Dienstag, 23. Februar 2016

Zehn Grundthesen zur erfolgreichen Software-Entwicklung

Jahrzehnte meines Berufslebens war ich als Entwickler von Software-Produkten tätig, einen großen Teil davon als Projekt- oder Bereichsleiter. Ich habe viel über meine Erfahrungen veröffentlicht, sowohl in Fachartikeln wie auch in Büchern. Ich gab Kurse an Hochschulen und in Unternehmen. Immer wieder werde ich daran erinnert, dass es sinnvoll sein könnte, meine Erfahrungen und Überlegungen in der Form weniger Grundthesen zusammenzufassen. Hier ein neuer Versuch. Ich setze einige Fachkenntnisse voraus. Dass manche Formulierungen überspitzt klingen, ist Absicht. Auch kürze ich brutal. Ich möchte Leserinnen und Leser persönlich ansprechen, duze sie jedoch nicht.

1. Denken Sie zu allererst und immer wieder an Nutzerinnen und Nutzer

Software-Produkte oder Software-Dienste wollen genutzt werden. Wenn Sie sich keine Nutzer vorstellen können, vergessen Sie das Projekt so schnell wie möglich. Wenn Sie selbst ein typischer Nutzer sind, hat dies große Vorteile. Erfahrene Entwickler wundern sich oft, wenn sie sehen, wie Nutzer sich anstellen. Ein Kollege, der dies nicht länger aushalten wollte, änderte die Benutzerschnittstelle über Nacht. Alle Versuche Nutzerfähigkeiten oder Nutzerverhalten individuell oder zeitlich zu analysieren und zu differenzieren sind unbeliebt. Nutzer lernen und passen sich an, soweit die Anwendung dies wert ist. Das ist ihnen weitaus lieber, als dass das System individuellem Verhalten nachspürt.

2. Gute Methoden und Werkzeuge sind wichtig

Nicht alle Methoden sind für alle Projekte gleich gut geeignet. Vergleichbare Methoden über mehrere Projekte hinweg zu verwenden, erlaubt eine schrittweise Verbesserung ihrer Beherrschung. Werkzeuge dienen der Unterstützung von Methoden. Das Vorhandensein oder Nicht-Vorhandensein von guten Werkzeugen begünstigt bzw. benachteiligt gewisse Methoden. Ja, es beeinflusst, welche Probleme man gerne oder weniger gerne angeht. Es gilt der Spruch: Wer als Werkzeug nur einen Hammer hat, sieht in jedem Problem einen NagelDie Informatik neigt dazu, Methoden-Gurus anzuhimmeln, auch an Hochschulen. Typische Beispiele sind formale und agile Methoden.

3. Produktivität der Entwicklung ist uninteressant

Wer Entwickler an ihrer Produktivität misst, verrät damit nur Unkenntnis oder Missachtung  dieser Tätigkeit. Entscheidend ist der Wert des Arbeitsergebnisses. Ein sinnvolles Maß ist die Kapitalrendite (engl. return on investment, Abk. ROI). Oft ist auch die Entwicklungszeit wichtig (engl. time to market). Bei der Software-Engineering-Tagung 1969 in Rom hatte Tom Simpson (damals IBM Wheaton, MD) einen Beitrag mit dem Titel "Masterpiece Engineering" eingereicht. Er passte den Veranstaltern nicht ins Konzept. Er wurde daher nur vor Ort verteilt und nicht veröffentlicht. Simpson hatte darin die damals gerade aufflammende Debatte über Entwickler-Produktivität persifliert. Sie käme ihm vor, wie wenn man Michelangelos Leistung mit Meißelschlägen oder Pinselstrichen pro Tag messen würde.

4. Preis- und Geschäftsmodelle gibt es unzählige

Kaufleute sind nicht weniger kreativ als Ingenieure und Informatiker. Ihre Domäne ist nicht gute Technik, sondern gute Preis- und Geschäftsmodelle. Ohne sie taucht die beste Technik nichts. Die oben erwähnte Kapitalrendite (ROI) interessiert nicht immer. Jeff Bezos von Amazon z. B. arbeitet seit Jahren primär an der Vergrößerung seines Marktanteils. Um Gewinne zu machen, lässt er sich viel Zeit. Gewinn ist Ertrag minus Kosten. Es ist ein großer Unterschied, über welchen Zeitraum man rechnet, etwa Quartale, Jahre oder Jahrzehnte. Was gilt als Kosten? Was zählt als Ertrag? Da gibt es viel Spielraum. Bei Software geht der Grenzwert der Kosten gegen Null, d.h. die n+1te Kopie kann umsonst sein, wenn die ersten n Kopien bereits die fixen Kosten hereingespielt haben. Erträge können durch den Verkauf des Produkts selbst erzielt werden, oder auf viele andere Arten.  In der Frühzeit unserer Branche stand der durch Software ermöglichte Hardware-Umsatz im Vordergrund, heute ist es meist der Werbeumsatz. In den USA konnte in den letzten Jahrzehnten auch für nicht-technische Erfindungen (engl. business methods) Patentschutz beantragt werden. Zurzeit wird wieder stärker die Technizität einer Erfindung beachtet.

5. Lebendigkeit des Produkts oder Dienstes ist essentiell

Mit dem Wort Lebendigkeit beschreibe ich zwei verschiedene Eigenschaften eines Software-Produkts oder Software-Dienstes. Der Nutzer empfindet ein Produkt als lahm und störend, sofern es nicht innerhalb von etwa 100 Millisekunden auf seine Eingabe reagiert. Genau genommen, ist es eine Verteilungskurve mit einem Schwanz. Ausreißer müssen aber erklärbar sein. Eine zweite Form von Lebendigkeit drückt sich darin aus, dass ein Produkt sich in der Interaktion mit der Nutzerschaft ändert. Es reagiert im Verlaufe der Nutzungszeit auf Änderungen im Anforderungsprofil.

6. Sie können es lernen Qualitäts-Software  zu entwickeln 

Über schlechte Software zu schimpfen ist populär. Pauschale Aussagen sollte niemand ernst nehmen. Gute Software zu entwickeln ist möglich, aber schwierig. Ernsthafte Entwickler und Entwickler-Teams lassen sich nicht von Gurus verführen. Sie lernen am meisten aus den eigenen Fehlern. Das geht nicht auf einen Schlag, sondern erfordert Geduld. Es ist ein Prozess, der Jahre in Anspruch nimmt. Fehlerfreiheit ist ein wichtiges, aber nicht das einzige Qualitätskriterium von Software. Ohne marktrelevante Funktionalität bleibt Software ungenutzt.

7. Fehler gibt’s ganz unterschiedliche und alle wollen gesucht sein

Jeder Fehler ist eine Abweichung vom Soll. Nur wer das Soll kennt, kann Fehler identifizieren. Wer Fehler behandeln oder eliminieren will, muss differenzieren. Ein funktionaler Fehler ist etwas anderes als ein Sicherheits- oder Bedienungsfehler. Sie zeigen sich nicht alle gleichzeitig oder gleich leicht. Nicht alle Fehler melden sich von selbst. Man muss nach ihnen suchen. Die dafür geeigneten Methoden sind äußerst unterschiedlich. Es gibt kein universelles Hilfsmittel. Das gilt sowohl für die Vermeidung wie für die Aufdeckung von Fehlern, egal welcher Software-Theorie man anhängt. Entwickler sind dann schlecht, wenn es darum geht, eigene Fehler zu finden. Ein unbefangener Kollege ist meist erfolgreicher.

8. Minimiere die Lebensdauer von Fehlern

Ein Entwicklungsprojekt umfasst in der Regel unterschiedliche Tätigkeiten, so z.B. Anforderungsanalyse, Entwurf, Implementierung, Inspektion, Integration, Test, Installation, Verteilung, Betrieb, Wartung und Außerbetriebnahme. Die einen sind konstruktiv, andere sind analytisch. Bei jeder Tätigkeit können Fehler entstehen. Diejenigen, die in frühen Phasen eines Projekts entstehen, können am längsten wirken, es sei denn, sie werden früh eliminiert. Ein Fehler wird umso teurer, je länger er bestehen bleibt. Keine mir bekannte Methode zur Aufdeckung von Fehlern ist allumfassend. Durch Testen werden andere Fehler gefunden als durch Inspektionen. Korrektheitsbeweise sind nur so gut wie die benutzten Zusicherungen.

9. Machen Sie jeden gefundenen Fehlertyp zum letzten seiner Art

Alle Raumfahrtprojekte der NASA verdankten ihren Erfolg einer klugen Software-Strategie. Man korrigierte nicht nur die gefundenen Fehler, sondern suchte anschließend nach ähnlichen Fehlern sowie nach den gemeinsamen Ursachen. Will man nämlich bei zukünftigen Projekten die Wiederholung eines Fehlertyps vermeiden, so muss man denjenigen Teil des Prozesses verbessern, der für die Entstehung dieses Fehlers verantwortlich ist. Diese Vorgehensweise ist zwar sofort einleuchtend  ̶  nur Dummköpfe machen dieselben Fehler mehrmals  ̶  verlangt aber eine außerordentliche Disziplin. Dieser Ansatz funktioniert nicht, wenn man als Software-Entwickler nur kurzfristig auf einem Arbeitsgebiet tätig ist und nach Projektabschluss sich sofort in ein völlig fremdes Anwendungsgebiet stürzt. In diesem Falle müssen andere Methoden angewandt werden, etwa die iterative Entwicklung von Prototypen. Das sind funktional eingeschränkte Vorabversionen. Auf vollkommen fehlerfreie Programme zu hoffen, ist nicht viel mehr als eine Utopie. Erreichbar ist dieses Ziel, wenn die Aufgabenstellung entweder allen Beteiligten von Vornherein bekannt ist, oder wenn die Programme nicht allzu groß sind. Die Grenze liegt etwa bei 100.000 Programmzeilen.

10. Fördere Forschung, die Entwickler inspiriert

Jeder Entwickler träumt davon, einige Probleme, die sich ihm in den Weg stellten, gründlich zu analysieren und eine optimale Lösung zu finden. Das ist aber nicht die Forschung, die bei uns größtenteils mit öffentlichen Mitteln finanziert, vorwiegend an Hochschulen betrieben wird. Wem das dabei generierte Wissen nützt, entgeht mir zu einem großen Teil. Nicht immer inspiriert sie Entwickler oder hilft ihnen weiter. Industrielle Forschung etwa bei IBM, Microsoft und SAP setzte erst ein, nachdem diese Firmen bereits Erfolg im Markt hatten. Wer Forschung mit Lernen gleichsetzt, sollte beachten, dass Ingenieure und Informatiker am meisten aus erfolgreichen Produkten lernen können. Dabei zählen eigene, aber auch die der Mitbewerber. Die üblichen Fachzeitschriften zu lesen, bringt Informatikern wenig.

NB.: Eine englische Version dieses Beitrags finden sie hier.

Mittwoch, 17. Februar 2016

Vier Jahre an der TU München als mein beruflicher Ausklang

Schon vor meinem Aufenthalt in Rostock war ich von Münchner Bekannten gefragt worden, ob ich nicht Lust hätte, nach meinem Eintritt in den vorgezogenen Ruhestand für einige Jahre als Professor an die TU München (TUM) zu kommen. Während ich meinen westdeutschen Horizont um Erfahrungen in den Neuen Bundesländern erweiterte, liefen die Vorbereitungen. Alles, was ich selbst tun konnte, bestand darin im Februar 1993 mit einem Nachtzug von Rostock nach München zu fahren, um gegen 11 Uhr einen Probevortrag zu halten. Das Thema habe ich vergessen. Ich trat meinen Dienst im Mai 1993 an und schied Ende April 1997 aus.


Abb. 1: Emblem der TUM

Seriöses Angebot

Über das Angebot, das mir gemacht wurde, weiter zu verhandeln, sah ich wenig Grund. Es war ein Dreijahresvertrag mit der Option, ihn um ein Jahr zu verlängern. Die Vergütung entsprach dem Gehalt eines C4-Professors. Ein Beamter des Kultusministeriums brachte mir den Vertrag ins Institut. Derselbe Beamte besuchte mich auch später noch einige Male, und erkundigte sich, ob ich mit Allem zufrieden sei. Obwohl ich schon Honorarprofessor der Universität Stuttgart war, verlieh der bayrische Staat mir nochmals den Titel Professor, und das auf Lebenszeit. Um den Stuttgarter Titel nicht zu verlieren, musste ich der dortigen Rektorin allerdings einen Brief schreiben. Sinngemäß stand darin: Ich verlasse Stuttgart nicht, weil ich meine hiesigen Verpflichtungen nicht erfüllen kann oder möchte, sondern weil ich gebeten worden sei, der TU München aufgrund meiner Erfahrungen vorübergehend zu helfen. Nach Ablauf der vorgesehenen 3-4 Jahre werde ich meine Stuttgarter Vorlesung wieder anbieten, was ich dann auch tat.



Abb. 2; Glockenturm der TUM

Die beiden Kollegen, die vom Institut für Informatik als meine Gesprächspartner bestimmt waren, sagten mir, dass ich den Lehrstuhl für Computergrafik erhalten würde. Es war dies einer von 12 planmäßigen Lehrstühlen, der aber bisher nicht besetzt werden konnte. Außer mit dem Lehrstuhlinhaber war er noch mit vier Planstellen ausstaffiert. Die Büros lagen im Stammgebäude der TUM, der Arcisstraße 21. Bezüglich der Besetzung der Sekretariatsstelle und einer Wissenschaftlerstelle würde man mir helfen. Wie sich herausstellte, waren alle diesbezüglichen Zusagen am Tage meines Dienstantritts erfüllt, und zwar zu meiner vollsten Zufriedenheit.

Standesgemäßer und kollegialer Empfang

Meine Position war von den über 100 Mitarbeitern des Instituts dadurch abgehoben, dass ich Lehrstuhlinhaber war. Im Rechenzentrum, in der Bibliothek, überall kam man mir respektvoll entgegen. Ich durfte meinem Lehrstuhl einen neuen Namen geben und wählte ‚Software-Ingenieurwesen‘. Für mich war dies eine Analogie zum Bauingenieurwesen (engl. civil engineering). Kein Münchner, sondern ein externer Besucher wunderte sich über diese Bezeichnung und fragte mich, warum ich nicht ‚Software Engineering‘ gewählt habe. Das sei doch moderner. Für mein Büro durfte ich in einem Münchner Möbelhaus eine vollständige Ausstattung (mit Teppich und Wandbildern) aussuchen.



Abb. 3: Institutseingang Arcisstr. 21

Für eine meiner freien Stellen hatte ich in Rostock einen Mitarbeiter angeworben, der gerade eine Diplomarbeit in Computergrafik abgeliefert hatte. Das Land Bayern wollte ihn jedoch nicht anstellen, bevor er seine Unbedenklichkeit bezüglich eventueller Stasi-Vergangenheit nachweisen konnte. Das hätte seine Anstellung und Übersiedlung nach München leicht 2-3 Monate verzögert. Kein Problem, sagten die Münchner Kollegen. Wir tauschen und nehmen den Ossi solange auf eine von Siemens finanzierte Stelle. Das geschah dann auch, ohne dass die Betroffenen dies überhaupt merkten. Ein Grund, warum derartige Umdisponierungen problemlos abliefen, war die Tatsache, dass das gesamte Budget der Fakultät Informatik einem einzigen Institut, also einer Kostenstelle, zugeordnet war. An anderen Universitäten sind die Lehrstühle für Informatik oft auf verschiedene Institute aufgeteilt, damit jedes über seine eigenen Mittel verfügen kann. Auch später erwies sich diese Flexibilität immer wieder als Vorteil. Sie setzte aber eine gute und vertrauensvolle  Kooperation voraus.

Vorlesungen, Übungen und Studenten

Die Hauptaufgabe eines Professors besteht bekanntlich darin, Vorlesungen und Übungen anzubieten, deren erfolgreicher Besuch von Studierenden des Fachgebiets als Studienleistung anerkannt wird. Man verschonte mich mit dem Abhalten von Einführungsvorlesungen für Informatiker. Ich durfte mich auf Veranstaltungen für Fortgeschrittene beschränken, musste jedoch eine Mindestzahl von Semesterwochenstunden erreichen. Ich stellte Kopien aller benutzten Folien am Semesteranfang zur Verfügung. Je nach Lust und Laune wich ich auch davon ab und erzählte Dinge, von denen ich wusste, dass sie Studenten interessieren. Etwa, wie man sich bewirbt, wie in der Industrie die Leistungsbeurteilung erfolgt, aufgrund der die Gehaltssteigerungen ermittelt werden, oder wie Projekte organisiert werden. Im Sommersemester lud ich alle meine Hörer jeweils einmal zu einem Treffen in einen Münchner Biergarten ein. Es kamen nie über 30.



Abb. 4: Vortragender im Hörsaal
(anlässlich einer Fachtagung)

Da ich selbst einmal Vermessungskunde studiert hatte, traf es mich, als die Münchner Geodäten die Fakultät Informatik darum baten, eine Einführungsvorlesung in Informatik für Geodäten zu halten. Mir fiel dabei auf, dass dieser Studiengang, anders als vor 50 Jahren, heute einen hohen Anteil weiblicher Studierende aufweist. Durch so genannte Drittmittelprojekte (siehe unten) wuchs die Zahl der Mitarbeiter im Laufe der Zeit auf sieben. Zwei bis drei  meiner wissenschaftlichen Mitarbeiter organsierten die Übungen. Vor allem betreuten sie die Diplomarbeiten, die von Studierenden am Lehrstuhl angefertigt wurden. Es waren etwa ein Dutzend. An einige der Diplomanden und ihre Arbeiten erinnere ich mich heute noch sehr gut.

Eine  besondere Veranstaltungsform waren die so genannten Seminare. Sie wurden meist von mehreren Lehrstühlen zusammen angeboten. So boten mein Kollege Manfred Broy und ich ein gemeinsames Seminar zum Thema Software-Entwicklung und –Bewertung an, bei dem von Studierenden zu damals aktuellen Themen vorgetragen wurde.

Prüfungen und Promotionen

Eine Besonderheit der Münchner Prüfungsordnung war, dass im Hauptdiplom für das Fach Informatik nur eine einzige mündliche Prüfung abzulegen war. Sie umfasste jedoch Stoff von vier oder fünf Vorlesungen. Die halbstündigen Prüfungen wurden auf alle Ordinarien, d.h. Lehrstuhlinhaber, aufgeteilt. Jeder musste also Stoff prüfen, den er nicht selbst gelesen hatte. Man erhielt dafür die Skripte der Kollegen. Ich lernte auf diese Weise alles kennen, was jeder Münchner Informatiker können und wissen musste, etwa bezüglich Datenbanken, Netzwerken und Künstlicher Intelligenz.

Ein Prüfling, mit dem ich vorher nie gesprochen hatte, kam einige Stunden nach der Prüfung zu mir ins Büro. Er wollte wissen, warum er statt einer glatten Eins (also Sehr gut) nur eine Eins Minus bekommen habe. Er hätte doch alles gewusst, was ich gefragt hatte. Meine Antwort war: Ich hätte am selben Tag mehrere Leute geprüft, die alles gewusst hätten. Einige hätten erheblich päziser, flüssiger und ausführlicher geantwortet als er. Ich glaube, ich konnte ihn nicht zufrieden stellen. Es hat sich übrigens nie jemand bei mir beschwert, den ich hatte durchfallen lassen.



Abb. 5: Nach bestandener Prüfung

Drei meiner Mitarbeiter konnten ihre Dissertationen erfolgreich abschließen. Die Arbeiten wurden von einen Ko-Referenten, d.h. Zweitberichter, und mir bewertet. Außerdem fand eine mündliche Prüfung statt. In mindestens ebenso viel Fällen übernahm ich das Ko-Referat einer Arbeit an einen anderen Lehrstuhl. Auch bei Prüfungen in anderen Fakultäten fungierte ich schon mal als Zweitberichter, etwa in BWL oder Elektrotechnik. Die drei Dissertationen meines Lehrstuhls waren:
  • Klaus Bergner: Spezifikation großer Objektgeflechte mit Komponentendiagrammen, 1996 (Bergner ist heute Geschäftsführer von 4Soft GmbH in München).
  • Jörn Trilk: Skalierbare Visualisierung objektorientierter Software, 1998  (Trilk ist heute Abteilungsleiter bei der BMW AG in München).
  • Ricarda Weber: Accounting and Payment Concepts for Fee-Based Scientific Digital Libraries, 2000 (Weber ist heute wissenschaftliche Mitarbeiterin der Siemens AG in München).
Von den Dissertationen, die ich als Zweitgutachter bewertete, fällt mir eine ein, in der Navier-Stokes-Differentialgleichungen numerisch behandelt wurden (Hauptgutachter Arndt Bode). In einer andern Arbeit wurden historische Dokumente aus der Sammlung des Adelshauses Oettingen-Wallerstein digitalisiert (Hauptberichter Rudolf Bayer). An der Vielfalt von Themen und Verfahren bestand wahrlich kein Mangel.



Abb. 6: Prüfer nach der Arbeit

Kontakte mit Kollegen, Veranstaltungen der Uni

Alle 12 Professoren des Instituts trafen sich während der Vorlesungszeit jeweils Freitagsnachmittags zum Tee oder Kaffee. Der Raum wechselte. Besprochen wurden alle Probleme, welche die Fakultät als Ganzes betrafen. Mal ging es um eine geplante Neuberufung, mal um die Ausstattung eines Hörsaals mit Kameras und Projektionsgerät. Auch größere Drittelmittel-Anträge wurden vorgestellt oder der Stand des Institutsneubaus in Garching besprochen. Wenn besonders wichtige Themen behandelt wurden, kamen sogar emeritierte Kollegen angereist. Als solche habe ich die Reduzierung des Mathematik-Anteils im Studienplan in Erinnerung, aber auch den geplanten Umzug der Institutsbibliothek. Für offizielle Beschlussfassungen gab es einen gewählten Fakultätsrat und andere Gremien wie den Senat der Universität. Deren Sitzungen wurden beim Professorentee lediglich vorbereitet, allerdings gründlich und gewissenhaft.



Abb. 7: Fassanstich durch Präsidenten der TUM

Auch die Kontakte privater Art waren vielfältig. Auf sie will ich nicht näher eingehen. Nur eine typische Erfahrung eines Ortsfremden soll wiedergegeben werden. Wenn man versucht per U-Bahn vom Isartor nach Grünwald zu fahren, gelangt man zunächst nach Hollriegelsreut. Das Taxi, das einen von dort über das Isartal nach Grünwald bringt, muss aus der Innenstadt kommen. Also hätte man auch gleich per Taxi fahren können.

Außer auf eine eigene Klinik (das Klinikum rechts der Isar) ist die TU München sehr stolz auf ihre Fakultät für Brauwesen in Weihenstephan. An vier von fünf Lehrstühlen gibt es Versuchsbrauereien. Kooperationen mit dieser Fakultät stehen hoch im Kurs. Beim Sommerfest der TUM wurden alle neuberufenen Professoren eingeladen, sich für den Bierausschank zur Verfügung zu stellen. Natürlich gab es eigenes Bier. Der Präsident der Universität schlug das erste Fass an. Erwähnen möchte ich noch das zwei Mal pro Semester stattfindende Abendessen in einem Gästehaus der Firma Siemens auf dem Gelände des Nymphenburger Schlosses. Heinz Gumin war der Gastgeber in seiner Funktion als Vorsitzenden der Carl Friedrich von Siemens Stiftung. Alle Münchner Professoren der Fachbereiche Elektrotechnik und Informatik waren eingeladen. Nach dem Essen gab es einen Gastvortrag. Die Themen betrafen meist Grenzgebiete zwischen der Technik einerseits und Kunst, Kultur, Geistes- und Lebenswissenschaften andererseits.

Mittelbau und Landespolitik

An einigen Universitäten, die ich kennengelernt hatte, stand der akademische Mittelbau (d.h. die nicht als Ordinarien eingestuften wissenschaftlichen Mitarbeiter der Lehrstühle) etwas in Opposition zur Professorenschaft. An der TUM schien dies weniger der Fall zu sein, zumindest fiel es mir nicht auf. Im Gegenteil: Sie schienen sich in Bezug auf Effektivität und Loyalität gegenseitig zu überbieten. Manche hatten 20 und mehr Dienstjahre auf dem Buckel. Einige waren promoviert, andere nicht. Besonders gut erinnere ich mich an ein Faktotum, eine bayrische Frohnatur, die sich bei Problemen jeder Art als ‚Kümmerer vom Dienst‘ bewährte. Er soll hier anonym bleiben, weil er damit stellvertretend für den Münchner Mittelbau stehen kann. Sobald der Mitarbeiter einem versprach: ‚Ich werde darüber nachdenken‘ konnte man das Problem als gelöst ansehen. Es spielte keine Rolle, ob es sich um eine technische oder eine administrative Angelegenheit handelte. Bei ihm machte sich die Nähe zu Österreich, ja zu Südeuropa, bemerkbar. Anders ausgedrückt: Er war das positive Gegenbeispiel eines preußischen Beamten. Wenn immer Vorschriften im Wege standen, kam bei ihm ein besonders hohes Maß an Kreativität zum Vorschein. Bitte denken Sie ja nicht, dass etwas Illegales geschah.



Abb. 8: Ausflug an den Starnberger See

Dass die TUM ein Aushängeschild bayrischer Förderpolitik war, ließ sich nicht verheimlichen. So erschienen immer wieder Landespolitiker, um sich zu vergewissern, dass die Steuergelder gut angelegt seien. In allerbester Erinnerung habe ich ein persönliches Gespräch mit Alois Glück, dem damaligen Fraktionsvorsitzenden der CSU im bayrischen Landtag. Wenn alle Politiker so wären  ̶   so dachte ich mir damals  ̶  gäbe es keine Politikverdrossenheit. Auf der Kehrseite stand eine Feststellung, die wohl nur ich als Nicht-Bayer machte. Bei allen geografischen Darstellungen, die in Projektanträgen an die Landesregierung vorkamen, endete die Welt in Aschaffenburg.

Projekt MeDoc

Zum Schluss sei das Drittmittel-Projekt erwähnt, das meine Münchner Zeit ganz erheblich beeinflusste. Als Mitglied im Fachbeirats des Fachinformationszentrums (FIZ) Karlsruhe waren mir die Unterschiede im Informationsverhalten der einzelnen Fachgebiete bekannt. Während Biologen, Chemiker, Mathematiker und Physiker eifrige Nutzer von Nachweis-Datenbanken waren, spielten sie für Informatiker so gut wie keine Rolle. Die Computing Surveys der Association for Computing Machinery (ACM) erfüllten diese Aufgabe zufriedenstellend. Ähnlich wie bei anderen Ingenieuren steckt das für Informatik-Praktiker wichtige Wissen vorwiegend in erfolgreichen Produkten. Publikationen in Fachzeitschriften sind eh nur ein Hobby, außer für einige Hundert angehende Informatik-Professoren.

Von den an Hochschulen tätigen Informatikern wurde ein besserer Nachweis von ‚grauer‘ Literatur gewünscht (d.h. von Instituts- und Tagungsberichten) und die elektronische Beschaffung der Volltexte. In enger Abstimmung mit der Gesellschaft für Informatik (GI) initiierte ich das Projekt und übernahm seine Leitung. Unterstützt wurde ich dabei von je einem Vertreter des FIZ Karlsruhe (Andreas Barth) und des Springer-Verlags Heidelberg (Arnoud de Kemp), sowie von einem hauptamtlichen Projektleiter (Michael Breu von FAST e.V. in München). Von den Hochschullehrern engagierten sich Hans-Jürgen Appelrath (Oldenburg), Dieter Fellner (damals in Bonn), Norbert Fuhr (Dortmund), Hermann Helbig (Hagen), Thomas Ottmann (Freiburg) und Heinz Schweppe (Berlin) überdurchschnittlich stark. Präsidium und Vorstand der GI verfolgten das Projekt mit Interesse. Ohne die Hilfe der jeweiligen Präsidenten (Wolfgang Glatthaar und Wolfried Stucky) hätten manche Klippen nicht umschifft werden können. Ohne die Verantwortlichen im Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) wäre es gar nicht nicht erst geflogen. Wir wären weder hochgekommen, noch gelandet.



Abb. 9: Einige Köpfe des MeDoc-Teams

Das Akronym MeDoc steht für ‚Multimedia electronic Documents‘. Es war ein Leitprojekt des BMBF und hieß offiziell Entwicklung und Erprobung offener volltextbasierter Informationsdienste in der Informatik. Seine erste Phase lief von September 1995 bis August 1997 und war mit 7,9 Mio. DM subventioniert. Das Projekt hatte Auswirkungen weit über München hinaus. Rechnet man alle Personen zusammen, die als Entwickler, Systembetreuer, Anbieter und Nutzer von Inhalten, usw. mit dem Projekt in Berührung kamen, kommt man auf über 4000 Leute. Die Ziele, der Verlauf und die Ergebnisse des Projekts sind in einer großen Anzahl von Veröffentlichungen ausführlich dokumentiert [1..3]. Es gibt mehrere Bücher, Dissertationen, Fachartikel, Tagungsbeiträge und Ausstellungsobjekte. Deshalb füge ich hier nur drei kurze tabellarische Zusammenfassungen ein.



Tab. 1: Partner des MeDoc-Projekts und Systemstruktur

Den Münchner Anteil des Projekts verantwortete Anne Brüggemann-Klein. Sie verfasste das Pflichtenheft für das MeDoc-System und leistete zusammen mit Kolleginnen und Kollegen die wesentlichen Beiträge zur Abrechnungsfunktion.



Tab.  2: Angebotene Inhalte im MeDoc-System

Bereits im Titel drückt sich die vom Ministerium gewünschte Art der Bemühungen aus. Es sollte etwas entwickelt und in der Praxis erprobt werden. Der Begriff ‚Forschung‘ kam nicht vor. Dass damit Hochschulen leicht überfordert seien, lag auf der Hand, sofern sie überhaupt zur Teilnahme zu motivieren waren. Da für die Projektarbeit jedoch keine Industrieunternehmen, sondern nur hersteller-neutrale Hochschulgruppen gewonnen werden durften, waren gewisse  Probleme vorprogrammiert. Auf sie einzugehen, erspar ich mir. Bei den Nachfolge-Projekten schoben sich andere Fachgebierte in den Vordergrund, z.B. Chemie und Mathematik. Die Informatik habe bereits genug ‚abgesahnt‘, hieß es. Einige der Projektbeteiligten konnten ihre Erfahrungen auf dem neuen Gebiet zur Anwendung bringen, indem sie sich erfolgreich um DFG-Projekte bewarben, dieses Mal aber als reine Forschungsprojekte deklariert, ohne die Auflage auch etwas zum Laufen zu bringen und Nutzer dafür zu gewinnen.



Tab. 3: Weitere Projekt-Mitarbeiter

Rückblickend sagen einige der Teilnehmer, dass für sie das Projekt zu früh war. Sie waren damals noch nicht davon überzeugt, dass ein so gravierender Wandel des Publikationswesens bevorstand oder sie waren noch unsicher, welche Änderungen sie am meisten betreffen würden oder welche technischen Lösungen und Formate sich durchsetzen würden. Über den von MeDoc angestrebten Idealzustand verfüge ich seit etwa drei Jahren. Bei mir heißt er Skoobe. Dieses Geschäftsmodell gestattet es mir, für 9,99 Euro pro Monat fast beliebig viele Bücher zu lesen, ohne mich aus dem Haus zu bewegen. Auch der neue Leiter der ETH-Bibliothek in Zürich (Rafael Ball) will weniger Papierbücher kaufen. Die Zeit des Bestandsaufbaus sei endgültig vorbei, meinte er dieser Tage.

Dass es Aufgabe einer Regierung sein könnte, einer Branche die Unsicherheit vor dem technologischen Wandel zu nehmen und ihr die Möglichkeit zu verschaffen, selbst Einfluss zu nehmen, wird auch heute in Sonntagsreden immer wieder gefordert. Für die Medien- und Verlagsbranche ist diese Art der Hilfe offensichtlich fehl am Platze. Auch heute  ̶  etwa 20 Jahre nach MeDoc  ̶  ist diese Branche nur am Schutz ihrer historischen Privilegien interessiert. Genau das drückt sich im Streit zwischen Verlegern wie Axel-Springer und Technologiefirmen wie Google aus. Anstatt der Bundesregierung werden heute die EU-Kommission oder das EU-Parlament als Schutzmacht vorgeschoben.

NB.: Die Tabellen 1 und 2 stammen aus dem bei der GI-Jahrestagung in Aachen abgelieferten Projektbericht [1]. In Tabelle 3 sind alle Namen aufgeführt, die in [2] als Autoren erscheinen, aber in diesem Text nicht erwähnt wurden. Dass sie die eigentlich Aktiven waren, sollte nicht vergessen werden. In der Referenz [3] findet man auch eine erste Bewertung und Einordnung des Projekts.

Leben in München

Darüber zu reden, was München als Stadt zu bieten hat, heißt Eulen nach Athen zu tragen. Nur soviel: Wir kamen uns vor wie gerade verheiratet. Unsere Kinder ließen uns alleine umziehen. Sie waren entweder im Studium oder schon im Beruf. Meine Frau und ich wohnten zentral am Isartorplatz. Statt im Auto fuhr ich per U-Bahn zur Arbeit. In Fußgänger-Abstand lagen der Viktualienmarkt und das Hofbräuhaus. Das Theater am Gärtnerplatz, aber auch die Oper und die großen Museen waren nicht weit.



Abb. 10; Mit Gästen auf dem Oktoberfest

Im Sommer hatten wir bezüglich Biergärten die Qual der Wahl. Sonntägliche Ausflüge führten uns ins Isartal, zum Tegernsee oder zum Starnberger See. Der Chiemsee war schon etwas weiter entfernt. Dennoch schafften wir es zu einer Matinee in Schloss Herrenchiemsee zusammen mit den bayrischen Royalisten. Zum Oktoberfest gingen wir amerikanischen Besuchern zuliebe. Ein letztes alpines Skiwochenende verbrachten wir 1996 in Lengries. Danach stiegen wir auf Langlauf um.



Abb. 11: In Schloss Herrenchiemsee

Wertender Rückblick auf die Münchner Zeit

Aus der Distanz von nunmehr fast 20 Jahren traue ich mich, eine Antwort auf die Frage zu geben: Was haben diese vier Jahre für mich gebracht? Die Antwort hat mehrere Aspekte. Ob mein Ausflug zur Hochschule für andere Menschen etwas gebracht hat, soll hier nicht in Betracht gezogen werden.

Finanziell trug die Verlängerung meiner Lebensarbeitszeit zweifellos zur Absicherung meines späteren Lebensabschnitts bei  ̶  obwohl ich keinen zusätzlichen Rentenanspruch erwarb. Fachlich brachten mich die zusätzlichen Jahre in eine ganz neue Umgebung. Nach 35 Jahren in der Privatwirtschaft empfing mich nun der öffentliche Dienst. Wie bereits angedeutet, war ich angenehm überrascht über die Sensibilität und das Pflichtgefühl bayrischer Beamter.

Mein inzwischen leider bereits verstorbener Freund und Kollege Eike Jessen bat mich am Tage meiner Verabschiedung von München etwas zu reflektieren. In einer kleinen Feier mit Kollegen und Mitarbeitern gab ich meine damaligen Gedanken zum Besten. Obwohl ich einige Details vergessen habe, will ich die wichtigsten Punkte hier wiederholen. Zuerst wollte Jessen wissen, was mich am meisten positiv beeindruckt hätte. Meine Antwort hatte mehrere Teile: Die Kollegialität der Kollegen untereinander (ich nannte als Beispiel die fehlende Stasi-Entlastung eines neuen Mitarbeiters), die Motivation des Mittelbaus und die Nonchalance aller gegenüber administrativen Fragen. Als Beispiel für Letzteres gab ich an, dass jemand mich fragte, wie viele Rechner (PCs oder Grafikstationen) mein Lehrstuhl besäße. Ich gab eine Zahl an, die etwa der Zahl der fest angestellten Mitarbeiter entsprach. Tatsächlich waren es etwa doppelt so viele. Wurde ein Student oder eine Aushilfskraft am Lehrstuhl beschäftigt, ging ein Mitarbeiter zum technischen Dienst und sagte der Lehrstuhl meines Professors benötigt einen weiteren Rechner, und schon bekam er ihn. In der Industrie war ich gewohnt, mehr Grips für die Begründung von Anschaffungen aufzuwenden.

Nicht leicht zu beantworten war die Frage, was  - wenn ich das Sagen hätte – ich ändern würde. Ich gab hierzu drei Antworten: Erstens müsse die Durchlässigkeit von FH-Studenten erheblich verbessert werden. In der Praxis sind FH-Ingenieure oft besser als Ingenieure, die von einer Uni kommen. Ich hatte es mehrmals in den vier Münchner Jahren erlebt, wie schwer Kollegen es hatten, wenn sie einen Mitarbeiter, der von einer FH kam, promovieren wollten. Das ganze Kollegium musste überzeugt werden. In einem Falle musste der Kandidat sogar noch zusätzliche Mathematik-Vorlesungen hören, bevor er zur Promotion zugelassen wurde.

Mein zweiter Punkt betraf die Rolle der Mathematik im Informatik-Studium. Ich fände es skandalös, dass Lehrende, die selbst keine Informatiker sind, also nicht aus dem eigenen Fachgebiet kommen, fast die Hälfte der Informatik-Studierenden davon abbringen, ihr Studium erfolgreich abzuschließen. Mir ist bekannt, dass die Münchner Informatiker seither selbst bestimmen, welche mathematischen Stoffe ihre Studierenden hören müssen. Ob die für das spätere Berufsleben größtenteils unnötige Mathematik weiterhin als zentraler Stolperstein dient, weiß ich nicht. Ich befürchte ja. Es erinnert an die Diskussion über den Wert von Latein für die Schulung des logischen Denkens. Als ob man an Hand von Problemen aus der Informatik nicht auch Denken lernt.

Beim dritten Punkt stieß ich auf nur beschränktes Verständnis. An einer technischen Hochschule hielte ich es nicht für vertretbar, dass kaum Wert auf Erfindungen gelegt wird. Ich könnte dies nur so verstehen, dass das Denken der meisten Kollegen durch Mathematiker beeinflusst wird. Für einen Mathematiker zählt einzig die frühzeitige Publikation in einer angesehenen Fachzeitschrift, nicht aber ein erfolgreiches Produkt oder  ̶   wenn es nicht dazu kam  ̶  eine Veröffentlichung per Patentantrag. Selbst die Idee, dass ein Patent als echte Veröffentlichung zählt, und zwar von etwas, das einen ökonomischen Wert darstellt, will vielen Informatikern nicht so recht in den Kopf. Um es sportlich auszudrücken: Wieso gibt sich die TUM damit zufrieden, was Erfindungen anbetrifft, in derselben Klasse zu spielen wie Bielefeld und die FU Berlin, nämlich in der unteren Kreisklasse? An dieser Situation scheint sich auch heute wenig geändert zu haben. Es ist dies meines Erachtens mit ein Grund für die geringen Erfolge der deutschen Informatik als eigenständige Industrie. Indem ich dies immer wieder wiederhole, hoffe ich, dass irgendwann der Groschen fällt.

Referenzen
  1. Breu, M., Brüggemann-Klein, A., Endres, A.: Elektronische Informations- und Publikationsdienste für die Informatik - Ergebnisse des Projekts MeDoc. GI-Jahrestagung 1997
  2. Barth, A., Breu, M., Endres, A., de Kemp, A. (eds); Digital Libraries in Computer Science: The MeDoc Approach. LNCS 1392, Heidelberg 1998
  3. Endres, A., Fellner, D.W. ; MeDoc-Dienst der deutschen Informatik. In: Digitale Bibliotheken, 2000. S. 375-388

Donnerstag, 11. Februar 2016

Als Wessi an einer Ost-Universität kurz nach der Wende

Von Oktober 1992 bis März 1993 war ich nach meiner Frühverrentung als Lehrstuhlvertreter an der Universität Rostock tätig. Im Folgenden fasse ich Eindrücke zusammen, die ich während dieser Zeit über diese ostdeutsche Stadt und ihre Umgebung gewann. Die Bemerkungen über die Universität Rostock werden ergänzt durch Hinweise auf das wirtschaftliche, soziale und kulturelle Leben der Stadt Rostock. Ich hatte diesen Artikel im Jahre 1993 geschrieben, um ihn in einer süddeutschen Tageszeitung zu veröffentlichen. Es kam jedoch nicht dazu. Der Beitrag verfolgte das Ziel, Verständnis zu wecken für die derzeitige Situation dieser Region und ihrer Menschen und damit das Zusammenwachsen zwischen alten und neuen Bundesländern zu fördern. In einem Nachtrag ergänze ich den Bericht mit einigen Details aus heutiger Sicht.

Universität im Übergang

Die Rostocker Universität wurde im Jahre 1419 gemeinsam von dem Herzog von Mecklenburg und dem Bischof von Schwerin gegründet. Sie gehört damit zu den ältesten Universitäten Deutschlands. Die stark mit dem Schicksal der Hansestadt Rostock verbundene und von ihr finanziell gestützte Universität gilt außerdem als die älteste Universität Nordeuropas. Ihr aus dem Jahre 1867 stammendes Hauptgebäude liegt mitten in der Innenstadt, am schönsten Platz der Stadt. Ihr fachlicher Schwerpunkt lag traditionell auf den Gebieten der Geisteswissenschaften (Philosophie, Theologie, Jura, Wirtschaftswissenschaft), der Naturwissenschaft (Mathematik, Physik) und vor allem der Medizin. Erst während der DDR-Zeit kamen die Fächer Schiffstechnik und Agrarwissenschaft dazu.

Wie alle ostdeutschen Universitäten durchlief auch Rostock nach der Wende, also nach der Auflösung der DDR, eine turbulente Phase der Umwandlung. Für gewisse Fachbereiche, wie Jura und Wirtschaftswissenschaft, wurde der gesamte Lehrkörper entlassen und durch Wissenschaftler aus Westdeutschland ersetzt. Für die anderen Fachbereiche erfolgte die personelle Erneuerung im Rahmen eines mehrstufigen Verfahrens. In der ersten Stufe beurteilte eine aus örtlichen Vertretern zusammengesetzte Ehrenkommission das politische Verhalten in der DDR-Zeit. Wer hierbei als unbescholten eingestuft wurde, musste sich anschließend einem berufungsähnlichen Verfahren unterziehen, in dem von einem stark von westdeutschen Professoren beeinflussten Gremium die wissenschaftliche Qualifikation festgestellt wurde. Abhängig von dem Ergebnis dieser Bewertung konnte man sich dann auf die übrig gebliebenen Planstellen bewerben.

Inzwischen ist dieser über drei Jahre dauernde schmerzhafte Prozess weitgehend abgeschlossen und eine neue Personalstruktur geschaffen, die nur noch durch einzelne Berufungen ergänzt wird. Dieser Weg war unvermeidbar, da nur so das Vertrauensverhältnis zwischen den Kollegen und der wissenschaftliche Ruf als Universität wiederhergestellt werden konnte. Nach der Maxime des Rostocker Rektors gelten fortan wieder fachliche Kompetenz und persönliche Integrität als allein ausschlaggebende Kriterien für eine Laufbahn an seiner Universität.


Abb. 1: Uni-Hauptgebäude

Die Universität Rostock ist die größte Universität innerhalb des Bundeslandes Mecklenburg-Vorpommern und hat nach der Wende einige andere Einrichtungen wie etwa die bekannte Hochschule für Seefahrt Warnemünde/Wustrow integriert. Die Universität hat ganz deutlich unter den wirtschaftlichen Beschränkungen dieser Region zu leiden. Dies drückt sich einmal darin aus, dass Mittel aus dem Landeshaushalt sehr spärlich fließen, wenn es darum geht die einzelnen Studiengänge und Fachbereiche mit den nötigen Planstellen zu versehen, es zeigt sich aber auch bei der Bereitstellung von Mitteln für Reisen (einschl. Tagungen und Fachveranstaltungen) und Anschaffungen. Gerade das Problem der Reisemittel wird als sehr belastend angesehen. Die meisten der übernommenen Hochschullehrer sind solche, die zu DDR-Zeiten aus politischen Gründen nicht reisen durften (nur system­treue Wissenschaftler gehörten zum sogenannten Reisekader). Jetzt dürfen sie zwar, können aber nicht wegen finanzieller Beschränkungen. Dies fördert natürlich nicht den Gedankenaustausch mit den Kollegen in Westdeutschland und dem westlichen Ausland und die fachliche Gleichstellung innerhalb Deutschlands.

Eine gewisse Unsicherheit ergibt sich für die Universität auch daraus, dass sich das Studierverhalten der Studenten wandelt. Zu DDR-Zeiten wurden Gymnasiasten von staatlicher Seite sehr stark dahingehend beeinflusst, genau die Studien­richtungen und Studienorte auszuwählen, die von der wirtschaftlichen Planung eingerichtet waren. Diese Art der Regelung fällt heute weg. Als Beispiel sei auf die Schiffstechnik verwiesen. Dieser Studiengang spielte zur DDR-Zeit eine große Rolle für die Region, da Rostock das Zentrum der ostdeutschen Werften war. In dieser Branche waren über 100.000 Beschäftigte tätig. Heute ist die schlechte Beschäftigungslage in diesem Industriezweig eines der Hauptprobleme der Region. Die verminderten Berufsaussichten wirken sich auf die Nachfrage nach dem Studiengang Schiffsbau aus. Da hilft auch nicht, dass die Universität Rostock über die bestausgestatteten Schiffsbau-Versuchsbassins ganz Europas verfügt.



Abb. 2: Am Warnow-Ufer

Im Falle der Universität Rostock kommt erschwerend hinzu, dass die meisten ihrer Gebäude sich zwar in guter stadtnaher Lage befinden, dass die bauliche Substanz aber sehr herunter gekommen ist. Hier sind Investitionen größeren Ausmaßes erforderlich. Der Rektor, die Gründungsdekane der einzelnen Fakultäten und viele der übernommenen oder neuberufenen Professoren und Mitarbeiter, betreiben den schwierigen Umwandlungsprozess von einer sozialistischen Kaderschule zu einer Stätte freier Lehre und Forschung mit teilweise aufopferndem Einsatz. Ihnen ist zu wünschen, dass ihre Arbeit Erfolg hat und nicht noch durch von außen hereingetragene Probleme erschwert wird. Die Verwaltungsorgane der Universität sind sehr bemüht sich mit den für sie neuen Regelungen und Vorschriften vertraut zu machen, die im Wesentlichen aus Westdeutschland übernommen wurden.

Die Studenten stehen ihren westdeutschen Kommilitonen nicht nach, wenn es um fachliche Aufgeschlossenheit, Leistungen in den Lehrveranstaltungen oder Mitarbeit in der studentischen Selbstverwaltung geht. Was in den Diskussionen mit mir natürlich besonders interessierte, waren Fragen nach der Situation der westdeutschen Studenten und den beruflichen Möglichkeiten nach Abschluss des Studiums. Ich stellte auch ein überdurchschnittliches Interesse für Industriepraktika im Westen oder für Auslandsstudien fest, etwas was mich nicht wunderte. Ist es doch eine natürliche Reaktion auf die lange Zeit der Isolierung.

Gesellschaft im Wandel

Das vorrangigste Problem des Landes Mecklenburg-Vorpommern ist die hohe Arbeitslosenrate. Sie liegt im Landesdurchschnitt bei 17%, in einigen Orten geht sie sogar hoch bis zu 24%. Dieses Problem wird am häufigsten genannt, wenn über die sozialen Folgen der Wende gesprochen wird. Zur DDR-Zeit gab es dieses Problem angeblich nicht. Alle Leute wurden beschäftigt, auch wenn der Betrieb eigentlich weitere Stellen nicht benötigte. Rentabilität spielte ja keine Rolle. Obwohl im jetzigen Sozialsystem die Sorge um  die materielle Existenz entfällt, stellt Arbeitslosigkeit für den einzelnen dennoch eine große  psychologische Belastung dar, an der manche zerbrechen können. Wegen der eindeutigen Ausrichtung auf den Schiffsbau gibt es in Rostock ganze Stadtteile, für die Arbeitslosigkeit das vorherrschende Thema darstellt. 

Dass versucht wird, den Übergang nicht zu krass werden zu lassen, zeigte das Universitätsinstitut, an dem ich arbeitete. Hier wurden ein halbes Dutzend nicht-wissenschaftlicher Mitarbeiter weiterbeschäftigt, die zu DDR-Zeiten für die Selbstversorgung des Instituts unentbehrlich waren, deren Dienstleistungen man aber heute eher von externen Firmen beziehen würde, nämlich Pförtner, Schlosser, Gärtner, und dgl.

Fast im gleichen Atemzug mit der Arbeitslosenrate wird von besorgten Bürgern auf das Problem der wachsenden Kriminalität verwiesen. Sie mag zum Teil ihren Grund in der großen Arbeitslosigkeit haben, hat ihn aber sicher auch in einer gewissen Orientierungslosigkeit und falschverstandenen Freiheit. Besonders Jugendliche waren früher durch Schule, staatliche Jugendorganisationen, Sport und Wehrdienst sehr stark in ein Netz gesellschaftlicher Beziehungen eingebunden. Vieles davon fiel auf einen Schlag weg. Unterlagen früher alle, die nicht selbst Teil des DDR-Machtapparates waren, denselben Einschränkungen und Entbehrungen, so tritt jetzt der Wunsch auf sich abzusetzen und zu profilieren.

Mit einem Anflug von Verzweiflung erzählte mir die Leiterin einer Realschule, welche Probleme sie mit Jugendlichen hat. Nach jedem Wochenende darf sie Fensterscheiben und Türen an ihrer Schule reparieren lassen, die von ihren eigenen Schülern mutwillig zerstört wurden. Stolz zeigen Schüler im Unterricht die aus einem naheliegenden Einkaufszentrum entwendeten Artikel. Im Gegensatz zu früher hätten die Lehrer heute keinerlei Macht. Im DDR-System waren Schüler auf ihre Lehrer angewiesen, wenn sie eine Lehrstelle oder einen Studienplatz haben wollten. Andererseits wurden Lehrer zur Verantwortung gezogen, wenn Schüler aus der Reihe tanzten. Jetzt ist alles Sache der Eltern und diese sind selbst verun­sichert und haben ihre eigenen Probleme. Dabei ist unser westdeutsches Elternrecht für sie ein aufgestülpter Begriff, mit dem sie keine Erfahrung haben, und nicht alle Lehrer wissen, wie sie mit ihrer neuen Rolle fertig werden sollen.

Mein Rat, die marodierenden Schüler anzuzeigen und ihnen „die Zähne des Rechtsstaats“ zu zeigen, stieß auf wenig Gegenliebe. Der Einwand, die fallen doch unter das Jugendrecht und kommen ungeschoren davon, verriet eine gewisse Hilflosigkeit. Wie schnell man sein Rechtsempfinden ändert, bewiesen ja auch Besucher aus dem Westen. „Bei uns parken sie auf Rasenstreifen, etwas was sie zuhause nicht tun würden“ hieß es. Nicht selten hört man auch die schon fast nostalgisch klingende Bemerkung: „Früher zur DDR-Zeit herrschte Ordnung, da gab es genug kontrollierende Volkspolizisten, an die man sich wenden konnte“. Dass diese Ordnung die Ordnung eines Polizeistaates war, wird oft vergessen.

Lichtenhagener Krawalle

Man kann heute kaum noch über Rostock reden, ohne nicht auf die Ereignisse des August 1992 einzugehen. Seither wird Rostock von vielen Außenstehenden gleichgesetzt mit Fremdenhass und Rechtsradikalismus, ein Image, gegen das sich jeder Rostocker, den ich kennen lernte, vehement wehrt. Lichtenhagen ist eine der großen Trabantenstädte im Norden von Rostock, die während der DDR-Zeit aus dem Boden gestampft wurden, um für die vielen Arbeiter und Angestellten, die in der Schiffsbauindustrie eingesetzt wurden, Wohnraum zu schaffen. Wegen der Bedeutung des Schiffsbaus für die DDR gehörten Werftarbeiter zu einer privilegierten Berufsgruppe. Heute ist der größte Teil von ihnen arbeitslos und manche leiden unter einem Gefühl des Selbstwertverlusts. Der ganze Stadtteil besteht aus einheitlichen, in der berühmten DDR-Plattenbauweise errichteten Wohnblöcken. Ein Dorf Lichtenhagen liegt außerhalb der Siedlung und besteht aus einer kleinen Kirche und einigen Bauernhäusern.

Mitten in dieser Siedlung befand sich in einem der Wohnblocks die Zentrale Aufnahmestelle des Landes für Asylbewerber. Ihre Kapazität reichte vielleicht für 500 Menschen, das Gebäude war aber bereits mit über 1000 Personen belegt, und ein Abreißen des Zuwandererstroms war nicht abzusehen. Die meist aus Vietnam stammenden Einwanderer begannen nach und nach im Freien zu kampieren und den Siedlungskern in Beschlag zu legen. „Sie bettelten und lärmten, liebten sich und belästigten Frauen und Kinder, die Grünflächen versanken in Unrat und Kot“, berichtet ein Anlieger. Eingaben der Nachbarn an die Stadtverwaltung und das Land blieben unbeantwortet. Mit Zeitungs­anzeigen kündigten Bürgerinitiativen an, dass sie, wenn die Behörden nicht reagieren werden, das Problem auf ihre Art lösen würden.


Abb. 3: Ansteckplakette der Gegendemonstration

An den Demonstrationen und Krawallen der ersten Abende, so sagten mir Augenzeugen, waren primär Rostocker Jugendliche beteiligt. Ihr Protest sei eher gegen das Versagen der Behörden, also des Staates, als gegen die Ausländer gerichtet gewesen. Einige der Anwohner, davon wurde dank des Fernsehens die ganze Welt Zeuge, spendeten dabei offensichtlich Beifall. An den folgenden Tagen hätten dann Rechtsradikale aus Berlin und Hamburg das Geschehen bestimmt. Die Ungeschicklichkeit der Polizei und des verantwortlichen Innenministers, der inzwischen seinen Hut nehmen musste, hat die Situation noch verschlimmert.

Inzwischen steht ein leerer Wohnblock mit ausgebrannten Fenstern als Menetekel mitten in Lichtenhagen. Die Aufnahmestelle für Asylbewerber wurde in eine frühere Kaserne der Volksarmee 10 km außerhalb von Rostock im Wald von Hinrichshagen verlegt. Sie ist mit einem Maschenzaun umgeben und wird von Grenzschützern bewacht. Eine Lösung des Asyl-Problems ist damit zwar nicht er­reicht, die unmittelbare Auswirkung auf die Stimmung in der Bevölkerung (die „soziale Brandgefahr“) ist jedoch abgewendet. Leider sind schlim­mere Exzesse als die von Rostock inzwischen auch anderswo zu beklagen. Zu Beginn des Wintersemesters 1992 fand eine Gegendemonstration in der Stadt Rostock statt, an der ich mit einigen Kollegen zusammen teilnahm. [Eine ausführliche Beschreibung der Lichtenhagener Krawalle gibt es bei Wikipedia]

Aufschwung der Wirtschaft

Trotz aller Klagen sind die Zeichen des wirtschaftlichen Aufschwungs nicht zu übersehen. Bei einem ersten Besuch in Rostock vor zwei Jahren fielen mir außer den Tiefbauarbeiten der Telekom vor allem die Provisorien der Banken auf. In­zwischen gibt es fast in jeder Straße einige Häuser, die renoviert sind.



Abb. 4: Renoviertes Lagerhaus

Zum größten Teil handelt es sich dabei um Geschäftshäuser, besonders Banken, Reisebüros und Versicherungs-Agenturen, ab und zu ist aber auch schon ein Wohnhaus dabei. Immer noch scheint ein gewisser Nachholbedarf an Konsumgütern zu bestehen. Das erklärt, warum sich alle Angebote von Haushaltsartikeln, Kleidung und Schuhen großer Aufmerksamkeit erfreuen. Die Preise erschienen mir niedriger als bei uns in Süddeutschland. Sie scheinen dem Lohnniveau angepasst zu sein, das im öffentlichen Bereich zur Zeit 65% des westdeutschen Tarifs ausmacht. In der Vor­weihnachtszeit glich die gesamte Innenstadt Rostocks einem riesigen Weih­nachtsbazar.

Die Jahrmarktaussteller aus der ganzen Bundesrepublik schienen sich dort zu treffen. Die Anzahl der Restaurants für eine Stadt der Größe Rostocks ist immer noch gering. Es kommen aber fast wöchentlich neue dazu. Sie bieten eine Vielzahl lokaler Gerichte, wobei Fischgerichte wegen der Küstenlage eine besondere Rolle spielen. Besonders groß ist der Mangel an Hotelzimmern. Die wenigen dem west­lichen Niveau angepassten ehemaligen Interhotels (Neptun, Warnow) ver­langen Preise, die sich nicht einmal alle Geschäftsreisenden aus dem Westen leisten können. Eine Besonderheit Rostocks ist ein im Hafen fest verankertes russisches Hotelschiff, das einige Hun­dert Betten anbietet. Einige erschwingliche Hotels gibt es auch, sowie eine große Anzahl guter Privatzimmer.

Nichts drückt den wirtschaftlichen Wandel auffallender aus als die Explosion des Autoverkehrs, der über die Stadt hereinbrach. Jeden Morgen und Abend staut sich der Berufsverkehr an den Einfallstraßen zur Stadt und auf den wichtigsten inner­städtischen Verkehrsadern. Der ruhende Verkehr belegt jede mögliche und unmögliche freie Stelle in der Stadt. Die Grünflächen um die Wohn­siedlungen fielen ihm größtenteils zum Opfer. Gleichzeitig Folge oder Grund der Motorisierung sind die Supermärkte auf der grünen Wiese.

Dass die Stimmung bei den Ostdeutschen dennoch sehr negativ ist, ist sicherlich auf zum Teil überzogene Erwartungen zurückzuführen. Man kannte die Bundesrepublik primär aus dem Fernsehen und leitete daraus seine Vorstellungen ab, was die Gleichheit der Lebensbedingungen anbetraf.



Abb. 5: Supermarkt Aldi

Vielleicht spielt es auch eine Rolle, dass die Erwartungen an die Mög­lichkeiten des Staates in die Wirtschaft einzugreifen, überbewertet wurden. Ich hatte Gelegenheit den Oberbürgermeister der Stadt zu fragen, was seiner Ansicht nach den Auf­schwung am meisten behinderte. Seine Antwort: „Die 50.000 Verfahren, die allein in Rostock anhängig sind, um die Eigentumsfrage am Grundbesitz zu klären“. Es ist nicht anzunehmen, daß dieses Problem sich mit einem Federstrich lösen lässt.

Kultur und Landschaft

Für eine Stadt ihrer Größenordung (200.000 Einwohner) bietet Rostock eine erstaunliche Vielfalt an kulturellen Einrichtungen. Einen hohen Stellenwert im Bewusstsein der Rostocker haben seine Theater. Bereits an meinem ersten Tag hatte ich Gelegenheit mich an einer Unterschriftensammlung zur Erhaltung der Oper zu beteiligen. Sowohl im Großen wie im Kleinen Haus des Theaters konnte ich je eine hervorragend gelungene Vorstellung besuchen.

Dass eine dieser Aufführungen dem angeblichen Verständigungsproblem zwischen West- und Ostdeutschen nach der Wiedervereinigung gewidmet war, hatte seinen besonderen Reiz. Es handelte sich um das Stück „Doppeldeutsch“ von Harald Mueller, das in Rostock uraufgeführt und bisher noch von keiner anderen deutschen Bühne übernommen wurde. Die Vereinigung einer westdeutschen mit einer ostdeutschen Firma, gefeiert im Klubhaus eines Golfplatzes in Mecklenburg-Vorpommern, ist der Anlass, bei dem der Autor die Empfindlichkeiten von westdeutschen Erfolgstypen und ostdeutschen Verlierern aufeinandertreffen lässt. Obwohl die Dialoge nur so von hintergründigen Bemerkungen sprudelten, ging man allerdings etwas subtiler miteinander um als bei Wolfgang Menges „Motzki“ [einer Fortsetzungsserie in der ARD].

Ein Erlebnis besonderer Art war ein Konzert von Studenten des Instituts für Musikwissenschaft der Universität, die für die Darbietung ihrer Fertigkeiten und Talente den Barocksaal des herzoglichen Palais benutzten konnten. Auch von den Orgelkonzerten in der größten Kirche der Stadt, der gotischen Marienkirche, scheinen viele Rostocker begeistert zu sein. Beeindruckt hat mich auch das kulturhistorische Museum im ehemaligen Kloster zum Hl. Geist, das neben vielen historischen Bildern und Relikten gerade eine Ausstellung über einen berühmten Sohn der Stadt, nämlich den Napoleon-Bezwinger Gebhard Leberecht von Blücher zeigte. Dem maritimen Erbe der Stadt ist das Schifffahrtsmuseum gewidmet, das die Ent­wicklung der Seeschifffahrt von ihren historischen Anfängen bis in die Tage der DDR-Kriegsflotte illustriert. Es hat mich nicht verwundert, dass ich immer wieder Rostocker traf, die mit Begeisterung und Stolz von ihrer Stadt sprachen. Zwar fühlte sich Rostock übergangen, als es darum ging, wer Landeshauptstadt wird, Rostock oder Schwerin. Ich kann mich des Eindrucks jedoch nicht erwehren, dass man dies wettmacht durch eine „Jetzt erst recht“-Einstellung, die keinen Zweifel lässt, wo das intellektuelle und kulturelle Zentrum dieses Landes liegt.

Bezüglich der Geographie Mecklenburg-Vorpommerns denkt man zuerst an die Insel Rügen und an die mecklenburgische Seenplatte. Beides sind Juwele in der deutschen Landschaft. Rügens Kreidefelsen bei Stubbenkammer hat der Maler Caspar David Friedrich bereits vor über 150 Jahren verewigt. Sie sehen heute noch haargenau so aus wie damals. Die Seen von Plau, Müritz und Krakow sind Oasen der Ruhe, ähnlich den Seen Finnlands.



Abb. 6: Alleenstraße

Einmalig sind auch die langen Baumalleen, wie sie sich an vielen Stellen des Landes finden, oder die Türme und Fassaden in nord­deutscher Backstein-Gotik, etwa in Grimmen, Demmin und Stralsund. In unmittelbarer Nähe zu Rostock bestechen mehrere bekannte Badeorte mit herrlich weiten Stränden, allen voran Warnemünde (das zu Rostock eingemeindet wurde). Aber auch Graal-Müritz, Heili­gendamm und Kühlungsborn besitzen einen unverwechselbaren Charme. Selbst im Winter sind Strandwanderungen hier eine willkommene Erholung. Die herrlichen Pinienwälder würzen mit ihrem Duft die Brise, die vom Meer kommt. Heiligendamm gilt übrigens als das älteste aller deutschen Ostseebäder und feiert in diesem Sommer den 200. Jahrestag seiner Gründung durch den mecklenburgischen Herzog.

Da zur DDR-Zeit ein großer Teil der Halbinsel Darß für die Parteiprominenz als Feriengebiet reserviert oder als Hafenanlage für Patrouillenboote angelegt war, sind wir heute in der glücklichen Lage, dass es dort kilometerlange Küstenzonen gibt, die sich als wahre Naturlandschaften mit seltener Pflanzen- und Vogelwelt darbieten.


Abb. 7: Darßer Ort

Ein Teil dieses Gebiets (Darßer Ort bei Prerow) wurde inzwischen zu einem Nationalpark erklärt, wodurch der Zersiedlung ein Riegel vorgeschoben wurde. Dennoch steht reichlich Fläche zur Verfügung, die Erholungs­suchenden eine weitgehend unberührte Küsten- oder Boddenlandschaft bietet. Ein Abstecher zum Dom von Bad Doberan oder zum Bernstein-Museum in Ribnitz-Damgarten ist dann geboten, wenn das Wetter mal nicht ganz mitspielt.

Bleibender Gesamteindruck

Rostock ist mehr als nur eine Reise wert. Die alte Hansestadt hat viel zu bieten. Sie ist ein attraktives Zentrum im deutschen Norden, das Hamburg, Bremen und Lübeck kaum nachsteht. Es ist eine Stadt mit alter Tradition, mit einem starken Lebenswillen und umgeben von einer Landschaft, die ihresgleichen sucht. War diese Umgebung schon im Winter ein Genuss, wie viel reizvoller wird sie erst im Sommer sein. Dann kommen auch die Segler, die Campingfreunde und alle andern Freizeit- und Badegäste voll auf ihre Kosten. Wirtschaftlich und sozial gesehen geht die Stadt durch eine schwierige Phase. Zu allem Unglück hat sie auch noch ein Image-Problem dazu bekommen, was vielleicht dazu führt, dass einige meinen, diese Stadt meiden zu müssen. Damit aber geschieht Rostock Unrecht. Deshalb ist jeder Besucher eine Ermutigung und eine Hilfe.

Nachtrag Februar 2016

Der obige Bericht fasst Eindrücke zusammen, wie sie 1993 bei mir bestanden. Sie sind durch das unmittelbare Erleben gefärbt. Zwei Jahrzehnte später fallen mir noch einige andere Dinge ein, wenn ich an Rostock zurückdenke. Ich will sie stichwortartig beschreiben.
  • Meinen Aufenthalt in Rostock verdankte ich Karl Hantzschmann, dem langjährigen Dekan der Rostocker Informatik. Wir sind heute, auch nach seiner Emeritierung, noch im freundschaftlichen Kontakt. Zu den übrigen Professoren des Fachbereichs, entstand ein teils herzliches, teils kühles Verhältnis. Mit allen neuberufenen Kollegen und den 4-5 übernommenen Professoren, die die Evaluierung ohne Probleme überstanden hatten, hatte ich sofort einen kollegialen Umgang. Mir war das Büro und das Sekretariat eines der früheren Koryphäen der Fakultät zugewiesen worden, der nicht übernommen worden war. Als Computer-Grafiker war er an strategisch wichtigen Projekten des DDR-Schiffbaus beteiligt gewesen. Tauchte er im Institut auf, war er höflich und verbindlich. Nach seinem Besuch brach seine frühere Sekretärin schon mal in Tränen aus. Bei 2-3 Kollegen musste ich mich zurückhalten. Sie neigten dazu, die jetzigen Verhältnisse eher kritisch zu sehen. Einer, mit dem ich öfters zusammentraf, konnte partout nicht verstehen, dass jetzt ein Theologe das Kultusministerium leitete.
  • Der Rektor der Universität und die Verwaltung gaben sich echt Mühe, mir entgegenzukommen und mir zu zeigen, dass ich willkommen war. Dass alle gehaltlichen Fragen und alle Spesenabrechnungen über eine Stelle im fernen Neubrandenburg liefen, wunderte mich zwar, aber es funktionierte.
  • Die Studierenden beeindruckten – wie im Bericht ausgeführt – durch Interesse am Stoff und durch Aufgeschlossenheit gegenüber Fragen des Arbeitsmarkts und der Karriere. Eine einzige Klausur machte mir Ärger. Ein Student und eine Studentin, die ich immer zusammen gesehen hatte, hatten exakt dieselben Fehler in der Klausur. Ich schloss daraus, dass sie voneinander abgeschrieben hatten. Ich fragte den Vorsitzenden der Prüfungskommission, was ich machen sollte. Der schlug vor, beiden die Note ‚Ungenügend‘ zu geben. Als ich dies den beiden Prüflingen mitteilte, schauten sie mich groß an. Sie seien dazu erzogen worden, alles im Kollektiv zu machen, hielten sie mir entgegen. Der Wessi-Professor war jedoch nicht bereit, dies als Entschuldigung gelten zu lassen
  • Bei den Angestellten des Rechenzentrums, der technischen Dienste und der Bibliothek hatte ich einen Stein im Brett. Ich konnte sehr leicht dringend benötigte Programme oder Bücher besorgen. Der Institutsbibliothek stiftete ich rund 100 Bücher. Es waren dies Freiexemplare von Verlagen oder Dupletten aus der Firmenbibliothek. Als ich wegging, lud mich die Leiterin der Institutsbibliothek zu einem Kerzenfrühstück in der Bibliothek ein. Der Tisch war nur für zwei Personen gedeckt. Das übrige Personal der Bibliothek war nicht eingeladen. Bei dieser Gelegenheit bemerkte die Bibliothekarin, dass ihr Gatte als Kapitän zu See fahre und sie daher viel allein sei. Bei meiner Frau und einigen Kollegen, denen ich dies erzählte, kam der Verdacht auf, dass meine häufigen Bibliotheksbesuche mehr als nur fachliche Gründe hatten.