Demokratie
wird oft fälschlicherweise mit Regierung durch das Volk gleichgesetzt. Menschen, die
das tun, vergessen vor allem, dass auch der Pöbel Teil eines Volkes ist. Bescheidener
und daher brauchbarer ist die Definition, die auch Karl Popper benutzt, dass nämlich
Demokratie da herrscht, wo eine Regierung abgesetzt werden kann, ohne dass
dafür Gewalt angewandt werden muss. Eine Regierung hat mehrere Möglichkeiten,
um ihre Politik auszuwählen. Hier will ich zwei Extreme vorstellen. Eine
Regierung kann nur dem Volk aufs Maul schauen oder kann sich selbst etwas
überlegen. Andere Ausdrucksweisen für dieselben Verhaltensweisen heißen: Sich
nach der öffentlichen Meinung richten oder sich von der Staatsräson leiten
lassen, oder ̶ noch krasser ausgedrückt ̶ zu Populismus neigen oder Realpolitik betreiben.
Erläuterung
der Begriffe
Die öffentliche Meinung ist das, was durch Volksbefragungen
ermittelt werden kann. Es sind die zu einem gegebenen Zeitpunkt vorherrschenden
Urteile zu Sachverhalten. Sie setzten sich aus einer Vielzahl von
Einzelurteilen zusammen. Aus der Summe der Einzelmeinungen den so genannten
Volkswillen abzuleiten, ist oft schwierig, wenn nicht unmöglich. Der Wunsch
vieler Politiker ist der einer starken Homogenität und Harmonie innerhalb des
Wahlvolks. Das Gegenteil ist oft der Fall. Dank der Tätigkeit professioneller
Meinungsforscher ist es heute möglich, die vorherrschende Meinung in einem
Zeitabschnitt oder einer Region zu trennen von diversen Minderheitsmeinungen. Angela
Merkel wird nachgesagt, dass sie einen guten Draht nach Allensbach besäße. Dort
sind Deutschlands bekannteste Meinungsforscher zuhause. Niemand weiß, was sie
in dieser Hinsicht wirklich tut, noch glauben viele, dass sie sich sehr danach
richtet. Da sie schon mehrfach Wahlen gewann, scheint sie sich nicht völlig von
der öffentlichen Meinung zu entfernen.
Der
Begriff der Staatsräson ist etwas, wo
Empirie fehl am Platze ist. Sie ist eher der Ausfluss einer Theorie, also ein
Konstrukt der Vernunft, wie der französische Wortursprung (frz. raison)
nahelegt. Diese Theorie basiert auf einem ganz bestimmten Menschenbild und
einer Vorstellung dessen, was für das jeweilige Staatsgebilde am besten ist. Oft
ist die Staatsräson primär auf die Aufrechterhaltung eines (gerade) funktionierenden
Staatsgebildes ausgerichtet. Dabei wird angenommen, dass der Staat selbst ein
Existenzrecht hat, das er sogar gegenüber den Wünschen einzelner Bürger
verteidigen darf. Die Gefahr ist groß, dass Staat und Bürger in Konflikt geraten ̶ selbst
in Demokratien. Politik, die als Teil der Staatsräson angesehen wird, ist quasi
sakrosankt. Sie steht über dem Parteiengezänk und steht auch im Wahlkampf nicht
zur Diskussion. Die Staatsräson der Bundesrepublik hat historisch gesehen einen
Niederschlag gefunden im Grundgesetz (GG) von 1949. Das GG regelt oder expliziert
nicht alles, was einmal politisch relevant sein kann. Bei einem zerfallenden
Staat ist jedwede Staatsräson verloren gegangen. Angela Merkel hat meines Wissens
den Begriff Staatsräson bisher nur im Zusammenhang mit dem Überleben Israels
benutzt.
Die öffentliche
Meinung drängt sich einem geradezu auf. Alle Medien leben davon, ihr zum
Ausdruck zu verhelfen. Um sie wird auf den Straßen und in den Medien gerungen. Über
Staatsräson wird nur selten und ungern geredet. Es ist auch nicht immer leicht,
zu erkennen oder festzulegen, worin sie besteht. Statt weiter allgemein darüber
zu reden, versuche ich es anhand von Beispielen.
Beispiele
aus der heutigen politischen Lage
Um zu
zeigen, wie weit dieses Dilemma reicht, gebe ich zunächst einen Überblick in
tabellarischer Form. Die Auswahl umfasst ein Dutzend politische Felder, die im
Augenblick eine Bedeutung zu haben scheinen.
Übersicht über einige Politikfelder
Diskussion
des Ansatzes und dreier Beispiele
Meine
Beschreibungen von Meinungen und Politiken habe ich nach ‚bestem Wissen und
Gewissen‘ vorgenommen. Das heißt, ich schließe Fehler nicht aus. Ich habe in
allen Fällen die grammatische Form einer Tätigkeit gewählt. Das suggeriert,
dass die Politik immer etwas tun kann. Dem ist aber nicht so. Sich einer
Entwicklung nicht widersetzen, mag in einzelnen Fällen auf das Gleiche
hinauslaufen. Anstatt alle Beispiele zu vertiefen, will ich nur drei sehr
aktuelle Beispiele näher diskutieren, die USA, Griechenland und die
Flüchtlingsproblematik.
In der NSA-Affäre haben die Amerikaner
offensichtlich Fehler gemacht. Wie uns Edward Snowden klarmachte, haben sie als
Folge des 9/11-Debakels anschließend die Überwachung des
Telekommunikationsverkehrs übertrieben. Sie haben Ausländer noch weniger
verschont als ihre eigenen Bürger. Als man damit begann, sah man das große
Potenzial das die vorhandene Technik bot. Man traf eine Abwägung zwischen
Werten (oder vielleicht auch nicht) und entschied sich für das scheinbar kleinere
Übel. Durch die Offenlegung der NSA-Praktiken musste die Bewertung neu vorgenommen
werden. Dieser Prozess benötigt Zeit. Angela Merkel und die Bundesregierung
mussten abwägen, was für sie mehr zählte, die nominellen Rechte deutscher
Bürger oder deren Sicherheit. Sie entschieden sich offensichtlich zugunsten der
Sicherheit und einer Fortsetzung der bisherigen Zusammenarbeit. Auch mir
persönlich ist der Schutz vor realen Gefahren wichtiger als die Wahrung fiktiver
Rechte. Diese Aussage gilt ̶ wie viele andere ̶ nur
prinzipiell, also im Abstrakten. In der Realität kommt es auf die Abwägung an,
also das Ausmaß und die relative Gewichtung.
Nicht
alle Regierungen der EU-Länder haben dasselbe Niveau, was die Qualität
staatlicher oder bürokratischer Prozesse betrifft. Besonders in Griechenland scheint es Defizite zu
geben. Dass die Maßnahmen, die von EU-Kommission, Euro-Gruppe und IWF verhängt wurden,
dem Land sehr schwer fallen, ist nicht zu leugnen. Deshalb Griechenland aus dem
Euro auszuschließen, wie dies einige Volkswirtschaftsprofessoren fordern, ist
nicht sehr politisch noch sehr kreativ gedacht. Politisch ist Griechenland in
exakt derselben Situation wie Bremen, Berlin und das Saarland. Das sind
notorische Schuldenländer. Niemand denkt daran, sie aus dem Bund zu werfen.
Bayern und Baden-Württemberg drohen schon seit Jahren, den Verteilungsschlüssel
im Länderfinanzausgleich ‚korrigieren‘ zu lassen. Von einer Beendigung des
Finanzausgleichs war noch nie die Rede. Außerdem verstehe ich nicht, wieso ein
Land die Währungsunion verlassen muss, wenn es pleitegeht. Es grenzt meines
Erachtens an die Staatsräson des wiedervereinigten Deutschlands die europäische
Integration weiter zu fördern und nicht rückgängig zu machen. Noch traut sich
niemand dies auch zu sagen.
Als
letztes der Beispiele will ich kurz auf die Immigations-
und Flüchtlingsproblematik eingehen. Sehr langsam hatte sich die Bevölkerung
damit abgefunden, dass Deutschland Einwanderer braucht. Nur haben wir uns noch
nicht dazu durchgerungen durch klar verkündete, nachvollziehbare
Auswahlkriterien den Anstrom etwas zu kanalisieren. Durch das riesige
Anschwellen der Zahl der Asylsuchenden ist ein akutes Problem entstanden. Durch
die Situation in Syrien und anderswo kam jetzt noch eine Welle an Flüchtlingen
dazu, deren Schicksal uns nicht kalt lassen kann. Es machen sich plötzlich
vielerlei Ängste breit. Einige sehen den Wohlstand in Gefahr, andere den
Zusammenhalt der Gesellschaft. Ich maße mir nicht an zu wissen, wie man dieses
Problem in den Griff bekommt. Sicher kann es helfen, wenn jetzt eine Diskussion
stattfindet, was Maßnahmen sind, denen wir uns als funktionsfähiges Staatsgebilde
nicht entziehen dürfen. Im Moment ̶ so glaube ich ̶
wird das Flüchtlingsproblem noch unterschätzt oder aber verdrängt. Der
Effekt ist derselbe. Wir sollten jetzt das tun, von dem wir in fünf Jahren
sagen werden, hätten wir es doch besser damals getan. Das klingt wie dummes
Gerede. Andere Leute sagen dazu: Versuche die Dinge vom Ende her zu denken.
Quintessenz