabei ging es darum
für das Phänomen Wünschelrute eine physikalisch Theorie zu entwickeln. Wie
Ganzhorn mir in einem Telefonat im Juli mitteilte, hatte er beabsichtigt, seine
Ergebnisse demnächst in Englisch zu veröffentlichen. Es wird wohl nicht mehr
dazu kommen.
Mitte
Juni diesen Jahres sah sich Ganzhorn veranlasst, sein Einfamilienhaus in Sindelfingen
aufzugeben, in dem er Jahrzehnte lang mit Frau und Kindern gewohnt hatte. Er
zog zu seiner erkrankten Frau in ein Pflegeheim. In einem in Englisch verfassten
Brief informierte er alle seine Bekannten und Freunde über diese Veränderung.
Auf meiner Kopie hatte er zusätzlich vermerkt, dass er seine ‚E-Mail-Software
durch das Installieren von Verschlüsselung-Software ruiniert habe‘. Er könne
weder E-Mails senden noch empfangen. Möglicherweise hatte ich ihm zu diesem Software-Abenteuer
geraten – es wäre nicht das erste Mal gewesen.
Mehrere
Kollegen, die Ganzhorn kannten, haben mich in den letzten Tagen an Dinge
erinnert, die sie mit Ganzhorn verknüpfen. Für uns alle, die Ganzhorn kannten, beschreiben
diese Geschichten unterschiedliche Facetten von Ganzhorns Persönlichkeit. Es
kommen darin Charakterzüge zum Vorschein, die ihn sein ganzes Leben lang
auszeichneten. Leistungsbereitschaft, Zielstrebigkeit und Selbstkontrolle kommen
zum Ausdruck, gepaart mit Fairness und Verbindlichkeit. Bekanntlich erkennt man
den Charakter eines Menschen primär an seinen Handlungen, nicht an seinen
Äußerungen. Ganzhorns Ruf basierte mehr auf dem, was er selbst vollbrachte oder in die Tat umsetzte, als auf seinen Worten,
egal ob gesprochen oder geschrieben. Er genoss ein hohes Maß an Respekt und
Anerkennung, sowohl im Inland wie im Ausland, sowohl innerhalb der Firma als auch außerhalb. Von seinem Ansehen profitierten alle seine Mitarbeiter.
Ein
Ex-IBM-Kollege, Klaus Küspert von der Universität Jena, verbindet mit Ganzhorn
die Geschichte der ‚Wüsten-Universität‘. Ganzhorn hat sie öfters erzählt. Sie
ist auch dokumentiert in dem Oral-History-Interview, das Ganzhorn 1994
der IEEE gab. Ich gebe sie kurz und in Deutsch wieder.
Ganzhorn
hatte als junger Offizier unter Manfred Rommel in Afrika gedient und geriet
1942 in amerikanische Gefangenschaft. Als die Gefangenen sich YMCA-Vertretern
gegenüber beklagten, dass sie sich geistig unterfordert fühlten, lieferten
diese ihnen 4000 Fotokopien deutscher Mathematik- und Physiklehrbücher aus
deutschen und amerikanischen Universitätsbibliotheken. Mit ihrer Hilfe organisierten
die gefangenen Offiziere Vorlesungen und Übungen in Mathematik und Physik. Als
Ganzhorn 1947 aus der Gefangenschaft heimkehrte und in Stuttgart ein
Physikstudium begann, besaß er die allerbesten Voraussetzungen. Seine
körperliche Verfassung war weniger gut. Ganzhorn wog nur noch 46
Kilo.
Eine
weitere Geschichte, die mir Kollege Peter Mertens von der Universität Erlangen/Nürnberg
dieser Tage überlieferte, betrifft Ganzhorn während seiner Zeit als Leiter
mehrerer europäischer Labors der IBM.
Wir
hatten an der Nürnberger Fakultät einen eigenen Fachbereichsrechner eingeführt,
er hieß wohl IBM 9300. Derartige dezentrale Maschinen außerhalb der
Uni-Rechenzentren war damals noch ungewöhnlich. Das Gerät lief nicht. Die
Studentenvertretung protestierte heftig und lautstark, weil der Lehr- und
Prüfungsbetrieb beeinträchtigt war. Verschiedene Fachleute der regionalen
IBM-Geschäftsstellen versuchten sich vergebens an der Diagnose. Schließlich
bekam der Uni-Rektor Prof. Fiebiger (wie Ganzhorn Physiker) davon Wind. Er
gewann seinen Fachkollegen und guten bekannten Ganzhorn für einen Besuch an der
Nürnberger Fakultät. Dort hörte er sich meine Klagen an und beschied mich:
"Ich werde Ihnen meinen besten Spezialisten schicken, er hat die Maschine
selbst entwickelt". Dieser kam, sah und siegte: Irgendjemand von IBM hatte
einen langsamen Plattenspeicher vor den schnellen gehängt, der als virtueller
Hauptspeicher diente. Der langsame grub quasi dem schnellen das Wasser ab und
verlangsamte so den Betrieb extrem. Ich war stolz, dass sich mit Herrn Ganzhorn
der damals höchste IBMer Deutschlands für mich eingesetzt hatte.
Diese
Geschichte, die ich bislang nicht kannte, erscheint mir sehr plausibel. Die IBM
9300 gehörte zu den Böblinger Rechnern, die ihr Mikroprogramm nicht in einem eigenen
Festspeicher sondern im normalen Schreiblese-Speicher untergebracht hatten. Als
Paging-Gerät diente ein Plattenspeicher. Wurde die Leistung des
Paging-Speichers beeinträchtigt, wirkte sich dies auf das gesamte System aus.
Sehr
bekannt unter IBMern ist Ganzhorns eigener Bericht über ein denkwürdiges Treffen
mit Thomas J. Watson sen. Es war nach dem S/3000-Debakel. Das System bot zum
ersten Male kleine Lochkarten an, deren Lese- und Stanzgeräte aus der
Prototypen-Fertigung recht gut abschnitten. Die Massenfertigung konnte jedoch
das geforderte Qualitätsniveau nicht erreichen. Als Ganzhorn der obersten
Firmenleitung erklären musste, warum wir die angekündigte Maschine vom Vertrieb
zurückziehen müssten, erwartete Ganzhorn zumindest eine Kopfwäsche, wenn nicht
Schlimmeres. Stattdessen ermahnte ihn Watson, sich nie vom Vertrieb zu Zusagen
verführen zu lassen, wo er und seine Ingenieure nicht voll dahinter stünden.
Die Familie
Ganzhorn ist seit zehn Generationen in Sindelfingen nachgewiesen. Karl Ernst
Ganzhorn war seit 1953 mit Hildegard Majer verheiratet. Das Ehepaar hat zwei
Söhne, Axel und Jörg. Da Frau Ganzhorn einen Kindergarten leitete, ist sie bei
vielen Sindelfingern bekannter als ihr Mann. Kam dieser mit zu örtlichen
Veranstaltungen, wurde er oft einfach als Hildes Mann vorgestellt.
Anlässlich
der 750-Jahrfeier der Stadt Sindelfingen im Jahre 2013 lieferte Ganzhorn einen
Beitrag für eine Art von Festschrift [2]. Neben Eindrücken aus der Zeit vor dem
Militärdienst findet sich darin folgende Episode aus der Familiengeschichte.
Mein
mütterlicher Großvater hat als junger Schäfer um 1880 jeweils im Herbst auf der
Sommerweide der schwäbischen Alb eine Herde gutgenährter Junghammel
zusammengefasst und ist mit ihr und seinen Hunden in etwa sechs Wochen zu Fuß
über den Schwarzwald, den Rhein in Kehl überquerend, durch das Elsass und die
Champagne nach Paris gezogen, um die Herde dort auf dem Großmarkt gut zu
verkaufen. Junghammel-Braten, als „Gigot“ bereitet, war damals schon ein
begehrtes Spitzen-Angebot französischer Gastronomie. Als sein Enkel habe ich
die Paris-Reise beruflich viele Male in einer Flugstunde absolviert und, wenn
möglich, in Paris einen „Gigot“ genossen.
Ganzhorn
war für mich eine Führungskraft, zu der man aufblicken konnte. Keines der aus
dem Englischen stammenden Klischees passte zu ihm. Er war weder ein Manager,
der in allem seine Finger haben musste, noch ein Exekutive, der über den Wolken
schwebte. Seine Auffassung von technischer Führung hat nicht nur mich beeinflusst.
Sie drückt sich in dem Satz aus: Man ist Führungskraft, um Dinge zu tun, die
ein Einzelner nie leisten kann. Solche Aufgaben gibt es viele. vor allem in der
industriellen Praxis. Man muss sie aber sehen. „Sie selbst müssen eine
technische Vision haben und diese an ihre Mitarbeiter vermitteln“, pflegte er
zu sagen.
Ich bin
nicht in der Lage, alle akademischen und andere Ehrentitel und Auszeichnungen
zu listen, deren Ganzhorn teilhaftig wurde. Erwähnen möchte ich das 1982
verliehene Große Bundesverdienstkreis, den Senator E.h. der TU München und den
Ehrendoktor der Universität Stuttgart. Von 1968 bis 1971 war Ganzhorn Präsident
der Deutschen Physikalischen Gesellschaft (DPG). Ein Leben eines Fachkollegen ist zu Ende, das die
Organisation technischer Projekte ebenso umfasste, wie die strategische Planung
eines internationalen Unternehmens, sowie die politische Beratung und die
akademische Lehre. Wer mit ihm zusammenarbeitete oder ihm folgte, wird sich bemühen, dass sein Vermächtnis nicht verloren geht. Alle, die ihn kannten, werden sein Andenken in Ehren halten.
Referenzen
- Ganzhorn, K.E.: The Buildup of the IBM Boeblingen Laboratory. IEEE Annals of the History of Computing, 26,4 (2004), 4-19
- Ganzhorn, K.E.: Tiefe Wandlung. In: Bausch, P., Hülle, D.E.: Mein Sindelfingen. Sindelfingen 2013, 62-66
Hinweisen möchte ich auf den von Paul Kühn verfassten Nachruf
der Fakultät 5: Informatik, Elektrotechnik und Informationstechnik der
Universität Stuttgart vom 8.9.2014.
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