Eine Dystopie ist eine fiktionale,
in der Zukunft spielende Erzählung mit oftmals negativem Ausgang. Häufig wollen
die Autoren mit Hilfe eines pessimistischen Zukunftsbildes auf bedenkliche
Entwicklungen der Gegenwart aufmerksam machen und vor deren Folgen warnen. So
steht es bei Wikipedia. Ein sehr bekanntes Beispiel ist George Orwells ‚1984‘,
verfasst im Jahre 1948. Der Autor, der mir über eine Urlaubsreise hinweg Stoff
zum Nachdenken gab, heißt Dave Eggers (*1970). Sein Buch ‚The Circle‘ erschien
2013. Eine deutsche Übersetzung erscheint noch diesen Sommer. Es ist dies ein
Roman, kein Fachbuch. Dass der Autor sehr viel an heutige Probleme und Akteure
denkt, ist offensichtlich.
Wer
möchte nicht ein besseres Internet, ohne Spam, ohne Betrügereien, ohne
Kriminalität? Manche sehen die Lösung in der strikten Zugangskontrolle, der
Verhinderung von anonymem Zugang oder einer vorgetäuschten Identität. Genau das
ist die Ausgangssituation des Buches. Die Lösung ist ein Netz mit dem Namen ‚TruYou‘.
In dieses Netz fügen sich alle Funktionalitäten, die Einzelne oder die Gesellschaft
benötigen, wie in einem Kreis ̶ daher der Name der im Buche vorgestellten Firma ̶ auf
natürliche Weise zusammen. Alles wird integriert. Man braucht nur naheliegende
Dinge zu verbinden. Die Nutzer schätzen dies und verschaffen daher diesem
Anbieter eine Monopol-Stellung. Die Betreiberfirma wird von Drei Weisen
geleitet, die von 40 leitenden Spezialisten beraten werden. Sie vereinigt Geschäftsprinzipien
von Amazon, Google, Facebook, PayPal und Twitter, was Kunden-Service und
Mitarbeiter-Betreuung betrifft – und verfeinert sie.
Die
Gründungsidee war, ein Netz zu schaffen. in das man nur kommt, indem man sich
mittels biometrischer Daten (Fingerabdruck, Retina-Scan oder dgl.)
identifiziert. Man kann diesem Netz dann unbeschränkt persönliche Daten
anvertrauen, auch alle medizinischen Daten. Ein Sensor, der wie eine Pille
geschluckt wird, liefert alle aktuellen Daten wie Blutdruck, Körpertemperatur
und Herzrhythmus. Jeder Arzt oder Pfleger, Verwandter oder Freund kann die
Daten lesen. Für die Vielzahl von Diensten wird keine weitere Form der
Identifikation benötigt. Jeder Nutzer weiß genau, mit wem er es zu tun hat.
Die
Heldin des Romans beginnt wie alle Neueingestellten in der Kundenbetreuung. Hier
lernt sie, wie man die Kundenzufriedenheit in die Höhe treibt. Die
Personalabteilung macht sie darauf aufmerksam, dass interne Popularität
ebenfalls enorm wichtig ist. Abende und Wochenenden seien dazu besonders
geeignet, um seine Werte in die Höhe zu treiben. Man nimmt an Foren im Netz
teil oder kommentiert Beiträge anderer Mitarbeiter. Bei etwas schwierigeren
Situationen helfen die Spezialisten oder die Weisen Männer, um aus den
Erfahrungen der Mitarbeiter die richtigen Schlüsse zu ziehen. So kommt die
Heldin dank der Hilfe eines der Weisen Männer zu der Einsicht, dass
Geheimnistuerei von übel ist, ja das Vorenthalten von Information sozial
verwerflich ist (wörtlich: Secrets are
lies, sharing is caring, privacy is theft). Alle Probleme der Welt ließen
sich lösen, wenn mehr in der Öffentlichkeit verhandelt würde, oder wenn immer genug
Zeugen anwesend wären, egal ob in moralischen, juristischen oder politischen
Fragen und Situationen.
Transparenz
gehe über alles. Deshalb stiftete die Firma Circle Millionen billiger
Videokameras, die an allen interessanten und ‚gefährlichen‘ Stellen einer Stadt
oder eines Landes aufgestellt werden. Nicht nur könnten Umweltprobleme und
Verbrechen geklärt werden, sofort nachdem sie passierten. Je mehr die Leute
wissen, dass sie überall beobachtet werden, umso weniger seien sie geneigt,
Verbrechen zu begehen. Der Mensch bessere sich, die Kriminalität würde
zurückgedrängt. Man sieht hier, wie Eric Schmidts Denkweise sich weiterentwickelt.
Er meinte im Jahre 2009 noch, dass man Dinge, die andere Leute nicht erfahren sollten, auch nicht tun
sollte. Hier heißt es, da alle Alles sehen, wird niemand mehr etwas Böses tun. Dem
ach so frustrierenden Bemühen aller Pädagogen und Seelsorger gibt die Technik
neue Hoffnung. Wir werden von selbst zu Gott.
Ähnlich
wie einst von Gordon Bell im Selbstversuch (als Lifelog) erprobt, wird als Nächstes jedem
Nutzer eine winzig kleine Videokamera angeboten, die er am Halsband befestigt.
Er zeichnet damit den gesamten Tagesablauf auf und stellt ihn per Video im Netz
zur Verfügung. Das Ziel ist es jetzt, nicht nur einzelne Orte dauernd zu
beobachten, sondern einzelne Menschen transparent zu machen. Sie würden ihren ganzen Tagesablauf, alle privaten und geschäftlichen Besprechungen
und Kontakte offenlegen.
Die
Träger solcher Kameras sind die Protagonisten einer neuen Zeit. Zuerst sind es
einzelne Mitarbeiter – so die Heldin. Dann kommen prominente Persönlichkeiten
hinzu, die in der Öffentlichkeit stehen. Schließlich wird es eine Bürgerbewegung,
die Millionen umfasst. Alles geschieht auf freiwilliger Basis. Da die Firma ohnehin
über die bessere Technik und bessere Daten verfügt als der Staat, ist es sehr
attraktiv und enorm kostensparend, ihr weitere staatliche Aufgaben zu
übertragen, etwa die Durchführung von Wahlen und Abstimmungen jeder Art. Wird
dadurch die Wahlbeteiligung gesteigert und in die Nähe von 100% gebracht, ist
es dies der Schritt zur direkten Demokratie. Freiwillige entwickeln spontan die
nötige Software. Beim Probelauf im Unternehmen versprechen die drei Weisen, die
durch die Abstimmungen vorbereiteten Entscheidungen umgehend zu treffen. Sie zeigen damit, dass man
das gesamte öffentliche Leben umkrempeln kann. Man brauche keine Parteien und
keine Parlamente mehr.
Im
zweiten Teil des Buches treten jede Menge Widersprüche und Konflikte auf, da die extreme
Form von Transparenz zu Problemen führt. Nicht alle Leute vertragen es, den
ganzen Tag im Blick von Kameras zu sein. Es kommt zu Schwierigkeiten, wenn peinliche
Beobachtungen nicht gelöscht werden können, usw. Die Gesellschaft spaltet sich zwischen
Menschen, die Transparenz wollen und andern. Natürlich erregt es bei vielen
Menschen ein sehr ungutes Gefühl, ja große Angst, dass eine private Firma fast alle
Informationen über Bürger kontrolliert. Im Roman kommt es zu persönlichen
Zusammenbrüchen, ja Toten. Selbst als einer der drei Weisen sich dazu bekennt,
dass dies weit über das hinausginge, was er einst beabsichtigt hatte, beschließen
alle anderen das Projekt fortzuführen. Das Wohl der Firma lässt ihnen keine
andere Wahl – also kein Happy End.
Jeder
Leser dieses Blogs, ja jeder, der die öffentliche Diskussion um WikiLeaks, NSA-Ausspähungen
und dergleichen verfolgt hat, kennt diese Problematik seit Jahren. In dem
Blog-Eintrag vom November 2013 hieß
es:
Vertraulichkeit
und Transparenz, Öffentlichkeit und Privatsphäre sind Begriffspaare, deren
Elemente einander bedingen. Es gibt das eine nicht, ohne das andere.
Einige
Argumente, die hier für absolute Offenheit im Netz benutzt werden, waren mir
neu. Zwei Beispiele: Wer sich nicht im Netz darstelle, dem mangle es an
Selbstbewusstsein. Wer meint, dass seine Lebensgeschichte für andere
uninteressant sei, der ignoriere wie hilfreich sie für Leute sein kann, die arm
oder behindert sind. Im Grunde ist das Buch von Dave Eggers mal wieder eine gut
gemeinte Warnung an uns alle. Sie zeigt die Folgen von extremem Denken auf,
einem Denken, für das Halbwüchsige oder Jungwissenschaftler nun mal besonders
empfänglich sind. Das Buch trifft zweifellos den Nerv unserer Zeit. Das beweist
ein Kommentator der FAZ in der Ausgabe zur Buchmesse:
Wie
gruselig nahe das Buch der Realität tatsächlich kommt, zeigte sich just in den
vergangenen Tagen, als bekannt wurde, dass Google nun mit Nachdruck daran
arbeite, Personen allein anhand ihres Verhaltens zu erkennen.
Je
näher die Verfügbarkeit der deutschen Übersetzung rückt, je mehr häufen sich
die Kommentare. Dass das Buch eine Fiktion beschreibt, wird allein schon durch die Aussage
belegt, dass alle Geräte über eine Stromversorgung verfügen, die ohne
Batteriewechsel mehrere Jahre funktioniert.
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