Letzte Woche
brachte Gerd Scobel bei 3SAT unter der Überschrift Verspielte Welt einige Filme, die zeigten, dass sich
Rechner, besonders Tablets oder Smartphones, sehr gut einsetzen lassen, um im
Alltag ernsthafte Aufgaben spielerisch anzugehen. Hier ist ein enormes kreatives
Potential vorhanden, das anzuzapfen sich lohnt. Der Homo ludens wird
oft als Gegensatz zum Homo faber gesehen. Beide Begriffe beschreiben
verschiedene Wege der Sinnfindung. Der Homo ludens ist der Typ, der im
zweckfreien Spiel die Welt erkundet. Der Homo faber ist der Ingenieur, für den Wissen
und Wissenschaft nur Mittel zum Zweck sind. Er lernt und forscht, um die Welt
zu verändern.
Schlagwort Spielifizierung
(engl. Gamification)
Wird im Deutschen über
das spielerische Lösen von Problemen gesprochen, wird fast immer das englische
Wort Gamification (oder das Lehnwort Gamifizierung) benutzt.
Obwohl das deutsche Wort Spielifizierung (oder Spielifikation) nicht viel
länger ist, wird es kaum verwandt. Wer weiß, wie sich Elektrifizierung zu
Elektrizität verhält, müsste auch das deutsche Wort verstehen. Es geht allgemein
um die Anwendung spieltypischer Elemente und Prozesse in spielfremdem Kontext,
insbesondere bei interaktiven Computeranwendungen. Im Begleittext der Sendung
hieß es:
Wenn sie lästige
Aufgaben spielerisch angehen, lassen sich Menschen zu Tätigkeiten motivieren,
die sie sonst eher langweilen. Studien von Verhaltensökonomen zeigen, dass vor
allem bei jüngeren Generationen eine Werteverschiebung stattfindet, die Folgen
für Anreizsysteme hat. Motivation wie das Streben nach Geld oder
Erfolg treten in den Hintergrund, wichtiger werden sinnstiftende Tätigkeiten.
Genau hier wollen Experten ansetzen, wenn sie fordern, Gamification stärker in
den Alltag zu integrieren. Leben,
lernen und arbeiten wir besser, wenn der Alltag wie ein Computerspiel
funktioniert?
Als Beispiele wurde die Stadt Oklahoma City in den USA gezeigt, die
irgendwann in den Ruf kam, die meisten fetten Leute zu haben. Im spielerischen
Wettbewerb durften Bürger ihre Gewichtsabnahmen publik machen. Als Ergebnis hat
die Einwohnerschaft der Stadt innerhalb eines Jahres rund eine Million Pfund
abgenommen. In einem anderen Falle wetteiferten Stadtteile um die Reduzierung
von Müll. Auch Anwendungen im Schulunterricht wurden gezeigt. Mein Ex-Kollege Peter Hiemann aus Grasse,
der die Sendung auch gesehen hatte, schrieb dazu:
Bisher habe ich
Computer vor allem als Hilfsmittel betrachtet, die dem Zweck dienen,
Transaktionen von Institutionen zu automatisieren, individuelle geistige
Tätigkeit zu unterstützen und individuelle Erkenntnisse andern mitzuteilen. Offensichtlich
ermöglicht die allgegenwärtige Verfügbarkeit digitaler Anwendungsprogramme
vielfältiger Art, psychologische, emotionale menschliche Affekte zu mobilisieren,
mit sowohl positiven als auch negativen Konsequenzen. Lehrprogramme können zum
Beispiel so gestaltet werden, dass "Lust beim Lernen" entsteht.
Programme können einfach "Langeweile überbrücken". Programme zur Erfassung
individueller Eigenschaften können "Frust" nach sich ziehen, wenn sie
von Institutionen ausschließlich zu Effizienzsteigerung eingesetzt werden. Es
ist nicht zu übersehen, dass mehr denn je individuelle Entscheidungen
erforderlich sind, digitale Anwendungsprogramme nicht nur nach technologischen
Kriterien zu bewerten. Wir sind gefordert zu verstehen, was digitale
Anwendungsprogramme psychologisch und gesellschaftlich bewirken können oder gar
beabsichtigen. Wir können Programme akzeptieren, sie mit individuellen
Einschränkungen nutzen oder sie verwerfen.
Spielerische
Elemente
Anstatt alle
Eigenschaften eines Computerspiels zu beschreiben, will ich versuchen die Frage
zu beantworten: Was macht ein Programm zum Spiel? Nur so viel: Es ist eine zu lösende
Aufgabe konkret vorgegeben. An der Lösung kann ein Einzelner arbeiten oder
mehrere Personen gleichzeitig. Man kann das Ziel erreichen, oder auch nicht,
d.h. man kann gewinnen oder verlieren. Meistens ist Geduld und Konzentration
erforderlich. Es kann ein Zeitlimit vorgeben sein, muss aber nicht. Durch
mehrmaliges Spielen kann man besser werden. Es gibt konkrete Erfolgserlebnisse;
man kann aber auch scheitern. Oft gibt es Belohnungen, sehr selten jedoch
Strafen. Man kann sein Abschneiden bei mehreren Versuchen vergleichen, oder
sich mit andern Spielern messen.
Vor- und Nachteile der Spielifizierung
Als Spiel
verkleidete, also spielifizierte Anwendungen werden häufig im Bereich der Werbung
und Unterhaltung als Mittel der Kundenbindung eingesetzt. Sie finden sich auch zunehmend
in Bereichen wie Fitness und Gesundheit, Ökologie und Sozialpolitik, sowie beim
Online-Shopping. Informatikerinnen und Informatiker sollten ihnen ernsthafte
Beachtung schenken. Vielleicht ergeben sich daraus durchaus interessante
Lösungsansätze, um Anwendungen „benutzungsfreundlicher“ zu gestalten. Es wäre
ein falscher Dünkel, wenn wir uns scheuen würden, von Spiele-Entwicklern zu lernen.
Während in den
bisherigen Zitaten besonders der motivierende Effekt hervorgehoben wurde,
möchte ich zwei weitere Gründe benennen, warum die Spielifizierung für die Informatik
wichtig ist. Der erste Grund ist im Wikipedia-Eintrag zum Stichwort
Gamification erwähnt: ‚Gamification
verwendet einen Empathie basierten Ansatz‘. Unter Empathie versteht man die Fähigkeit und die Bereitschaft, sich in
die Gefühle und Gedanken einer anderen Person zu versetzen. Sie ist die
Voraussetzung für Mitleid, Trauer und Hilfsbereitschaft. Sich von Empathie
leiten zu lassen, sollte sich nicht auf Spiele beschränken. Es sollte für alle
Informatik-Anwendungen der Fall sein.
Der zweite Grund
ist fast noch wichtiger. Spiele galten schon immer als äußerst anspruchsvolle
Anwendungen, was die Mensch-Maschine-Kommunikation betrifft. Sind die Dialoge
nicht dem Können der Nutzer angepasst, oder sind die Reaktionszeiten
inakzeptabel, verlieren Nutzer die Lust und verabschieden sich. Sie sind nicht
bereit, ein Interface zu tolerieren, wie es vielen betrieblichen Nutzern
zugemutet wird. Erinnern möchte ich an folgende Eigenschaften, die seit
Jahrzehnten für alle Arten von Computer basierten Dialogen gefordert werden:
- Sichtbarer Status: Der Anwender möchte nach jedem Arbeitsschritt wissen, wo er sich befindet.
- Transparenz des Weges und des Resultats: Es sollte jederzeit klar ersichtlich sein, welche Schritte möglich sind und wann das Ziel erreicht ist.
- Positive Rückmeldung: Erfolgreiche Aktionen sollten als solche bestätigt werden oder erkennbar sein.
- Fehlertoleranz: Wenigstens der letzte Schritt sollte rückgängig gemacht werden können. Besser noch: alle Schritte.
Auch im Hinblick
auf computergestützte Gruppenarbeit (engl. computer supported cooperative work,
Abk. CSCW) ist der spielerische Ansatz von Nutzen. Es lassen sich Projekte leichter
organisieren, bei denen zuerst Kontakte hergestellt und eine geeignete Organisationsform
erst gefunden werden muss. Im Spiel zeigen die Teilnehmer ohne Skrupel, welche
Fähigkeiten sie besitzen und wo ihre Grenzen liegen. Selbst beim Erlernen einer
Programmiersprache kann ein spielerischer Umgang mit den einzelnen
Programmierschritten hilfreich sein.
Obwohl die Vorteile
überwiegen, sollte man die Nachteile nicht völlig übersehen. Erfahrene Nutzer
fühlen sich nicht selten unterfordert. Erwachsene fühlen sich wie Kinder
behandelt. Leute, die lieber allein arbeiten oder sich selbst motivieren,
kommen sich vor, als ob man sie überlisten möchte. Viele Menschen sind bereit, die Welt so
zu akzeptieren, wie sie ist. Sie schlucken Arzneien auch, wenn sie nicht in
Zuckerguss serviert werden. Manche Menschen verabscheuen aufdringliche Gruppenarbeit
und Massenspiele. Einzelkämpfer sollte man nicht generell vergraulen. Sie sind
oft die ‚smart creatives‘, auf die ein modernes Unternehmen angewiesen ist.
Historische
Perspektiven
Dieser Tage erinnerte
mich mein Kollege Rul Gunzenhäuser daran, dass es Computerspiele gibt, seit es Computer
gibt. Ich selbst spielte 1957 an der IBM 650 Tic Tac Toe und Nim, einfache
Brettspiele. Wir machten Musik mit Hilfe eines Schnelldruckers. Später kamen
Mühle und Schach. Kollege Gunzenhäuser, der an der Universität Stuttgart sich
ein Leben lang mit computer-gestütztem Lernen und Mensch-Maschine-Interaktion
befasst hatte, schrieb dazu:
Der Begriff
"Spielifizierung" gefällt mir eigentlich nicht. Die Pädagogik spricht
immer vom "spielerischen Lernen, Arbeiten, Forschen usw." Das Thema ist nicht ganz neu: Schon im
Mittelalter wurde bei Turnieren (mit Spielregeln) für den ernsten Kampf
trainiert. Pestalozzi führte das spielerische Lernen im Kindergarten ein,
Kerschensteiner dann beim spielerischen Erlernen von Fakten, Algorithmen und Verhaltensweisen in der Volksschule. In den
1980-Jahren waren am MIT mehrere Arbeitsgruppen mit Lernen und Programmieren
durch spielerischen Umgang beschäftigt, z.B. Projekt Mindstorm und Projekt LOGO. Bei
Mindstorm ist die dänische Firma Lego eingestiegen. Die interaktive Programmiersprache
LOGO bietet eine (in ein Spiel eingebettete) Visualisierung der Lösungsschritte.
Aktuell aus dem
Netz
Auf eine Diskussion
des Themas in Computing Now vom 10.12.2014, einer
Online-Publikation der IEEE, sei hingewiesen. Dort heißt es geradezu euphorisch:
,Durch Spielen lassen sich andere
inspirieren, um bewusst Regeln zu brechen, Grenzen zu überschreiten und auf der
ganzen Welt zusammenzuarbeiten, um übergreifende Anwendungen in Kunst, Kultur,
Wissenschaft, Unternehmen und Bildung zu entdecken.‘ Bei SAP in Walldorf meint man: ‚Gamifizierung heißt der neue Trend bei Unternehmensschulungen, der sich
in Windeseile ausbreitet – und das aus gutem Grund: Spielen macht Spaß, und mit
der Verbreitung sozialer Medien sind Spiele allgegenwärtig geworden.‘
PS: Ein Grund, warum ich lieber Spielifizierung anstatt Gamifizierung sage, hängt mit den Assoziationen zusammen, die sich bei mir einstellen. Wenn ich in Gamifizierung den ersten Vokal wie ein deutsches A (und nicht Englisch wie in games) ausspreche, denke ich zu allererst an gammeln und Gammelfleisch.
PS: Ein Grund, warum ich lieber Spielifizierung anstatt Gamifizierung sage, hängt mit den Assoziationen zusammen, die sich bei mir einstellen. Wenn ich in Gamifizierung den ersten Vokal wie ein deutsches A (und nicht Englisch wie in games) ausspreche, denke ich zu allererst an gammeln und Gammelfleisch.
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