Mittwoch, 17. Februar 2016

Vier Jahre an der TU München als mein beruflicher Ausklang

Schon vor meinem Aufenthalt in Rostock war ich von Münchner Bekannten gefragt worden, ob ich nicht Lust hätte, nach meinem Eintritt in den vorgezogenen Ruhestand für einige Jahre als Professor an die TU München (TUM) zu kommen. Während ich meinen westdeutschen Horizont um Erfahrungen in den Neuen Bundesländern erweiterte, liefen die Vorbereitungen. Alles, was ich selbst tun konnte, bestand darin im Februar 1993 mit einem Nachtzug von Rostock nach München zu fahren, um gegen 11 Uhr einen Probevortrag zu halten. Das Thema habe ich vergessen. Ich trat meinen Dienst im Mai 1993 an und schied Ende April 1997 aus.


Abb. 1: Emblem der TUM

Seriöses Angebot

Über das Angebot, das mir gemacht wurde, weiter zu verhandeln, sah ich wenig Grund. Es war ein Dreijahresvertrag mit der Option, ihn um ein Jahr zu verlängern. Die Vergütung entsprach dem Gehalt eines C4-Professors. Ein Beamter des Kultusministeriums brachte mir den Vertrag ins Institut. Derselbe Beamte besuchte mich auch später noch einige Male, und erkundigte sich, ob ich mit Allem zufrieden sei. Obwohl ich schon Honorarprofessor der Universität Stuttgart war, verlieh der bayrische Staat mir nochmals den Titel Professor, und das auf Lebenszeit. Um den Stuttgarter Titel nicht zu verlieren, musste ich der dortigen Rektorin allerdings einen Brief schreiben. Sinngemäß stand darin: Ich verlasse Stuttgart nicht, weil ich meine hiesigen Verpflichtungen nicht erfüllen kann oder möchte, sondern weil ich gebeten worden sei, der TU München aufgrund meiner Erfahrungen vorübergehend zu helfen. Nach Ablauf der vorgesehenen 3-4 Jahre werde ich meine Stuttgarter Vorlesung wieder anbieten, was ich dann auch tat.



Abb. 2; Glockenturm der TUM

Die beiden Kollegen, die vom Institut für Informatik als meine Gesprächspartner bestimmt waren, sagten mir, dass ich den Lehrstuhl für Computergrafik erhalten würde. Es war dies einer von 12 planmäßigen Lehrstühlen, der aber bisher nicht besetzt werden konnte. Außer mit dem Lehrstuhlinhaber war er noch mit vier Planstellen ausstaffiert. Die Büros lagen im Stammgebäude der TUM, der Arcisstraße 21. Bezüglich der Besetzung der Sekretariatsstelle und einer Wissenschaftlerstelle würde man mir helfen. Wie sich herausstellte, waren alle diesbezüglichen Zusagen am Tage meines Dienstantritts erfüllt, und zwar zu meiner vollsten Zufriedenheit.

Standesgemäßer und kollegialer Empfang

Meine Position war von den über 100 Mitarbeitern des Instituts dadurch abgehoben, dass ich Lehrstuhlinhaber war. Im Rechenzentrum, in der Bibliothek, überall kam man mir respektvoll entgegen. Ich durfte meinem Lehrstuhl einen neuen Namen geben und wählte ‚Software-Ingenieurwesen‘. Für mich war dies eine Analogie zum Bauingenieurwesen (engl. civil engineering). Kein Münchner, sondern ein externer Besucher wunderte sich über diese Bezeichnung und fragte mich, warum ich nicht ‚Software Engineering‘ gewählt habe. Das sei doch moderner. Für mein Büro durfte ich in einem Münchner Möbelhaus eine vollständige Ausstattung (mit Teppich und Wandbildern) aussuchen.



Abb. 3: Institutseingang Arcisstr. 21

Für eine meiner freien Stellen hatte ich in Rostock einen Mitarbeiter angeworben, der gerade eine Diplomarbeit in Computergrafik abgeliefert hatte. Das Land Bayern wollte ihn jedoch nicht anstellen, bevor er seine Unbedenklichkeit bezüglich eventueller Stasi-Vergangenheit nachweisen konnte. Das hätte seine Anstellung und Übersiedlung nach München leicht 2-3 Monate verzögert. Kein Problem, sagten die Münchner Kollegen. Wir tauschen und nehmen den Ossi solange auf eine von Siemens finanzierte Stelle. Das geschah dann auch, ohne dass die Betroffenen dies überhaupt merkten. Ein Grund, warum derartige Umdisponierungen problemlos abliefen, war die Tatsache, dass das gesamte Budget der Fakultät Informatik einem einzigen Institut, also einer Kostenstelle, zugeordnet war. An anderen Universitäten sind die Lehrstühle für Informatik oft auf verschiedene Institute aufgeteilt, damit jedes über seine eigenen Mittel verfügen kann. Auch später erwies sich diese Flexibilität immer wieder als Vorteil. Sie setzte aber eine gute und vertrauensvolle  Kooperation voraus.

Vorlesungen, Übungen und Studenten

Die Hauptaufgabe eines Professors besteht bekanntlich darin, Vorlesungen und Übungen anzubieten, deren erfolgreicher Besuch von Studierenden des Fachgebiets als Studienleistung anerkannt wird. Man verschonte mich mit dem Abhalten von Einführungsvorlesungen für Informatiker. Ich durfte mich auf Veranstaltungen für Fortgeschrittene beschränken, musste jedoch eine Mindestzahl von Semesterwochenstunden erreichen. Ich stellte Kopien aller benutzten Folien am Semesteranfang zur Verfügung. Je nach Lust und Laune wich ich auch davon ab und erzählte Dinge, von denen ich wusste, dass sie Studenten interessieren. Etwa, wie man sich bewirbt, wie in der Industrie die Leistungsbeurteilung erfolgt, aufgrund der die Gehaltssteigerungen ermittelt werden, oder wie Projekte organisiert werden. Im Sommersemester lud ich alle meine Hörer jeweils einmal zu einem Treffen in einen Münchner Biergarten ein. Es kamen nie über 30.



Abb. 4: Vortragender im Hörsaal
(anlässlich einer Fachtagung)

Da ich selbst einmal Vermessungskunde studiert hatte, traf es mich, als die Münchner Geodäten die Fakultät Informatik darum baten, eine Einführungsvorlesung in Informatik für Geodäten zu halten. Mir fiel dabei auf, dass dieser Studiengang, anders als vor 50 Jahren, heute einen hohen Anteil weiblicher Studierende aufweist. Durch so genannte Drittmittelprojekte (siehe unten) wuchs die Zahl der Mitarbeiter im Laufe der Zeit auf sieben. Zwei bis drei  meiner wissenschaftlichen Mitarbeiter organsierten die Übungen. Vor allem betreuten sie die Diplomarbeiten, die von Studierenden am Lehrstuhl angefertigt wurden. Es waren etwa ein Dutzend. An einige der Diplomanden und ihre Arbeiten erinnere ich mich heute noch sehr gut.

Eine  besondere Veranstaltungsform waren die so genannten Seminare. Sie wurden meist von mehreren Lehrstühlen zusammen angeboten. So boten mein Kollege Manfred Broy und ich ein gemeinsames Seminar zum Thema Software-Entwicklung und –Bewertung an, bei dem von Studierenden zu damals aktuellen Themen vorgetragen wurde.

Prüfungen und Promotionen

Eine Besonderheit der Münchner Prüfungsordnung war, dass im Hauptdiplom für das Fach Informatik nur eine einzige mündliche Prüfung abzulegen war. Sie umfasste jedoch Stoff von vier oder fünf Vorlesungen. Die halbstündigen Prüfungen wurden auf alle Ordinarien, d.h. Lehrstuhlinhaber, aufgeteilt. Jeder musste also Stoff prüfen, den er nicht selbst gelesen hatte. Man erhielt dafür die Skripte der Kollegen. Ich lernte auf diese Weise alles kennen, was jeder Münchner Informatiker können und wissen musste, etwa bezüglich Datenbanken, Netzwerken und Künstlicher Intelligenz.

Ein Prüfling, mit dem ich vorher nie gesprochen hatte, kam einige Stunden nach der Prüfung zu mir ins Büro. Er wollte wissen, warum er statt einer glatten Eins (also Sehr gut) nur eine Eins Minus bekommen habe. Er hätte doch alles gewusst, was ich gefragt hatte. Meine Antwort war: Ich hätte am selben Tag mehrere Leute geprüft, die alles gewusst hätten. Einige hätten erheblich päziser, flüssiger und ausführlicher geantwortet als er. Ich glaube, ich konnte ihn nicht zufrieden stellen. Es hat sich übrigens nie jemand bei mir beschwert, den ich hatte durchfallen lassen.



Abb. 5: Nach bestandener Prüfung

Drei meiner Mitarbeiter konnten ihre Dissertationen erfolgreich abschließen. Die Arbeiten wurden von einen Ko-Referenten, d.h. Zweitberichter, und mir bewertet. Außerdem fand eine mündliche Prüfung statt. In mindestens ebenso viel Fällen übernahm ich das Ko-Referat einer Arbeit an einen anderen Lehrstuhl. Auch bei Prüfungen in anderen Fakultäten fungierte ich schon mal als Zweitberichter, etwa in BWL oder Elektrotechnik. Die drei Dissertationen meines Lehrstuhls waren:
  • Klaus Bergner: Spezifikation großer Objektgeflechte mit Komponentendiagrammen, 1996 (Bergner ist heute Geschäftsführer von 4Soft GmbH in München).
  • Jörn Trilk: Skalierbare Visualisierung objektorientierter Software, 1998  (Trilk ist heute Abteilungsleiter bei der BMW AG in München).
  • Ricarda Weber: Accounting and Payment Concepts for Fee-Based Scientific Digital Libraries, 2000 (Weber ist heute wissenschaftliche Mitarbeiterin der Siemens AG in München).
Von den Dissertationen, die ich als Zweitgutachter bewertete, fällt mir eine ein, in der Navier-Stokes-Differentialgleichungen numerisch behandelt wurden (Hauptgutachter Arndt Bode). In einer andern Arbeit wurden historische Dokumente aus der Sammlung des Adelshauses Oettingen-Wallerstein digitalisiert (Hauptberichter Rudolf Bayer). An der Vielfalt von Themen und Verfahren bestand wahrlich kein Mangel.



Abb. 6: Prüfer nach der Arbeit

Kontakte mit Kollegen, Veranstaltungen der Uni

Alle 12 Professoren des Instituts trafen sich während der Vorlesungszeit jeweils Freitagsnachmittags zum Tee oder Kaffee. Der Raum wechselte. Besprochen wurden alle Probleme, welche die Fakultät als Ganzes betrafen. Mal ging es um eine geplante Neuberufung, mal um die Ausstattung eines Hörsaals mit Kameras und Projektionsgerät. Auch größere Drittelmittel-Anträge wurden vorgestellt oder der Stand des Institutsneubaus in Garching besprochen. Wenn besonders wichtige Themen behandelt wurden, kamen sogar emeritierte Kollegen angereist. Als solche habe ich die Reduzierung des Mathematik-Anteils im Studienplan in Erinnerung, aber auch den geplanten Umzug der Institutsbibliothek. Für offizielle Beschlussfassungen gab es einen gewählten Fakultätsrat und andere Gremien wie den Senat der Universität. Deren Sitzungen wurden beim Professorentee lediglich vorbereitet, allerdings gründlich und gewissenhaft.



Abb. 7: Fassanstich durch Präsidenten der TUM

Auch die Kontakte privater Art waren vielfältig. Auf sie will ich nicht näher eingehen. Nur eine typische Erfahrung eines Ortsfremden soll wiedergegeben werden. Wenn man versucht per U-Bahn vom Isartor nach Grünwald zu fahren, gelangt man zunächst nach Hollriegelsreut. Das Taxi, das einen von dort über das Isartal nach Grünwald bringt, muss aus der Innenstadt kommen. Also hätte man auch gleich per Taxi fahren können.

Außer auf eine eigene Klinik (das Klinikum rechts der Isar) ist die TU München sehr stolz auf ihre Fakultät für Brauwesen in Weihenstephan. An vier von fünf Lehrstühlen gibt es Versuchsbrauereien. Kooperationen mit dieser Fakultät stehen hoch im Kurs. Beim Sommerfest der TUM wurden alle neuberufenen Professoren eingeladen, sich für den Bierausschank zur Verfügung zu stellen. Natürlich gab es eigenes Bier. Der Präsident der Universität schlug das erste Fass an. Erwähnen möchte ich noch das zwei Mal pro Semester stattfindende Abendessen in einem Gästehaus der Firma Siemens auf dem Gelände des Nymphenburger Schlosses. Heinz Gumin war der Gastgeber in seiner Funktion als Vorsitzenden der Carl Friedrich von Siemens Stiftung. Alle Münchner Professoren der Fachbereiche Elektrotechnik und Informatik waren eingeladen. Nach dem Essen gab es einen Gastvortrag. Die Themen betrafen meist Grenzgebiete zwischen der Technik einerseits und Kunst, Kultur, Geistes- und Lebenswissenschaften andererseits.

Mittelbau und Landespolitik

An einigen Universitäten, die ich kennengelernt hatte, stand der akademische Mittelbau (d.h. die nicht als Ordinarien eingestuften wissenschaftlichen Mitarbeiter der Lehrstühle) etwas in Opposition zur Professorenschaft. An der TUM schien dies weniger der Fall zu sein, zumindest fiel es mir nicht auf. Im Gegenteil: Sie schienen sich in Bezug auf Effektivität und Loyalität gegenseitig zu überbieten. Manche hatten 20 und mehr Dienstjahre auf dem Buckel. Einige waren promoviert, andere nicht. Besonders gut erinnere ich mich an ein Faktotum, eine bayrische Frohnatur, die sich bei Problemen jeder Art als ‚Kümmerer vom Dienst‘ bewährte. Er soll hier anonym bleiben, weil er damit stellvertretend für den Münchner Mittelbau stehen kann. Sobald der Mitarbeiter einem versprach: ‚Ich werde darüber nachdenken‘ konnte man das Problem als gelöst ansehen. Es spielte keine Rolle, ob es sich um eine technische oder eine administrative Angelegenheit handelte. Bei ihm machte sich die Nähe zu Österreich, ja zu Südeuropa, bemerkbar. Anders ausgedrückt: Er war das positive Gegenbeispiel eines preußischen Beamten. Wenn immer Vorschriften im Wege standen, kam bei ihm ein besonders hohes Maß an Kreativität zum Vorschein. Bitte denken Sie ja nicht, dass etwas Illegales geschah.



Abb. 8: Ausflug an den Starnberger See

Dass die TUM ein Aushängeschild bayrischer Förderpolitik war, ließ sich nicht verheimlichen. So erschienen immer wieder Landespolitiker, um sich zu vergewissern, dass die Steuergelder gut angelegt seien. In allerbester Erinnerung habe ich ein persönliches Gespräch mit Alois Glück, dem damaligen Fraktionsvorsitzenden der CSU im bayrischen Landtag. Wenn alle Politiker so wären  ̶   so dachte ich mir damals  ̶  gäbe es keine Politikverdrossenheit. Auf der Kehrseite stand eine Feststellung, die wohl nur ich als Nicht-Bayer machte. Bei allen geografischen Darstellungen, die in Projektanträgen an die Landesregierung vorkamen, endete die Welt in Aschaffenburg.

Projekt MeDoc

Zum Schluss sei das Drittmittel-Projekt erwähnt, das meine Münchner Zeit ganz erheblich beeinflusste. Als Mitglied im Fachbeirats des Fachinformationszentrums (FIZ) Karlsruhe waren mir die Unterschiede im Informationsverhalten der einzelnen Fachgebiete bekannt. Während Biologen, Chemiker, Mathematiker und Physiker eifrige Nutzer von Nachweis-Datenbanken waren, spielten sie für Informatiker so gut wie keine Rolle. Die Computing Surveys der Association for Computing Machinery (ACM) erfüllten diese Aufgabe zufriedenstellend. Ähnlich wie bei anderen Ingenieuren steckt das für Informatik-Praktiker wichtige Wissen vorwiegend in erfolgreichen Produkten. Publikationen in Fachzeitschriften sind eh nur ein Hobby, außer für einige Hundert angehende Informatik-Professoren.

Von den an Hochschulen tätigen Informatikern wurde ein besserer Nachweis von ‚grauer‘ Literatur gewünscht (d.h. von Instituts- und Tagungsberichten) und die elektronische Beschaffung der Volltexte. In enger Abstimmung mit der Gesellschaft für Informatik (GI) initiierte ich das Projekt und übernahm seine Leitung. Unterstützt wurde ich dabei von je einem Vertreter des FIZ Karlsruhe (Andreas Barth) und des Springer-Verlags Heidelberg (Arnoud de Kemp), sowie von einem hauptamtlichen Projektleiter (Michael Breu von FAST e.V. in München). Von den Hochschullehrern engagierten sich Hans-Jürgen Appelrath (Oldenburg), Dieter Fellner (damals in Bonn), Norbert Fuhr (Dortmund), Hermann Helbig (Hagen), Thomas Ottmann (Freiburg) und Heinz Schweppe (Berlin) überdurchschnittlich stark. Präsidium und Vorstand der GI verfolgten das Projekt mit Interesse. Ohne die Hilfe der jeweiligen Präsidenten (Wolfgang Glatthaar und Wolfried Stucky) hätten manche Klippen nicht umschifft werden können. Ohne die Verantwortlichen im Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) wäre es gar nicht nicht erst geflogen. Wir wären weder hochgekommen, noch gelandet.



Abb. 9: Einige Köpfe des MeDoc-Teams

Das Akronym MeDoc steht für ‚Multimedia electronic Documents‘. Es war ein Leitprojekt des BMBF und hieß offiziell Entwicklung und Erprobung offener volltextbasierter Informationsdienste in der Informatik. Seine erste Phase lief von September 1995 bis August 1997 und war mit 7,9 Mio. DM subventioniert. Das Projekt hatte Auswirkungen weit über München hinaus. Rechnet man alle Personen zusammen, die als Entwickler, Systembetreuer, Anbieter und Nutzer von Inhalten, usw. mit dem Projekt in Berührung kamen, kommt man auf über 4000 Leute. Die Ziele, der Verlauf und die Ergebnisse des Projekts sind in einer großen Anzahl von Veröffentlichungen ausführlich dokumentiert [1..3]. Es gibt mehrere Bücher, Dissertationen, Fachartikel, Tagungsbeiträge und Ausstellungsobjekte. Deshalb füge ich hier nur drei kurze tabellarische Zusammenfassungen ein.



Tab. 1: Partner des MeDoc-Projekts und Systemstruktur

Den Münchner Anteil des Projekts verantwortete Anne Brüggemann-Klein. Sie verfasste das Pflichtenheft für das MeDoc-System und leistete zusammen mit Kolleginnen und Kollegen die wesentlichen Beiträge zur Abrechnungsfunktion.



Tab.  2: Angebotene Inhalte im MeDoc-System

Bereits im Titel drückt sich die vom Ministerium gewünschte Art der Bemühungen aus. Es sollte etwas entwickelt und in der Praxis erprobt werden. Der Begriff ‚Forschung‘ kam nicht vor. Dass damit Hochschulen leicht überfordert seien, lag auf der Hand, sofern sie überhaupt zur Teilnahme zu motivieren waren. Da für die Projektarbeit jedoch keine Industrieunternehmen, sondern nur hersteller-neutrale Hochschulgruppen gewonnen werden durften, waren gewisse  Probleme vorprogrammiert. Auf sie einzugehen, erspar ich mir. Bei den Nachfolge-Projekten schoben sich andere Fachgebierte in den Vordergrund, z.B. Chemie und Mathematik. Die Informatik habe bereits genug ‚abgesahnt‘, hieß es. Einige der Projektbeteiligten konnten ihre Erfahrungen auf dem neuen Gebiet zur Anwendung bringen, indem sie sich erfolgreich um DFG-Projekte bewarben, dieses Mal aber als reine Forschungsprojekte deklariert, ohne die Auflage auch etwas zum Laufen zu bringen und Nutzer dafür zu gewinnen.



Tab. 3: Weitere Projekt-Mitarbeiter

Rückblickend sagen einige der Teilnehmer, dass für sie das Projekt zu früh war. Sie waren damals noch nicht davon überzeugt, dass ein so gravierender Wandel des Publikationswesens bevorstand oder sie waren noch unsicher, welche Änderungen sie am meisten betreffen würden oder welche technischen Lösungen und Formate sich durchsetzen würden. Über den von MeDoc angestrebten Idealzustand verfüge ich seit etwa drei Jahren. Bei mir heißt er Skoobe. Dieses Geschäftsmodell gestattet es mir, für 9,99 Euro pro Monat fast beliebig viele Bücher zu lesen, ohne mich aus dem Haus zu bewegen. Auch der neue Leiter der ETH-Bibliothek in Zürich (Rafael Ball) will weniger Papierbücher kaufen. Die Zeit des Bestandsaufbaus sei endgültig vorbei, meinte er dieser Tage.

Dass es Aufgabe einer Regierung sein könnte, einer Branche die Unsicherheit vor dem technologischen Wandel zu nehmen und ihr die Möglichkeit zu verschaffen, selbst Einfluss zu nehmen, wird auch heute in Sonntagsreden immer wieder gefordert. Für die Medien- und Verlagsbranche ist diese Art der Hilfe offensichtlich fehl am Platze. Auch heute  ̶  etwa 20 Jahre nach MeDoc  ̶  ist diese Branche nur am Schutz ihrer historischen Privilegien interessiert. Genau das drückt sich im Streit zwischen Verlegern wie Axel-Springer und Technologiefirmen wie Google aus. Anstatt der Bundesregierung werden heute die EU-Kommission oder das EU-Parlament als Schutzmacht vorgeschoben.

NB.: Die Tabellen 1 und 2 stammen aus dem bei der GI-Jahrestagung in Aachen abgelieferten Projektbericht [1]. In Tabelle 3 sind alle Namen aufgeführt, die in [2] als Autoren erscheinen, aber in diesem Text nicht erwähnt wurden. Dass sie die eigentlich Aktiven waren, sollte nicht vergessen werden. In der Referenz [3] findet man auch eine erste Bewertung und Einordnung des Projekts.

Leben in München

Darüber zu reden, was München als Stadt zu bieten hat, heißt Eulen nach Athen zu tragen. Nur soviel: Wir kamen uns vor wie gerade verheiratet. Unsere Kinder ließen uns alleine umziehen. Sie waren entweder im Studium oder schon im Beruf. Meine Frau und ich wohnten zentral am Isartorplatz. Statt im Auto fuhr ich per U-Bahn zur Arbeit. In Fußgänger-Abstand lagen der Viktualienmarkt und das Hofbräuhaus. Das Theater am Gärtnerplatz, aber auch die Oper und die großen Museen waren nicht weit.



Abb. 10; Mit Gästen auf dem Oktoberfest

Im Sommer hatten wir bezüglich Biergärten die Qual der Wahl. Sonntägliche Ausflüge führten uns ins Isartal, zum Tegernsee oder zum Starnberger See. Der Chiemsee war schon etwas weiter entfernt. Dennoch schafften wir es zu einer Matinee in Schloss Herrenchiemsee zusammen mit den bayrischen Royalisten. Zum Oktoberfest gingen wir amerikanischen Besuchern zuliebe. Ein letztes alpines Skiwochenende verbrachten wir 1996 in Lengries. Danach stiegen wir auf Langlauf um.



Abb. 11: In Schloss Herrenchiemsee

Wertender Rückblick auf die Münchner Zeit

Aus der Distanz von nunmehr fast 20 Jahren traue ich mich, eine Antwort auf die Frage zu geben: Was haben diese vier Jahre für mich gebracht? Die Antwort hat mehrere Aspekte. Ob mein Ausflug zur Hochschule für andere Menschen etwas gebracht hat, soll hier nicht in Betracht gezogen werden.

Finanziell trug die Verlängerung meiner Lebensarbeitszeit zweifellos zur Absicherung meines späteren Lebensabschnitts bei  ̶  obwohl ich keinen zusätzlichen Rentenanspruch erwarb. Fachlich brachten mich die zusätzlichen Jahre in eine ganz neue Umgebung. Nach 35 Jahren in der Privatwirtschaft empfing mich nun der öffentliche Dienst. Wie bereits angedeutet, war ich angenehm überrascht über die Sensibilität und das Pflichtgefühl bayrischer Beamter.

Mein inzwischen leider bereits verstorbener Freund und Kollege Eike Jessen bat mich am Tage meiner Verabschiedung von München etwas zu reflektieren. In einer kleinen Feier mit Kollegen und Mitarbeitern gab ich meine damaligen Gedanken zum Besten. Obwohl ich einige Details vergessen habe, will ich die wichtigsten Punkte hier wiederholen. Zuerst wollte Jessen wissen, was mich am meisten positiv beeindruckt hätte. Meine Antwort hatte mehrere Teile: Die Kollegialität der Kollegen untereinander (ich nannte als Beispiel die fehlende Stasi-Entlastung eines neuen Mitarbeiters), die Motivation des Mittelbaus und die Nonchalance aller gegenüber administrativen Fragen. Als Beispiel für Letzteres gab ich an, dass jemand mich fragte, wie viele Rechner (PCs oder Grafikstationen) mein Lehrstuhl besäße. Ich gab eine Zahl an, die etwa der Zahl der fest angestellten Mitarbeiter entsprach. Tatsächlich waren es etwa doppelt so viele. Wurde ein Student oder eine Aushilfskraft am Lehrstuhl beschäftigt, ging ein Mitarbeiter zum technischen Dienst und sagte der Lehrstuhl meines Professors benötigt einen weiteren Rechner, und schon bekam er ihn. In der Industrie war ich gewohnt, mehr Grips für die Begründung von Anschaffungen aufzuwenden.

Nicht leicht zu beantworten war die Frage, was  - wenn ich das Sagen hätte – ich ändern würde. Ich gab hierzu drei Antworten: Erstens müsse die Durchlässigkeit von FH-Studenten erheblich verbessert werden. In der Praxis sind FH-Ingenieure oft besser als Ingenieure, die von einer Uni kommen. Ich hatte es mehrmals in den vier Münchner Jahren erlebt, wie schwer Kollegen es hatten, wenn sie einen Mitarbeiter, der von einer FH kam, promovieren wollten. Das ganze Kollegium musste überzeugt werden. In einem Falle musste der Kandidat sogar noch zusätzliche Mathematik-Vorlesungen hören, bevor er zur Promotion zugelassen wurde.

Mein zweiter Punkt betraf die Rolle der Mathematik im Informatik-Studium. Ich fände es skandalös, dass Lehrende, die selbst keine Informatiker sind, also nicht aus dem eigenen Fachgebiet kommen, fast die Hälfte der Informatik-Studierenden davon abbringen, ihr Studium erfolgreich abzuschließen. Mir ist bekannt, dass die Münchner Informatiker seither selbst bestimmen, welche mathematischen Stoffe ihre Studierenden hören müssen. Ob die für das spätere Berufsleben größtenteils unnötige Mathematik weiterhin als zentraler Stolperstein dient, weiß ich nicht. Ich befürchte ja. Es erinnert an die Diskussion über den Wert von Latein für die Schulung des logischen Denkens. Als ob man an Hand von Problemen aus der Informatik nicht auch Denken lernt.

Beim dritten Punkt stieß ich auf nur beschränktes Verständnis. An einer technischen Hochschule hielte ich es nicht für vertretbar, dass kaum Wert auf Erfindungen gelegt wird. Ich könnte dies nur so verstehen, dass das Denken der meisten Kollegen durch Mathematiker beeinflusst wird. Für einen Mathematiker zählt einzig die frühzeitige Publikation in einer angesehenen Fachzeitschrift, nicht aber ein erfolgreiches Produkt oder  ̶   wenn es nicht dazu kam  ̶  eine Veröffentlichung per Patentantrag. Selbst die Idee, dass ein Patent als echte Veröffentlichung zählt, und zwar von etwas, das einen ökonomischen Wert darstellt, will vielen Informatikern nicht so recht in den Kopf. Um es sportlich auszudrücken: Wieso gibt sich die TUM damit zufrieden, was Erfindungen anbetrifft, in derselben Klasse zu spielen wie Bielefeld und die FU Berlin, nämlich in der unteren Kreisklasse? An dieser Situation scheint sich auch heute wenig geändert zu haben. Es ist dies meines Erachtens mit ein Grund für die geringen Erfolge der deutschen Informatik als eigenständige Industrie. Indem ich dies immer wieder wiederhole, hoffe ich, dass irgendwann der Groschen fällt.

Referenzen
  1. Breu, M., Brüggemann-Klein, A., Endres, A.: Elektronische Informations- und Publikationsdienste für die Informatik - Ergebnisse des Projekts MeDoc. GI-Jahrestagung 1997
  2. Barth, A., Breu, M., Endres, A., de Kemp, A. (eds); Digital Libraries in Computer Science: The MeDoc Approach. LNCS 1392, Heidelberg 1998
  3. Endres, A., Fellner, D.W. ; MeDoc-Dienst der deutschen Informatik. In: Digitale Bibliotheken, 2000. S. 375-388

5 Kommentare:

  1. Durch das Projekt MeDoc gelangte ich früh an einige interessante Informationen und Einsichten. Zu einem Projekt-Workshop 1996 in Dagstuhl hatten wir einen Vertreter eines kalifornischen Start-ups namens Google eingeladen. Auf die Frage, was er von unseren Abrechnungsverfahren hielte, meinte er: Den Nutzer zahlen zu lassen, das sollten wir vergessen. Google hielte sich konsequent an die Anbieter. Im Falle von Google erwies sich dieses Prinzip bekanntlich als sehr erfolgreich. Auch europäische Verleger haben davon gelernt und schwenken inzwischen auf das ‚Author-pays-Modell‘ um. Sie wollen wissenschaftliche Beiträge genau so behandeln wie Werbeschriften von Privatfirmen. Mich stört nur, dass die betroffenen Wissenschaftler jetzt fordern, dass auch diese ihre Werbung vom Steuerzahler finanziert wird. Wo Stiftungen dies tun, ist nichts einzuwenden.

    Bei der APE2016 im Januar in Berlin standen einige der bei MeDoc bereits diskutierten Fragen im Mittelpunkt des Interesses. So forderte der Eröffnungsredner (Barend Mons) ̶ allerdings mit wenig Hoffnung auf Erfolg ̶ dass man die einem Artikel zugrunde liegenden Daten nicht länger als Anhängsel eines Artikels (engl. supplementary material) betrachten sollte, das in Schubladen verschwindet, sondern als zum Text gleichwertiges Material, das einer systematischen Archivierung zugeführt wird. Der Vertreter der Max-Planck-Gesellschaft (Ralf Schimmer) wiederholte die nahe liegende Forderung, dass sämtliche Ergebnisse öffentlich geförderter Forschung frei zugänglich (engl. open access) sein sollten.

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  2. Ein Enkel, der zurzeit an der TUM studiert, schrieb:

    Habe Deinen neuen Blog grad in der U-Bahn gelesen. Er hat mir sehr gefallen, da die Tatsache, dass er primär private Erinnerungen zusammenfasst, ihn greifbarer macht als andere abstraktere und wissenschaftlichere Blogbeiträge von Dir. Folglich war es sehr angenehm ihn zu lesen. Ich habe nochmals eine andere Seite der TUM kennengelernt.... Zudem hat es mich erstaunt, dass der Präsident seit damals kein Jahr gealtert zu sein scheint.

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  3. Klaus Küspert aus Jena bemerkte zu Abb. 4:

    Wir in der Jenaer Informatik tragen bei unseren Vorlesungen gar nichts (sic!), nicht mal eine Krawatte - höchstens zottelige Bärte. Zum Thema Krawatte kenne ich einen schönen Ausspruch eines Kollegen aus Süddeutschland vor vielen Jahren: "Wenn ich ohne Anzug/Krawatte die Vorlesung halte, könnte man mich ja mit einem Soziologen verwechseln!"

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    1. Kommentare sind manchmal doppeldeutig. Auch klein Erna irritierte ihre Zuhörer, als sie berichtete Oma und Opa säßen abends stundenlang da und hätten nichts an.

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  4. Mir fällt das Thema meines Probevortrags in München wieder ein. Er lautete ungefähr ‚Empirisches Qualitäts-Management in Software-Projekten‘. Ich behandelte die Lehren, die ich aus meinen Fehleruntersuchungen bei Software-Projekten gezogen hatte. In einem Seminar für das Software-Management-Team einer schweizerischen Bank in Zürich war das, was ich propagierte, vereinfachend als die Endres-Methode angekündigt worden. In 2-3 Sätzen: Sieh Dir an, welche Fehler, d.h. Abweichungen vom Plan, Deinem Team in den letzten Projekten unterlaufen sind. Versuche Dir die Ursachen für diese Fehler zu erklären, d.h eine Theorie für ihre Entstehung zu bilden. Ändere Dein Vorgehensmodell so, dass möglichst viele Fehlerursachen ausgeschlossen werden. Bei der Inspektion des aktuellen Projektmaterials, insbesondere des Entwurfs und des Programmcodes, suche nach bekannten und verwandten Fehlern und Fehlerursachen.

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