Samstag, 31. Oktober 2015

Halim und seine Freunde ̶ Integration zwischen Realität und Utopie

Halim ist ein arabischer Vorname mit der Bedeutung freundlich, höflich, geduldig. Er steht hier für den jungen Syrer, der seit etwa einem Jahr in Deutschland lebt. Er und etwa ein Dutzend seiner Altersgenossen haben gleichzeitig Damaskus verlassen, weil sie nicht in Assads Armee gegen ihre Landleute kämpfen wollten. Sie hatten sich Reiseagenten, so genannten Schleppern, anvertraut, die sie für teures Geld über die Türkei und die Balkanroute nach Deutschland brachten. Halim lebt in einer südhessischen Kleinstadt. Ausser Deutsch zu lernen, hat er noch kein Ziel, keine Aufgabe gefunden. Er ist darüber ziemlich unglücklich. Er stand mitten im Jura-Studium, als er seine Heimat verließ. Obwohl Halim und seine Freunde wohl kaum mit der Absicht nach Deutschland kamen sich hier ‚integrieren‘ zu lassen, wird es von ihnen dennoch erwartet.

Was soll Integration bezwecken?

Unter Integration versteht man in der Mathematik die Umkehrfunktion zur Differentiation. Im gesellschaftlichen Bereich  ̶  um den es hier geht  ̶  umfasst Integration gezielte Maßnahmen und Prozesse, die dazu dienen jemanden, der nicht in Deutschland aufgewachsen ist, mit unserer Kultur und Lebenswelt vertraut zu machen. Man unterscheidet Integration von Assimilation. Diese verlangt die vollständige Aufgabe der eigenen kulturellen Identität. In den meisten Überlegungen geht es darum, wie man Zugewanderte dahin bringt, dass sie wirtschaftlich auf eigenen Füßen stehen. Die direkte Einwanderung in die Ausgabenseite unserer Sozialsysteme sollte tunlichst vermieden werden.

Das Problem ist im Grunde dasselbe, das bei im Lande geborenen Kindern besteht, mit dem Unterschied, dass oft entscheidende Lebensjahre verloren gingen. Auch bei deutschen Schülern dienen die ersten 14-18 Lebensjahre vielfach nicht der beruflichen Qualifizierung, sondern der Allgemeinbildung. Gemeint sind damit Grundtechniken wie Lesen und Schreiben in Deutsch, Musik, Literatur, Arithmetik und eine Fremdsprache, meist Englisch. Was die vielzierte Einbettung in die abendländische Kultur und Wissenschaft betrifft, sind die Verhältnisse weniger klar. Das Gedankengut der Aufklärung ist auch bei uns erst partiell akzeptiert. In einem Gymnasium einer deutschen Universitätsstadt, das meine Enkeltochter besuchte, wurden zum Beispiel Schöpfungslehre und Darwinismus als verträglich dargestellt.

Ausländer, die als Kinder oder Jugendliche zu uns kommen, fehlt oft ein Teil dieser Allgemeinbildung. Man kann diesen Mangel nicht immer sofort erkennen oder  ̶  anders herum  ̶  er lässt sich verheimlichen. Der Migrationshintergrund ist nicht sichtbar; er rückt in den Hintergrund. Das geschieht umso mehr, je besser der Zuwanderer die deutsche Sprache beherrscht und je stärker er sich an unsere Berufswelt anpasst.

Vielfältigkeit der Berufswelt

Genau wie bei deutschen Kindern so besteht auch bei Einwandern das Problem, sich in der Komplexität unserer Berufswelt und des Arbeitsmarkts zurecht zu finden. Im Folgenden gebe ich einen sehr vereinfachten Überblick.

(a) Akademische Berufe

Sie verlangen eine Spezialausbildung, in der Regel ein Hochschulstudium. Sie sind oft staatlich reguliert. Die Fähigkeiten (engl. skills) müssen nachgewiesen werden, und zwar im Rahmen von Prüfungen oder Zulassungen. Hier eine Auswahl:
  • Arzt oder Zahnarzt: Sehr angesehen, langes Studium. Für Einwanderer sehr attraktiv. Geregeltes Anerkennungsverfahren. Viele in Deutschland praktizierende Ärzte sind Einwanderer. Mein Hausarzt ist in Rumänien geboren und hat dort studiert.
  • Ingenieur oder Informatiker: Sehr gute Beschäftigungsmöglichkeiten. Von Einwanderern begehrt und erfolgreich ausgeübt. Bekanntlich sind unter den Deutschen, die auswandern, sehr viele Ingenieure. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren es die Raketenbauer aus Peenemünde, die als Gruppe in Alabama ihre Arbeit fortführen durften. Bei Ingenieuren kann man leicht sehen, was sie können.
  • Biologen, Pharmazeuten, Physiker, Chemiker: Weniger gute Beschäftigungsmöglichkeiten, außer in Schule oder Vertrieb.
  • Pädagogen: Meist im Staatsdienst; setzt gute Deutschkenntnisse voraus.
  • Juristen: Tätigkeit nur mit deutscher Ausbildung möglich. Abhängigkeit von staatlicher Tradition. Mir ist kein deutscher Jurist bekannt, der im Ausland seinen Beruf ausüben konnte.
  • Betriebswirte und Unternehmensberater: Eine gewisse Vertrautheit mit der wirtschaftlicher Situation ist erforderlich. Die Grenze zur nicht-professionellen Tätigkeit ist hier fließend. Bezeichnend war der Berufswunsch eines jungen Russlanddeutschen, der noch nie einen deutschen Betrieb gesehen hatte. Er wollte trotzdem Unternehmensberater werden.

(b) Freie und handwerkliche Berufe

Diese Gruppe von Berufen ist äußerst vielfältig. Der Zugang ist nur wenig reglementiert. Ich gebe zwecks Illustration nur einige Beispiele an:
  • Darstellende und gestaltende Künstler, Sportler: Da oft die Sprachkenntnisse eine geringe Rolle spielen, sehr großes Betätigungsfeld für Ausländer
  • Händler mit Waren und Dienstleistungen: Außer im Falle spezieller Dienstleistungen (siehe unten) Vertrautheit mit deutschem Markt und deutschen Vorschriften erforderlich.
  • Landarbeiter, Gärtner, Elektriker, Installateure, Kfz-Mechaniker, Tierpfleger, Friseure, Fußpfleger, Alten- und Krankenpfleger: Für Einwanderer gut geeignet.
  • Köche, Kellner: Ausländer bringen oft Spezialkenntnisse zur Geltung, z. B. Chinesen und Italiener.
  • Söldner, Polizist, Sicherheitsdienst, Gefängniswärter: Während der Völkerwanderung übernahmen Germanen mit Vorliebe diese Art von Dienstleistungen innerhalb des römischen Reiches.
Im Vergleich zu vielen andern Ländern genießen in Deutschland Handwerker und industrielle Facharbeiter eine Sonderstellung. Sie werden nämlich durch eine spezielle Form der Ausbildung qualifiziert, die Lehre. Diese wird von einem Betrieb vermittelt, wird aber von einer ganzen Branche anerkannt. Die Maßstäbe für diese Ausbildung werden von überbetrieblichen Gremien festgelegt, den so genannten Industrie- und Handelskammern (IHK). Diese nehmen auch die Prüfungen ab. Handwerker erhalten als Abschluss in der Regel den Meistertitel. In vielen Branchen darf nur ein Meister einen Betrieb führen, z. B. Bäcker, Metzger, Schneider und Friseure.

Sonderformen und Zwielichtiges

Über einen großen Teil des Arbeitsmarktes, der heute vorwiegend von Ausländern bedient wird, wird nicht gerne gesprochen. Es ist ein grauer, ja vielfach ein dunkler Markt. Vor allem gelten hier nicht die gleichen strengen Qualifizierungsrichtlinien, wie sie für deutsche Facharbeiter gelten. So werden größere Bauprojekte in Deutschland bevorzugt von Ausländern durchgeführt. Die Zeit der beiden Weltkriege stellte lediglich eine Unterbrechung dar. Nach dem Wegfall des Eisernen Vorhangs sind wieder normale Verhältnisse eingetreten. Als Illustration seien zwei Projekte aus meiner engeren Heimat erwähnt. Eine Bahnstrecke in der Westeifel wurde 1911 von kroatischen Arbeitern gebaut. Den Neubau des Hauses einer Verwandten in der Westeifel errichtete 2015 eine Gruppe von Wanderarbeitern aus Kasachstan.

Viele Märkte sind fest in der Hand osteuropäischer Wanderarbeiter, so die Spargel- und Erdbeerernte sowie die Tierschlächterei. Die deutschen Exporte von Rindfleisch und Hühnerfleisch übertreffen inzwischen andere Industriezweige. Ebenso ist die private Altenpflege und die Prostitution ohne Wanderarbeiterinnen nicht mehr vorstellbar. In beiden Branchen gibt es gut organisierte Netze, die ganz Osteuropa umfassen.

Gewollte Nicht-Integration

Es ist falsch anzunehmen, dass alle Flüchtlinge, die jetzt nach Deutschland kommen, auf Dauer hier bleiben wollen. Sie hatten (und haben immer noch) berufliche Aussichten in ihrem Heimatlande, die Deutschland ihnen nicht bieten kann. Für diesen Personenkreis muss ein Modus gefunden werden, der es erlaubt die Wartezeit zu überbrücken. Bei jungen Menschen ist dies, je nach Vorkenntnissen, der Beginn einer Lehre oder die Aufnahme bzw. Fortführung eines Studiums. Ein Bachelor-Studium verlangt Deutschkenntnisse. Für ein Masterstudium ist es möglich eine Hochschule zu finden, die eine genügende Zahl von Kursen in Englisch anbietet.

Wer das für eine Lehre oder ein Studium günstige Alter überschritten hat, kann eine Anstellung suchen, für die weder Lehre noch Studium erforderlich sind. Solche gibt es reichlich, dank der wirtschaftlichen Konjunktur, in der sich Deutschland derzeit befindet. Welche Qualifikationen hierbei hilfreich sind, hängt von der Tätigkeit ab. Für die Tätigkeiten in diesem Bereich gibt es kein Schema. Man muss selbst etwas kreativ sein. Ein Beispiel sind Kurierdienste, wo eine Führerschein, ein Navigationsgerät und minimale Sprachkenntnisse ausreichen. Wer nicht auf zusätzliche Einkünfte angewiesen ist, wer also über eigene Geldquellen verfügt, der kann sich im sozialen und ehrenamtlichen Bereich engagieren. Ansprechpartner wären Caritas, Sozialfürsorge, Katastrophenschutz, Volkshochschule und andere. Nur in Sonderfällen wäre eine Art Pensionat mit Golf- und Tennisplatz angemessen. Entscheidend ist, dass man sich betätigt.

Politische Dimensionen

Die Einwanderung hat auch immer eine politische Dimension. Der Modus, in dem zur Zeit die Einwanderung erfolgt, ist dramatisch. Die amtierende Bundesregierung fährt eine Politik, mit der sie in Konflikt mit Ländern und Kommunen gerät. Diese verlangen eine Beschränkung der Einwandererzahlen pro Jahr. Die Bundesregierung unter Angela Merkel ist der Meinung, dass sie das nicht kann. Der Koalitionspartner CSU, der im Grunde eine Landesregierung darstellt,  droht damit die Koalition zu verlassen. Das könnte zur Auflösung der jetzigen Regierung führen. Auch im Volk knirscht es. Mein politisch sehr sensibler Blog-Partner Hartmut Wedekind macht seiner Sorge über die Situation Luft. Diese Woche schrieb er:

Was nun, Frau Merkel? Die Frau mit  „Wir schaffen das“. … Ich weiß nur: Rücktritt, und zwar sofort. Dann sehen ihre „Lieblingsflüchtlinge auf den Selfies“ wenigstens, was hier los ist. Schon die Österreicher beziehen sich beim Durchwinken auf Frau Merkel, die Katastrophenfrau.

Angela Merkel glaubt nicht daran, dass sich der Flüchtlingsstrom durch gewaltsame Zurückweisung an den Grenzen reduzieren lässt. Sie hofft auf Unterstützung durch andere Länder, insbesondere durch solche, die zur EU gehören. Sie setzt aber auch auf die Türkei. Im Moment reden sogar Russen und Iraner, Amerikaner und Saudis in Wien über die Situation in Syrien. Nur nehmen Baschir al Assad und die syrische Opposition (noch) nicht an den Gesprächen teil.

Rat an Halim und seine Freunde

Leider müssen Sie sich darauf einstellen, dass sich die Situation in Syrien nicht in den nächsten Monaten verbessert. Der Bürgerkrieg kann leicht noch mehrere Jahre andauern. Sie sollten Ihre Zeit in Deutschland sinnvoll nutzen. Nichts wirkt deprimierender, als keine Ziele zu haben. Ich hoffe, dass dieser Beitrag Ihnen einige Anregungen gab.

NB: Dieser Beitrag erschien auch in Englisch in meinem Blog Al's Postbag. Die dort erscheinenden Kommentare werden nicht übersetzt oder beantwortet.

4 Kommentare:

  1. Soeben schrieb Hartmut Wedekind aus Darmstadt:

    Der Beitrag bekommt das Prädikat "sehr gut - ". Das Minus, weil auf die Probleme einer drohenden Parallelgesellschaft mit all ihren Tücken und Folgen nicht eingegangen wird. Parallelgesellschaften entstehen, wenn einwanderungsunfähige Menschen einwandern. Unsere Polen in meinem Bochum von 1935 waren einwanderungs-fähig und streng katholisch. Der Kohlenpott ohne Polen war undenkbar. Ich will damit sagen: Religion hilft oder sie spaltet.

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  2. In diesem Beitrag konzentrierte ich mich auf die wirtschaftliche Seite der Integration. Die Hauptfrage war, wie kann verhindert werden, dass Einwanderer zur Belastung für unsere Sozialsysteme werden. Die Frage der gesellschaftlichen Integration geht weit darüber hinaus. Sie ist sogar noch schwieriger und komplexer. Hier nur ein Sammlung von Gedanken:

    • Das Problem der Parallelgesellschaften tritt meist auf, wenn gewisse Anhäufungen einzelner Landsmannschaften (oder Ethnien) stattfindet. So gibt es heute in vielen Bergbau- und Autostandorten türkische Stadtteile. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogon kommt dorthin, um Wahlkampf zu führen und sagt dabei, Assimilation sei ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
    • Sehr viel leistet der Sport. Es gibt zwar portugiesische und türkische Fußballclubs in großen Städten. Aber noch keiner ist in die Bundesliga aufgestiegen. In der Bundesliga selbst wimmelt es nur so von im Ausland geborenen Spielern. Namen wie Özil, Khedira, Podolski, Klose und Levandowski kennt heute jedes Kind. Zur Zeit meiner Eltern waren es Szepan und Kuzorra.
    • Gesang-, Musik-, Schützenvereine und Kegelklubs verbinde ich mit Kleinstädten. Wo Ausländer sich bemühen Anschluss zu finden, sind das ideale Brücken. Ein Trachtenverein sondert eher ab, und zwar auf beiden Seiten.
    • Kirchen wirken dann integrierend, wenn die Einwanderer Glaubensbrüder sind. Kroaten und Portugiesen haben es bei uns leichter Anschluss zu finden als Albaner, Bosnier und Kosovaren.

    Wie überall im Leben, so heißt es auch hier: Differenzieren ist wichtiger als Abstrahieren. Nur in die Köpfe mancher Schreibtisch-Gelehrter passt das überhaupt nicht. Wir gut, dass nicht alle Politiker auf diese hören.

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    1. Auch im Mathematik-Unterricht wird Differenzieren vor dem Integrieren behandelt. Mein Studienfreund mit humanistischem Abitur hatte von Integration in der Schulzeit nichts gehört.

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  3. Gestern Abend schrieb Hartmut Wedekind aus Darmstadt:

    Auflösung nach dem heiligen Thomas

    Wenn jetzt schon Prozessmitarbeiter gegen ihren Chef Weise wegen Unrechtsstaatlichkeit aufbegehren, dann ist der Punkt der Totalauflösung am Horizont deutlich sichtbar. Dazu braucht man keine prophetischen Gaben, die die da drüben für sich in Anspruch nehmen. Ich war 1945 10 Jahre alt und kenne Auflösungen am eigenen Leibe.

    http://www.aphorismen.de/zitat/23491

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