Am Allerheiligensonntag meldete sich der Ökonom Marcel
Fratzscher zu Wort. Er ist der Präsident des Deutschen Instituts für
Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin. Er
widerlege den Mythos vieler Politiker, dass
Flüchtlinge Deutschland überforderten, so hieß es in der Überschrift. Es
ging dabei (wieder) nur um die ökonomischen Aspekte und nicht um die
gesellschaftlichen. Indem ich dieses Thema ebenfalls aufgreife, will ich nicht
sagen, dass man die anderen Aspekte total außer Acht lassen soll. Nur gebe ich den
wirtschaftlichen einen gewissen Vorrang. Bill Clinton tat das auch. Sein Wahlslogan
‚It’s the economy, stupid!‘ drückte
genau dies aus und wurde weltbekannt.
Arbeitsmarkt innerhalb Deutschlands
Wir haben in Deutschland zurzeit weniger Arbeitslose (unter 3 Mio.) als in den letzten 10-20
Jahren. Diesen Arbeitslosen steht mindestens dieselbe Zahl an offenen Stellen
gegenüber. Offiziell nennt die Arbeitsagentur geringere Zahlen (etwa 600.000).
Das hängt damit zusammen, dass Firmen nie alle offenen Stellen melden. Hierfür
gibt es mehrere Gründe. Ich möchte nur einige andeuten:
- Das Verfahren der Arbeitsagentur ist langsam und bürokratisch.
- Es gibt Alternativen, die schneller und besser sind (z. B. direkte Bewerbung, Werbung durch eigene Mitarbeiter oder private Vermittler, Werbung an oder durch Hochschulen)
- Mit offenen Stellen zu werben, ist die bestmögliche allgemeine Firmenwerbung.
Die zu lösende Aufgabe ist kein Zahlenproblem, d.h. x Arbeitslose auf y offene Stellen zu verteilen. Es ist primär ein Skillproblem, d.h.
u verschiedenen Anforderungen sind
mit v verschiedenen Qualifikationen in
Deckung zu bringen. Selbst wenn das Skillproblem nicht wäre, gibt es noch das
Lokalitätsproblem. Offene Stellen sind meist nicht da, wo die Arbeitssuchenden
wohnen. Manche Leute nehmen zwar unglaubliche Mühen in Kauf, um zur Arbeit zu
gelangen. Der halbe Schwarzwald pendelt täglich nach Sindelfingen, halb
Thüringen wöchentlich nach Hessen. Ostfriesländer leben die Woche über in
schwäbischen Notunterkünften, nur damit Frauen und Kinder ein freistehendes Eigenheim
genießen können.
Es ist in einer freien Wirtschaft unmöglich, die Zahl der Arbeitslosen
gegen Null zu drücken. Totalitäre Staaten sind da besser dran. Ob der ‚Bodensatz‘
drei oder vier Prozent der arbeitsfähigen Jahrgänge betragen kann, da sind sich
die Experten nicht einig. Menschen, die aus gesundheitlichen oder familiären Gründen
nicht können, müssen bei uns nicht dazu gerechnet werden. Es handelt sich also vorwiegend
um solche, deren Qualifikation nicht passt. Wo dieses Problem selbst nach 4-5
Jahren noch besteht, muss es auch am Willen der Betroffenen liegen. Vielleicht
hoffen sie, dass der Markt doch noch die Stellen schafft, die ihnen zusagen.
Von deutschen Unternehmen geschaffene Arbeitsplätze
Inzwischen schaffen deutsche Unternehmen fast die gleiche Anzahl von
Arbeitsplätzen im Inland wie im Ausland. Arbeitsplätze im Ausland können aus
mehreren Gründen interessant sein:
- Niedrigere Lohn- und Materialkosten als im Inland
- Zahl und Fähigkeiten der vorhandenen Arbeitskräfte
- Nähe zum Markt, also zum Kunden
- Auflagen der lokalen Politik
Am Anfang stehen oft die Kosten. Es kommt vor, dass sie in den
Hintergrund treten, sobald Qualitäts- und Lieferzusagen nicht erfüllt werden
können. So gibt es Branchen, die ihre Produktion wieder ins Inland zurückholen
mussten. Es kann aber auch sein, dass durch stärkere Automation die
Personalkosten reduziert werden und dadurch die Vorteile der Auslandsproduktion
wegfallen. Ein Mangel an Fachkräften lässt sich vor Ort nicht durch rein
technische Maßnahmen vollständig beheben. Diese Situation veranlasste deutsche
Firmen zu großen Investitionen, sowohl in Osteuropa als auch in Amerika und Asien.
Tschechien, Slowakei, Ungarn und Rumänien gelten heute als die hoch geschätzten
Zulieferer der gesamten deutschen Industrie. Sie fühlen sich recht wohl dabei.
Es wurden dort Millionen von Arbeitsplätzen geschaffen. Leidtragende sind die Anwohner
und sonstigen Nutzer der Autobahnen in Bayern und Baden-Württemberg. Da die
Anlieferung nach dem Just-in-time-Prinzip erfolgt, ersetzt die Autobahn die
Lagerhallen. Mit Polen, dem Baltikum und dem südlichen Balkan hat sich eine
derartige Arbeitsteilung noch nicht entwickelt. Deshalb wandern viele Einwohner
dieser Länder dahin aus, wo Arbeit ist.
In China, Indien, Südamerika und den USA ist die Situation wieder eine
andere. Hier geht es primär um die Nähe zum Markt, und im Falle Chinas, auch um
Rohstoffe (Energie, Erze). Die deutschen Investitionen sind nicht geringer als
in Osteuropa, nur konzentriert man sich auf die Endmontage. Die Zahl der von
deutschen Firmen beschäftigten Arbeitskräfte ist nicht viel geringer als in
Europa. In China verlangt der Staat eine Beteiligung einheimischer Unternehmen,
mit dem erklärten Ziel, möglichst bald den Markt selbst zu übernehmen. Russland,
der Nahe Osten und Teile Afrikas sind primär Energie-Lieferant und Absatzmarkt
mit eigenen Risiken, vor allem politischer Art.
Wirtschaftsfaktor Arbeit
Arbeit ist zwar ein wichtiger Wirtschaftsfaktor, aber nicht der allein
oder alles entscheidende. Ohne Kapital ist Arbeit meist ineffektiv. Wer nur
seine Hände einsetzen kann, zieht dem gegenüber den Kürzeren, der Werkzeuge und
Maschinen verwendet. Arbeit ist ersetzbar. Obwohl die deutsche Wirtschaft seit
Jahren über den Mangel an Fachkräften jammert, erzielt sie einen Umsatzrekord
nach dem andern. Nicht nur kann sie dabei auf bisher nicht in Betracht gezogene
Personengruppen zurückgreifen (siehe oben), sie kann auch auf Lösungen
ausweichen, die weniger oder gar kein Personal benötigen. Für die Prozesse, die
sich automatisieren lassen, entfallen nicht nur die Arbeitskosten. Oft werden
sie sogar zuverlässiger, da gewisse Fehlerquellen wegfallen.
Waren früher die Masse der Beschäftigen in der Reproduktion von Gütern
eingesetzt, verschiebt sich der Schwerpunkt immer mehr in Richtung Entwicklung,
Vertrieb und Wartung. Ein Maßstab ist der Anteil von Software an den
Produktkosten. Bei Autos liegt er über 20%, bei Flugzeugen über 50%. Bei allen
Dienstleistungen erreicht er nahezu 100%. Bei der amerikanischen Wirtschaft ist
der Anteil höher als in der deutschen. Dieser Trend ist für die Zukunft auch
unserer Wirtschaft von entscheidender Bedeutung.
Arbeitsmarkt als Teil der Wirtschaft
Manchmal kann ich unsere Politiker nur bedauern. Was ihnen von
namhaften Ökonomen oft geraten wird, kommt sogar mir oft als sehr wenig
durchdacht vor. Zum Glück weiß ich bei einigen, dass ihre Institute im Dienste
der Gewerkschaften oder der Industrie stehen. Aber selbst bei Trägern des Nobelpreises
für Ökonomie kann man sich nicht darauf verlassen, dass der Geehrte mehr als
nur eine Denkschule vertritt. Anders ausgedrückt, es scheint in der
Volkswirtschaftslehre besonders schwer zu sein, zwischen Lehrmeinung und
Wissenschaft zu unterscheiden.
Das Thema Arbeitsmarkt
bietet ein Beispiel für dieses Dilemma. Oft hört man die Meinung, dass es die
primäre Aufgabe von Wirtschaft sei, die in einer Region lebenden Menschen mit Arbeit,
also mit Einkommen zu versorgen. Arbeit ist ein Mittel zum Zweck. Heute
erscheint sie manchen Leuten geradezu als Selbstzweck. Die Wirtschaft wird
einem Kuchen, Arbeit genannt, gleichgesetzt, den es aufzuteilen gilt. Millionen
von Menschen starren nur auf ihn. Wenn man einigen Experten zuhört, könnte man
glauben, des es die primäre Aufgabe der Wirtschaft sei, diesen Kuchen zu backen.
Nichts Schlimmeres stellen sie sich vor, als dass die Wirtschaft diese Aufgabe
aus den Augen verlieren könnte, oder dass sie es nicht schafft, den Kuchen groß
genug werden zu lassen. Sobald der Kuchen einmal gebacken ist, sorgen Gewerkschaften
dafür, dass er gerecht aufgeteilt wird. Welchen Sinn hat jedoch das Bestehen
auf Arbeitszeitverkürzungen gegenüber möglichen Lohnerhöhungen, wenn die Möglichkeit
besteht, die Arbeit in andere Regionen auszulagern oder Wanderarbeiter
einzusetzen? An dieser Stelle muss ich passen.
Natürlich ist ein Überangebot an Arbeit, das zur Vollbeschäftigung führt,
sehr erstrebenswert. Für mich ist der primäre Grund der Wirtschaft nicht die
Beschäftigung von Unselbständigen, die nach Arbeit suchen, die von anderen
Leuten bezahlt wird. Daher ist auch das ‚Ende der Arbeit‘, das von Autoren wir Jeremy Rifkin an
die Wand gemalt wird, nicht das Ende der Wirtschaft. Es ist lediglich eine
Folge des technischen Fortschritts, dass es immer weniger körperliche Arbeit
gibt. Zugegeben, es ist der Punkt, an dem von der heutigen Politik erwartet
wird, dass sie etwas tut, insbesondere wenn es eine Regierung ist, an der die
SPD beteiligt ist. Der Arbeitsmarkt pulsiert als Folge der wirtschaftlichen
Tätigkeit der Unternehmen. Sofern man nicht der Ansicht ist, dass der Staat für
alles sorgt, entsteht abhängige Beschäftigung da, wo es Unternehmer gibt, die
Chancen für Gewinn sehen und diese auch ergreifen. Durch Expandieren erhöht die
Wirtschaft das Warenangebot, insbesondere für Konsumgüter. Sie senkt Preise und
damit die Lebenshaltungskosten. Im Vergleich zu anderen Ländern fielen
Lohnerhöhungen bei uns in den letzten 10 Jahren verhältnismäßig gering aus. Die niedrigen Verbraucherpreise nahmen Druck weg von den Löhnen.
Volkswirtschaftliche Theorie
Die volkswirtschaftliche Theorie sollte Beobachtungen voraussagen können.
Das ist vielleicht zu viel verlangt. Man hat stattdessen das Idealbild des
‚Homo oeconomicus‘ geschaffen. Man fragt sich: Was würde der tun? Was – daraus abgeleitet
̶ hier folgt, ist lediglich eine Sollvorstellung,
eine Richtschnur für systemkonformes Verhalten. Wer immer dazu in der Lage ist,
muss Arbeit erzeugen, durch die er anderen Beschäftigung geben kann. Er muss
sich als Arbeitgeber betätigen. Wer dies nicht kann, soll ein Geschäft betreiben,
von dem er selbst existieren kann. Wer auch das nicht kann, muss Qualifikationen
entwickeln, die ein Arbeitgeber bereit ist, für Geld einzukaufen. Diese Reihenfolge
der Entscheidungen ist so fundamental, dass sie meist total vergessen wird.
Selbst ökonomisch gebildete Pädagogen versäumen es, dies ihren Schülern klar zu
machen. Da sie selbst meist abhängig beschäftigt sind, denken sie nur daran,
ihrerseits beschäftigbaren Nachwuchs auszubilden. Anstellbarkeit (engl.
employability) ist das allgemeine Ziel ihrer Ausbildungstätigkeit, wenn sie
überhaupt über Ziele nachgedacht haben.
Anders ausgedrückt: Zuerst muss es Unternehmer geben, die genug
wirtschaftliches Potential erschließen, um das Risiko auf sich zu nehmen, andere
Leute zu beschäftigen. Arbeit gibt es nicht ohne Arbeitgeber. Sie fällt nicht
vom Himmel. Der Staat darf sich als zusätzlicher Arbeitgeber betätigen, aber
nicht als der einzige, der zählt. Ein Monopol ist von Übel, auch oder besonders
ein Staatsmonopol. Natürlich wird der Arbeitsmarkt vom Staat reguliert, d.h. er
versucht Fehlentwicklungen entgegen zu steuern. So ist die Regelung von Angebot
und Nachfrage über den Lohn eingeschränkt. Stichwort Mindestlohn. Der Staat
schützt Arbeitnehmer vor Risiken, z.B. durch Arbeitslosenhilfe.
Das klassische Arbeitnehmerpotential des männlichen Ernährers einer
Familie (inklusive der Unverheirateten) ist in Deutschland ausgeschöpft. Zusätzliches
Potential bieten heute die Familien der Doppelverdiener sowie die
allein erziehenden Väter und Mütter. Um sie zu gewinnen, müssen Frauen von der
traditionellen Aufgabe der Kindererziehung frei gemacht werden. Dafür brauchen wir
Kitas, die Häuser und das Personal. Bisher selbständige Tätigkeiten werden
immer mehr eliminiert, um sie in unselbständige Arbeit umzuwandeln. Die
Begründung dafür muss man sich klarmachen. Sonst hält man es zu leicht für eine
Art von Naturgesetz. Nur so viel: Sie lässt sich leichter rationalisieren und
umdisponieren.
Für die vielen Flüchtlinge, die gerade nach Deutschland strömen, ist es
extrem wichtig, dass sie es schaffen sich in unserem Arbeitsmarkt zurecht zu
finden. Dazu gehört es, unsere Wirtschaftsbedingungen besser zu verstehen. Möge
dieser Beitrag dabei helfen. Zum Schluss ein Bonbon aus dem Witzebuch.
Hattu Arbeit? fragt das Häschen Männer oder Frauen auf der Straße. Als nach
mehreren Neins jemand mit Ja antwortet, erwidert das Häschen: Arbeit ist prima!
Gerade kommentiert Robert Ottohall aus Tübingen:
AntwortenLöschenSehr lesenswert.
Für Leser, die das ‚Handbuch des deutschen Witzes‘ (etwa 260 Seiten) nicht kennen, sei die grammatikalische Struktur der Häschen-Witze mittels einer primitiven Syntax-Notation erläutert (Verbesserungen sind möglich):
AntwortenLöschenWitz ::= Frage Antwort1 Schleife
Frage ::= ‚Hattu‘ Gegenstand‘?‘
Antwort1 ::= NegAntwort l Fehler
Schleife ::= Frage Antwort
Antwort ::= NegAntwort l PosAntwort
NegAntwort ::= ‚Nein!‘ Schleife
PosAntwort ::= ‚Ja!‘ Gegenstand Eigenschaft
Fehler ::= ‚Ja! Witz kaputt!‘
Standardbeispiel: Gegenstand ::=‘Möhrchen‘, Eigenschaft ::= ‚sind gesund!‘